Josef, der liebevolle Stiefvater

von Uwe Birnstein

Auszug aus dem Buch „Väter in der Bibel. 20 Porträts für unsere Zeit“, Herder Verlag 2013

Josef, der liebevolle Stiefvater

Ohne seinen Ziehvater Josef hätte Jesus kaum die Liebe Gottes erfahren.

von Uwe Birnstein

Worst Case für einen Vater: Er erfährt, dass das vermeintlich eigene Kind einen anderen Vater hat. Die geglaubte leibliche Vaterschaft endet abrupt. „Vaterschaftsdiskrepanzen“ nennen Soziologen diesen Vorgang sachlich, der bei allen Beteiligten ein Schockerlebnis verursacht. Nicht nur, dass die Frau mit einem anderen Mann geschlafen hat, sie hat möglicherweise auch noch jahrelang gelogen. Wie häufig Vätern in Deutschland sogenannten Kuckuckskinder untergeschoben werden, ist unklar – wer redet schon gerne über heimliche Geliebte und One-Night-Stands. Schätzungen bewegen sich zwischen knapp einem und zwölf Prozent. Seit der Entwicklung von Vaterschaftstests vor rund sechzig Jahren lassen sich Vermutungen eindeutig überprüfen. Eine weitere Zahl ist bemerkenswert: Bis zu 50 Prozent der Männer, die an ihrer leiblichen Vaterschaft zweifeln, geben die Tests Recht.

Die „Kuckuckskinder“-Problematik ist ein moderner Aspekt jenes Geschehens, das sich der Bibel zufolge vor gut 2000 Jahren in Nazareth und Bethlehem abspielte.

Der Zimmermann Josef wurde Vater. Ob er der leibliche Vater des Sohnes war, blieb ihm unklar. Der vermeintlich gesunde Menschenverstand sagt: Das Kind muss ein Kind der Liebe zwischen Josef und Maria gewesen sein. Glaubenskritiker sagen: Die Bibel hat Recht, Josef und Maria hatten kein Kind gezeugt, deshalb muss Maria mit einem anderen Mann zusammen gewesen sein. Die Tradition des Glaubens sagt: Nein, alles war den Beteiligten klar: Das Kind, das geboren wurde, war Ergebnis einer wundersamen göttlichen Zeugung. Im Fall der Vaterschaft des Josef tut sich ein Wirrwarr von historischen Vermutungen und gläubigen Vorstellungen auf.

Gehen oder bleiben?

Eine Lesart der Geschichte legt nahe, dass Josef Zweifel an der Treue seiner Verlobten hatte und sich fragte: Bleibe ich bei dieser Frau? Kann ich das Kind trotzdem lieben und versorgen, wie ein eigenes? Sind die Enttäuschung und der Vertrauensbruch überhaupt zu überwinden? Wie sollte er mit der Eifersucht auf den fremden Mann umgehen, dessen Verantwortung er hier übernehmen soll? Sollte man sich nicht lieber schnell von dieser Frau trennen? Soll die Frau doch sehen, wie sie mit dem Kind und ihrem selbst verschuldeten Problem klarkommt. Wie stehe ich denn da, wenn ich hier das Kind eines Fremden großziehe?

Solche und ähnliche Gedanken wird sich Josef gemacht haben, als erfuhr, dass Maria nicht von ihm schwanger war. Das Matthäusevangelium berichtet, dass er sich am liebsten heimlich aus dem Staub gemacht hätte: „Als Maria dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war. Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen.“ (Matthäus 1,18f)

Josef scheint seine Verlobte also geliebt zu haben. Zumindest schmiedete er keine Rachepläne und hatte er nicht vor, das Problem mit dem unehelichen Kind öffentlich zu machen und sie damit in Verruf zu bringen. Dem Kind ein Vater zu werden, das traute er sich zunächst aber trotzdem nicht zu und plante sein heimliches Verschwinden. Doch „als er das noch bedachte, erschien ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben.“ (Matthäus 1,20f)

Schwanger vom Heiligen Geist? Von so einer Geschichte würde sich heute kaum ein Mann beeindrucken lassen und mindestens auf einen Vaterschaftstest nach der Geburt bestehen, um herauszufinden, wer denn nun der Konkurrent und leibliche Vater gewesen ist, dessen Pflichten man jetzt übernimmt. Josef aber ließ sich durch die Botschaft des Engels umstimmen. Und als er „vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.“ (Matthäus 1,24) Der Dichter Rainer Maria Rilke schildert den Sinneswandel poetisch unter dem Titel „Argwohn Josephs“. Demnach musste der Engel große Überzeugungsarbeit an Josef leisten, „dem Mann, der seine Fäuste ballte“. Auf Josefs Zweifel „schrie der Engel: Zimmermann, merkst du’s noch nicht, dass der Herrgott handelt?“ Daraufhin lenkt Josef ein, „schob seine dicke Mütze langsam ab, Dann sang er Lob.“

Die Weihnachtsgeschichte

Sich um ein Kind zu kümmern, das nicht das leibliche ist, ist eine besondere Herausforderung. Ist der leibliche Vater aber der Heilige Geist, wird alles noch viel komplizierter. Das musste Josef schon vor der Geburt des Sohnes feststellen. Von Propheten war vorausgesagt, dass ein solch besonderes Kind unbedingt in Bethlehem, der einstigen Stadt König Davids, zur Welt kommen müsse. Josef stammte aus Bethlehem - eine Volkszählung, die der römische Kaiser Augustus ausrief, nötigte ihn dazu, mit der hochschwangeren Maria nach Bethlehem zu reisen. Da außer ihnen noch viele andere Leute der Volkszählungen wegen unterwegs waren, gab es kaum Unterkünfte. So übernachteten Josef und Maria in einem Stall. „Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn eine Krippe.“ (Lukas 2,6f) Auch bei der Beschneidung und Namensgebung Jesu acht Tage nach der Geburt war Josef als offizieller Vater sicherlich anwesend. Was er sich allerdings gedacht haben mag, als dann auch noch Hirten und später sogar drei Weise aus dem Morgenland kamen, um das Kind des Heiligen Geistes zu bestaunen, das er von nun an versorgen sollte? Krippendarstellungen zeigen Josef als gutmütigen, beschützenden Mann, der sein Schicksal mit Fassung und im Glauben trägt.

Vatergefühle?

Wie entwickeln sich bei Vätern, die von Anfang an wissen, dass das Kind nicht ihr eigenes ist, Vatergefühle? Welche Rolle spielt die Kränkung, die das vermutete Fremdgehen auslöst? Josef jedenfalls nahm seine Vaterrolle offensichtlich an und auch sehr ernst. Er erwies sich als väterlicher Beschützer auch in einer großen Angstsituation, die sich kurz nach der Geburt ergab. König Herodes hatte von dem außergewöhnlichen Kind gehört und trachtete ihm nach dem Leben. Im Traum wird Josef gewarnt „Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage“, erklärte ihm ein Engel, „denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.“ Sofort stand Josef auf, nahem Maria und das Baby und „entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes.“ (Matthäus 2,13f) „Die Heilige Familie auf der Flucht“ hat Künstler zu vielen malerischen Visionen angeregt. Eine Flüchtlingsfamilie voller Sorgen, aber doch von guten Mächten wunderbar geborgen und getröstet. Josef, Maria und Jesus auf einem Kamel oder Esel reitend. Wer heutige Flüchtlingsschicksale kennt, empfindet solche Darstellungen als romantisierend. Aber die Bibel wie die Künstler kaschieren damit nicht die harte Wirklichkeit, sondern geben eine Botschaft weiter: Inmitten Leid und Armut beschützt Gott eine Familie.

Die Frage nach dem leiblichen Vater

Auch wenn das Verhältnis zwischen Vater und Kind sich trotz aller Schwierigkeiten gut entwickelt und gerade wenn der Vater das Kind liebt wie sein eigenes, ist die Angst vor der Frage nach dem leiblichen Vater meist besonders groß. Für viele Väter in dieser Situation ist es sicher besonders schwer, eigensinnige Verhaltensweisen des Kindes zu akzeptieren, die unmissverständlich auf den anderen hinzuweisen scheinen. Wachsen die Kinder heran, entwickeln sie Neugier nach ihrer Herkunft. Mit der Frage nach dem leiblichen Vater wächst dann auch die Angst davor, das liebgewonnene Kind an ihn zu verlieren. Für heutige Väter ist es tröstlich zu wissen, dass die rechtliche Vaterschaft in Deutschland noch immer mehr zählt als die leibliche. Niemand kann einem das Kind also plötzlich wegnehmen.

Doch wie geht man damit um, wenn das Kind sich für den leiblichen Vater zu interessieren beginnt und ihn plötzlich viel interessanter findet? Vor diese Frage sah sich auch Josef eines Tages gestellt: Als Jesus zwölf Jahre alt war, gingen seine Eltern mit ihm wie in jedem Jahr zum Passafest nach Jerusalem. „Und als die Tage vorüber waren und sie wieder nach Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wusstens nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten.“ (Lukas 2,43ff)  Doch Jesus war nicht zu finden. Verzweifelt eilten Josef und Maria nach Jerusalem zurück. Erst nach drei Tage fanden sie den Sohn „im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und fragte. Als sie ihn sahen, entsetzten sie sich, und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ (Lukas 2,46ff) Verständnislos hörten sich die Eltern an, was ihr Junge da sagte und nahmen ihn mit nach Hause. Ob es Josef, der den Sohn gerade noch voller Sorge gesucht hatte, sehr verletzte, das zu hören: „Nicht Du bist mein Vater, sondern mein wirklicher Vater ist viel größer und mächtiger, und zu ihm kehre ich nun zurück“? Die tiefenpsychologische Bibelauslegung vermutet in dieser Begebenheit die symbolische Darstellung der Lösung eines pubertierenden Jungen von seinem Vater. Ein normaler Entwicklungsschritt auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Der berühmte Sohn und der vergessene Vater

Seltsam bleibt: Von nun an erfährt der Bibelleser nichts mehr über Josef. Auch über sein Verhältnis zu den „Geschwistern“ Jesu, von denen später noch die Rede ist, erfährt man nichts. Manche Exegeten gehen daher davon aus, dass Josef schon gestorben war, als Jesus in die Öffentlichkeit trat.

Ist Josef also der Verlierer dieser Geschichte? Obwohl er scheinbar alles richtig machte und sich für den Sohn einsetze wie für einen eigenen, gerät er als Vater später völlig in Vergessenheit und scheint auch für Jesus, der sich ganz auf seinen himmlischen Vater konzentrierte, später keine große Rolle mehr gespielt zu haben. Oder vielleicht doch? Josef hat dem Sohn des Heiligen Geistes ein Zuhause gegeben, er hat das Kind vor Bedrohungen beschützt, es großgezogen und sich um Jesus gesorgt wie um einen eigenen Sohn als er plötzlich verschwunden war. All das klingt auch an, wenn Jesus später von Gott als Vater spricht. Hätte Jesus Gott auch so liebevoll als Vater ansprechen können, wenn er nicht durch Josef gelernt hätte, was Vaterliebe bedeutet?

Aus: Uwe Birnstein, Väter in der Bibel. 20 Porträts für unsere Zeit.
(C) Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

 

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