Dieser Krieg wird lange dauern

Die arabische Welt aus den Fugen – Rainer Hermann über Ursachen und Hintergründe


Dr. Rainer Hermann. Foto: EKvW

BIELEFELD/WESTFALEN - Die arabische Welt steckt in ihrer tiefsten Krise seit dem Mittelalter. Für Dr. Rainer Hermann gleichen die konfessionell aufgeladenen Auseinandersetzungen dem Dreißigjährigen Krieg.

„Wir werden lernen müssen, damit umzugehen und zu leben“, sagt der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der lange als Korrespondent in den Ländern des Nahen Ostens unterwegs war. Auf Einladung der Evangelischen Kirche von Westfalen sprach er am Donnerstag (23.10.) im Landeskirchenamt Bielefeld über Ursachen und Hintergründe der Konflikte im arabischen Raum.

Die Proteste von 2011, beschönigend als „Arabischer Frühling“ bezeichnet, waren der Wendepunkt: Er markierte das Ende der nachkolonialen Ära. Damit begann, so Hermanns Analyse, der Zerfall der Staaten, die Auflösung der Grenzen, die nach dem Ersten Weltkrieg von den Kolonialmächten gezogen worden waren. Das gilt vor allem für Libyen, Syrien und den Irak.

Dieser Staatsverfall sei erstaunlich: „Den Muslimen ist aufgetragen, in Staaten zu leben.“ Den Grundstein dafür habe Mohammed selbst gelegt: Die Gemeindeordnung von Medina aus dem 7. Jahrhundert gilt den Muslimen als Gründungsdokument ihrer Staatlichkeit, erklärte Hermann, der promovierter Islamwissenschaftler ist: „Der Staat war für die Muslime ein Geschenk Allahs.“

Minderheiten durften in diesem Staat Schutz und eine gewisse Eigenständigkeit beanspruchen – so lange sie die islamische Herrschaft nicht in Frage stellten. In der islamischen Welt hat dieses Modell 1400 Jahre lang funktioniert. „Nirgends auf der Welt und in der Geschichte der Menschheit hatte es eine solche Dichte von religiösen Minderheiten gegeben wie in Syrien und im Irak. In diesem Sommer wurde diese einzigartige Vielfalt ausgelöscht.“

Warum? Staaten wie Syrien, der Irak, Libyen, aber auch Ägypten sind gescheitert. Sie zerfallen, weil kleine Eliten ihre Ressourcen – Einnahmen aus Öl, ausländische Entwicklungs- und Militärhilfe – unter sich aufteilten. Die Bevölkerung zahlte so gut wie keine Steuern. Ergebnis: „Die Elite braucht die Bevölkerung nicht, und die Bevölkerung hatte von der Elite und deren Staat aber auch nichts zu erwarten.“ Kein Wunder, dass die Menschen in ihrem Staat immer weniger Nutzen sahen – „warum sollten sie dann auch an ihm festhalten?“

Ohne Staat jedoch und ohne große Ideologie wird der Islam zum wichtigsten identitätsstiftenden Bindemittel. In seiner extremen Form führt das zum „Islamischen Staat“ (IS), der alles beseitigt, was vom „wahren Glauben“ abweicht. Hermann: „Dieser ‚Islamische Staat‘ wird vorläufig Bestand haben; er hat eine Anziehung vor allem auf jugendliche radikale Islamisten. Er ist eben cool, Jugendliche finden in ihm einen Sinn. Dieser Krieg wird lange dauern.“

Die Armee des IS sei stark und gut aufgestellt. Er sei außerdem „die reichste Terrorgruppe der Geschichte“, unabhängig von Geldzahlungen von außen. Sie lebe von erpressten Schutzgeldern, dem Vermögen getöteter Minderheiten, Ölverkauf, Geiselnahmen, Wegzöllen und dem Verkauf von Antiquitäten. Die IS-Kämpfer würden gut bezahlt – im Unterschied zu den Soldaten der staatlichen irakischen Armee.

Deshalb wirke sich die Fehleinschätzung der USA verheerend aus: Der Sturz von Saddam Hussein, so die Annahme, würde nahtlos in eine funktionierende Demokratie überleiten. „Stattdessen fiel das Land in einen Bürgerkrieg, die amerikanischen Truppen verließen das Land zu früh, und es gab keine Armee mehr, die sich dem IS entgegen stellen konnte.“

Pressemeldung der EKvW, 24. Oktober 2014

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