Jahreslosung: Alle Jahre wieder... Gott(es)Nahen

Zwischen den Jahren, von Jahreslosung zu Jahreslosung, von Hebräer 13 zu Psalm 73, mit Holger Pyka, Pfarrer in Köln

Zwischen dem "Hauch von Abenteuer" auf der Suche nach der zukünftigen Stadt in der Losung für das Jahr 2013 und dem gegenwärtigen Glück der Jahreslosung 2014, entdeckt Holger Pyka "Offenbarungsweisheit":

Psalm und Hebräerbrief unterwerfen das "religiöse Erleben" nicht einer starren Norm, sondern verkünden das Entgegenkommen Gottes.

Alle Jahre wieder... Gott(es)Nahen. Von Holger Pyka (2013).pdf

Der liturgische ‚Sitz im Leben‘ der seit 1934[1] regelmäßig gezogenen Jahreslosungen ist gemeinhin der gottesdienstlich gestaltete Jahreswechsel, also an jener kalendarischen Schaltstelle, die „zur lebensgeschichtlichen Zäsur erklärt“[2] und durch das Fassen von Vorsätzen, den Austausch guter Wünsche oder halb scherzhafte, halb neugierige Wahrsagespielereien entsprechend gestaltet wird. Die (liturgiegeschichtlich alles andere als umstrittenen[3]) Gottesdienste am Altjahresabend oder Neujahrsmorgen inszenieren vor einem theologischen Horizont die Spannungen zwischen Rück- und Ausblick, zwischen Enttäuschung und Hoffnung – und möglicher Weise in diesem Jahr auch die Spannung zwischen zwei Jahreslosungen[4], die, zumindest auf den ersten Blick, durchaus unterschiedliche Aspekte des Glaubens stark zu machen scheinen: Umwehte die Jahreslosung 2013 aus Hebr 13,14 („Wir haben hier keine bleibende Stadt…“) ein Hauch von Abenteuer und eine heilsame Unruhe, klingt der ausgewählte Vers aus Psalm 73, zumal in der verwendeten Einheitsübersetzung, zunächst eher nach Ruhe, nach Ankommen, Ausatmen und Geborgenheit: „Gott nahe zu sein, ist mein Glück.“
Beide Versteile laden zu mancherlei Assoziation ein:

Glück

Die Frage nach (dem) Glück ist die „Frage nach dem guten und gelingenden Leben“[5] – eine Frage, die Menschen umtreibt und dem Büchermarkt ordentlichen Umsatz beschert.[6] Vielleicht ist diese Frage um den Jahreswechsel herum besonders virulent, wenn alle Welt Bilanz zieht und den Blick auf eine unklare Zukunft hin wendet. Was individuell als „Glück“ verstanden wird, ist verschieden, wie Menschen verschieden sind – und doch scheint es überindividuelle, überzeitliche Grundkonstanten zu geben, Antworten, die immer wieder gegeben werden auf die Frage: „Was ist für Sie eigentlich ‚Glück‘?“ „Hauptsache, gesund!“, ein Dach über dem Kopf, verlässliche Beziehungen, Frieden in häuslicher, regionaler und manchmal auch globaler Hinsicht. Letzteres aber eher selten, die Weihnachtseinkäuferinnen und Passanten, die vor der Jahreswende in der Fußgängerzone gern von Zeitungen und Regionalsendern mit der Frage nach ihren persönlichen Wünschen ans Universum angegangen werden, geben sich in aller Regel bescheiden – so lassen sich Frustrationen vermeiden.

Ist es die ungenierte Diesseitigkeit vieler Glücksvorstellungen, die die Theologie dazu gebracht hat, dieses und vergleichbare Themen zu vernachlässigen?[7] Auch das kann eine Form der Frustrations- oder Konfliktvermeidung sein: Wenn Gott und seine Mitstreiter_innen allein für geistliche Belange, Innerlichkeit und Jenseits zuständig sind, kann man ihnen keine Vorwürfe machen, wenn Lebensträume zerplatzen, Biografien abbrechen oder der Boden unter den Füßen ins Wanken gerät. Dem biblischen Zeugnis wird solche entmaterialisierte Theologie nicht gerecht, gerade in der Hebräischen Bibel ist der theologische Gehalt von Begriffen wie Frieden/Shalom und Segen kaum von ihren handfesten politischen, sozialen und materiellen Konnotationen zu trennen. Das eigene Scheitern und Leiden, zumal angesichts des augenscheinlichen Wohlergehens anderer, ist für den glaubenden Menschen damit in hohem Maße eine Frage, die den Glauben bewegt bis erschüttert.

Von einer solchen Krise und ihrer Überwindung erzählt der Beter des 73. Psalms. Er schildert in zum Teil drastischen Bildern das Wohlergehen der Gottlosen: „Sie sehen kaum aus den Augen vor Fett, […] bösartig höhnen und reden sie, gewalttätig reden sie von oben herab“, V.7f.). Der Beter droht daran zu verzweifeln (V.21) – und macht damit ganz ähnliche Erfahrungen wie Hiob: Beide beschreiben eine „‘Lebenskrise‘ [als] Ausdruck und Ergebnis einer schweren sozialen und religiösen Erschütterung ihrer Epoche. Sie ist die Wahrnehmung einer fundamentalen Gotteskrise, nämlich der Widerlegung der Rede vom guten und gerechten Gott durch die gesellschaftlichen und politischen Realitäten.“[8]

Der Psalmist erzählt aus der Retrospektive; ein Gottesdienst zur Jahreslosung sollte, zumal am Altjahresabend, Raum bieten für diejenigen, die als persönliche Jahresbilanz höchstens müde seufzen können: „Hurra, wir leben noch…“, und sein seelsorgliches Potenzial darin erweisen, dass er „die Verborgenheit Gottes und die damit einhergehende Not […] schonungslos ausspricht“ und gleichzeitig „auch einen Weg zu ihrer Überwindung weist“[9]:

„Gott nahe zu sein…“

Die Kernfrage „Wo ist Gott?“ lässt sich auf einer abstrakt-theoretischen Ebene bekanntlich schwer beantworten. Was das Ich des 73. Psalms dazu bringt, von der Klage in den Dank umzuschwenken, ist ein irgendwie geartetes mystisches Erlebnis: „…bis ich zum Heiligtum Gottes kam“ (V.17a). Eine metaphorische Interpretation[10] dieses Satzes ist naheliegend; es spricht für die Bibel, dass sie die Intimität dieser Begegnung schützt und sie damit weder auf einem eventgesättigten Spiritualitätenmarkt verramscht, noch allzu einengende Normen für religiöses Erleben aufstellt. Was dem Psalmisten widerfahren ist, bleibt im Detail offen – entscheidend ist jedoch: Gott selbst gibt, ist die Antwort. Fulbert Steffensky hat diese Erkenntnis in poetische Worte gefasst:

Ein Gesicht bekommt ein Mensch,
nicht indem er sich im Spiegel betrachtet,
sondern indem er auf etwas sieht, etwas wahrnimmt,
von etwas gebannt ist, was außerhalb seiner selbst ist.
So lernt der Mensch, sich von außen zu verstehen:
von der Kraft seiner Mütter und Väter her,
von der Kraft seiner Brüder und Schwestern.
Der Glaube, der Mut, die Hoffnung bauen sich von außen.[11]

Diese „Offenbarungsweisheit“ (E. Zenger) ist der Hintergrund, vor dem der Beter jenes Bekenntnis ablegt, das uns als Jahreslosung 2014 begleiten soll: „Gott nahe zu sein, ist mein Glück.“ Die von der Einheitsübersetzung gewählte Formulierung ist dabei nur eine Möglichkeit der Wiedergabe eines mehrdeutigen Verses, denn es bleibt offen, wer sich wem nähert – ‚Nahen Gottes‘ kann als genitivus subjectivus oder objectivus übersetzt werden.[12] Im Gegensatz zur Variante der Einheitsübersetzung hält diese schillernde Mehrdeutigkeit fest, dass es sich hier nicht um ein statisches, sondern ein in hohem Maße dynamisches Geschehen handelt, dass seine eschatologische Unabgeschlossenheit behält[13]: In reformierter Tradition hat sich, stärker vielleicht als anderswo, eine Erinnerung daran bewahrt, dass Gott(es)nahen kein risikofreies Unternehmen ist; Magdalene L. Frettlöh schreibt dazu treffend: „Nur in einer Nähe, die die Verborgenheit Gottes nicht aufhebt, ist die Offenbarung Gottes, die an sich den Menschen in Lebensgefahr bringt (vgl. Ex 33,20), für den Menschen erträglich.“[14]

Der Gedanke, dass das Erlangen von und die Sinnstiftung durch Offenbarungsweisheit ein dynamisches Beziehungsgeschehen ist, das menschliches Tasten und Suchen umfasst (vgl. Jer 29,13), dabei aber fundamental vom Entgegenkommen Gottes abhängig und somit nicht erzwingbar ist, mag auf den ersten Blick ernüchtern. Er kann aber auch entlastend sein in der von guten Vorsätzen umkränzten Silvesternacht einer erlebnisorientierten Gesellschaft, die zwar bei der Konstruktion von Kriterien für gelingendes, geglücktes Leben ohne transzendenten Überbau auskommt[15], die ganzheitliche Bedürftigkeit des Menschen aber sehr wohl erkennt, eine Fülle von spirituellen Angeboten produziert und durch die „Übertragung der Glücks- und Erfolgsansprüche auf den Einzelnen“[16] Normen für religiöses Erleben forciert.

Die Predigt zwischen Lebenshilfe und dem Weg im Geheimnis

Eine Predigt zur Jahreslosung 2014 muss vor diesem Hintergrund einen Balanceakt wagen: Einerseits besteht ein Risiko darin, durch die beispielhafte Schilderung erfahrenen und beglückenden Gott(es)nahens unbeabsichtigt ebensolche Normen religiösen Erlebens homiletisch zu sanktionieren. Andererseits erwarten Predigthörende mit allem Recht konkrete Orientierung, wie „Glaubenshilfe als Lebenshilfe“ (H. Tacke) realisiert werden kann. Die Grundelemente des christlichen Gottesdienstes als „Weg im Geheimnis“ (M. Nicol) des Gott(es)nahens können hier stark gemacht werden, ohne dass man sie zerreden müsste: Liturgische Gebete und Gemeindegesang als Kommunikationshilfen, die zwischen Klage und Dank dem ganzen Spektrum menschlicher Erfahrung zum Ausdruck verhelfen; das Abendmahl als gestiftete Gemeinschaft, die über zwischenmenschliche Sympathien und Assoziationsbestrebungen hinausgeht; der Segen als „göttliche Begabung der Geschöpfe mit Leben ermöglichender, bejahender und fördernder Segenskraft“[17]. Dass auch ethisch verantwortetes Leben und Handeln in einem theologisch qualifizierten Sinn beglückend sein kann (ganz nach dem Bonmot Ralph Waldo Emersons: „Glück ist ein Parfüm, das du nicht auf andere sprühen kannst, ohne selbst ein paar Tropfen abzubekommen.“), liegt von Jes 58,2 her nahe, dem Vers, in dem auch vom dynamischen, mehrdeutigen Gott(es)nahen die Rede ist: Tag für Tag suchen sie mich, und es gefällt ihnen, meine Wege zu erkennen. Wie eine Nation, die Gerechtigkeit übt und das Recht ihres Gottes nicht verlassen hat, fragen sie mich nach den Satzungen der Gerechtigkeit, es gefällt ihnen, wenn Gott sich nähert (Zürcher Bibel).

Keine bleibenden Städte, aber Entgegenkommen Gottes

„Wir sind alles einfache, ruhige Leute und haben für Abenteuer nichts übrig. Dabei hat man nur Ärger und Scherereien! Man kommt nicht mal mehr rechtzeitig zum Essen!“ lässt J.R.R. Tolkien seinen Hobbit sagen.[18] Möglich, dass die Jahreslosung von 2013 bei mancher Predigerin, manchem Hörer ähnliche, durchaus irgendwie ja verständliche Reaktionen hervorgerufen hat. Allerdings: Auch bei Hebr 13,14 verschleiert die (Luther-)Übersetzung, dass es sich bei der „zukünftigen Stadt“ um kein statisches Gebilde handelt, das irgendwo darauf wartet, von uns gefunden zu werden, sondern um ein Leben, das buchstäblich (Partizip Präsens aktiv) „im Kommen“ ist. Psalm 73,28 liegt auf einer ganz ähnlichen Linie: Ohne die diesseitige, leiblich-soziale Dimension geglückten Lebens zu verneinen, wird der Blick geweitet: Zu einem glücklichen Leben gehört auch die Gemeinschaft mit dem Schöpfer und Erhalter allen Lebens. Wenn solche Erfahrungen auch vorläufigen, brüchigen Charakter haben und sich nicht erzwingen lassen, steht menschliches Tasten und Suchen doch unter der Verheißung des Entgegenkommens Gottes.


[1] Vgl. http://jahreslosung.info/geschichtliches.htm [Juli 2013]. Ob Zufall, Fügung oder Absicht – diese erste Jahreslosung (Jes 40,8/1Petr 1,25) ist nicht ohne kirchengeschichtliches Gewicht: Das Kürzel ihrer latinisierten Fassung zierte emblematisch beim Speyrer Reichstag 1526 Standarten und Kleidung der reformatorisch gesinnten Fürsten, wenige Monate später sollte sie die Barmer Theologische Erklärung beschließen: Verbum Dei manet in aeternum – Das Wort Gottes (aber) bleibt in Ewigkeit.

[2] Kristian Fechtner, Schwellenzeit. Erkundungen zur kulturellen und gottesdienstlichen Praxis des Jahreswechsels, PThK 5, Gütersloh 2001, 89.

[3] Vgl. Fechtner (s. Anm. 2), 119-134.

[4] Ich halte es für äußerst reizvoll, die Jahreslosung nach Neujahr nicht homiletisch zu archivieren, sondern in der Jahresmitte oder (unter der Frage, „was vom Jahre übrigblieb“) zum Altjahresabend noch einmal auszulegen.

[5] Jörg Lauster, Gott und das Glück. Das Schicksal des guten Lebens im Christentum, Gütersloh 2004, 11.

[6] Die einfache Stichwortsuche nach „Ratgeber Glück“ bei einem einschlägigen Onlinebuchhändler liefert eine über 4.300 Titel umfassende Liste und eine eindrückliche Dokumentation der Virulenz der Frage nach dem Glück. Ausführliche theologische Auseinandersetzungen finden sich u.a. in PrTh I/2010 („Auf der Suche nach dem Glück. Ratgeberliteratur als Lebenshilfe“).

[7] Seit Jörg Lausters Bestandsaufnahme (s. Anm. 5) vor knapp zehn Jahren hat sich indes einiges getan; besonders hervorgehoben sei hier H. Bedford-Strohm (Hg.), Glück-Seligkeit. Theologische Rede vom Glück in einer bedrohten Welt, Neukirchen-Vluyn 2011.

[8] E. Zenger z. St. in: Ders./F.-L. Hossfeld, Psalmen 51-100 (HThKAT), Freiburg u.a. ³2007, 337.

[9] B. Janowski, Das verborgene Angesicht Gottes. Psalm 13 als Muster eines Klageliedes des Einzelnen, in: JBTh 16 (2001), 25-53, hier 52.

[10] Zur Diskussion um die angemessene Deutung vgl. Zenger (Anm. 8), 343-347.

[11] F. Steffensky, Feier des Lebens. Spiritualität im Alltag, Stuttgart 1985, 29.

[12] Vgl. Zenger (s. Anm. 8), 352.

[13] Laut B. Janowski (Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn ²2006, 344) findet in Ps 73 die „Vorstellung vom ewigen Leben […] inneralttestamentlich einen gewissen Höhepunkt“.

[14] M. L. Frettlöh, Gott Gewicht geben. Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre, Neukirchen-Vluyn 2006, 182.

[15] Vgl. Sam Harris, Glück ohne Gott, DIE ZEIT 02/2013, online unter http://www.zeit.de/2013/02/Glueck-ohne-Gott-Moral/komplettansicht.

[16] Personal Jesus: Von der Amtskirche zur spirituellen Erlebnisgesellschaft, ITZ im November 2012, www.zukunftpassiert.de/personal-jesus-von-der-amtskirche-zur-spirituellen-erlebnisgesellschaft/.

[17] M. L. Frettlöh, Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen, Gütersloh 5. Aufl. 2005, 372.

[18] J.R.R. Tolkien, Der Hobbit, dt. von Walter Krege, Stuttgart 1998, 39.

Pfr. Holger Pyka, Köln-Dellbrück, Oktober 2013