Vom Kallus in der Theologie

Notat to go. Von B.Schenck

Was um Himmels willen ist ein Kallus? Bibellesen ist ganz schön kompliziert. Botanische Kenntnisse sind gefragt, zumindest um Paulus zu verstehen.

Der Apostel schreibt von einer porosis, das ist zu Deutsch ein Kallus, von lat. callus = dicke Haut. Der Kallus bezeichnet eine besondere Gewebebildung, mit der Pflanzen eine Wunde verschließen. Ein Schriftsteller, der aus dem Ölbaum ein Gleichnis macht, weiß offensichtlich um diese Feinheiten.

Doch nun der Reihe nach. Schlagen wir die Bibel auf, Römer 11,25:
„Verstocktheit hat sich auf einen Teil Israels gelegt - bis dass sich die Völker in voller Zahl eingefunden haben“, so die neue Zürcher Bibel. Die Luther Bibel von 1984 benutzt das Wort „Verstockung“, die Bibel in gerechter Sprache sagt: „Verhärtung“.

„Verstockung“ ist geradezu ein theologischer Fachbegriff, berühmt geworden durch die Verstockung des Pharaos in 2. Mose 4,21, wo Gott spricht: „Ich aber will sein Herz verstocken“.
Merkwürdig eigentlich, dass niemand auf die Idee kam, nachzuschlagen, ob in der griechischen Übersetzung von 2. Mose 4,21 dasselbe Wort steht wie bei Paulus. Tut es nämlich nicht. Fast 2000 Jahre wanderten christliche Theologen und Theologinnen in den markierten Wegen der überlieferten Übersetzung, ohne zu bedenken, dass das, was heute logisch und selbstverständlich erscheint, früheren Entscheidungen an einem anderen Ort und unter anderen Bedingungen entspringen könnte und zutiefst fraglich ist. „Pfadabhängigkeit“ nennt die Sozialwissenschaft das. Ein Verhalten, das nicht so leicht zu ändern ist.

Nun fand der jüdische Paulus-Exeget Mark D. Nanos heraus, dass Paulus im Anschluss an sein Ölbaumgleichnis konsequent in der botanischen Metapher bleibt anstatt an eine Verstockung oder Verhärtung der Herzen derjenigen zu denken, die sich nicht zu Jesus als dem Christus bekennen. Ganz überraschend ist eigentlich nicht, dass ein Apostel, der seine israelitischen Geschwister preist als die, denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse, nicht zu Metaphern greift, die noch Generationen später ChristInnen Stoff bieten für Juden verunglimpfenden Schelte.

Der Kallus, das etwas härtere Gewebe am Wundrand – das Wort „Stock“ in „Verstockung“ gibt das ganz gut wieder - , zeugt zwar von dem vorangegangenen Bruch, ist aber selbst Teil des Heilungsprozesses. Die Schwiele am Wundrand ist für Pflanze, Tier oder Mensch etwas Positives, nicht negativ konnotiert wie die Verstockung des Herzens.

Ab heute ist für mich der Kallus ein theologischer Fachbegriff, ein Wundrand, der auch dafür steht, wie verquer meine Bibellese werden kann, wenn ich mich in vertrauter Pfadabhängigkeit bewege.

Literatur
Jewish Annotated New Testament, Eds Marc Brettler & Amy-Jill Levine, Oxford University Press 2011.
Mark D. Nanos, Römer 11 und christlich-jüdische Beziehungen. Exegetische Optionen für eine andere Übersetzung und Interpretation des Textes, in: „So wird ganz Israel gerettet werden“. Arbeitshilfe zum Israelsonntag 2014; URL: http://www.ekir.de/www/downloads/ekir2014arbeitshilfe_israelsonntag.pdf

Barbara Schenck, 13. August 2014