Reformierte Orientierungspunkte

Von Georg Plasger

„Ich bin reformiert – aber was ist das eigentlich?“: so lautet in unsern Gemeinden eine nicht selten gehörte Frage. Als Reformierter befindet man sich ja oft in einer Minderheitssituation. Und schnell entsteht dann die Meinung, man müsse sich rechtfertigen - und erklären, warum man denn 'anders' ist als andere Christen in evangelischen (z.B. lutherischen) Kirchengemeinden.

Es kann die Frage auch von außen kommen: „Was kennzeichnet euch eigentlich als Reformierte?“ Und da ist es gar nicht so leicht, eine Antwort zu geben.
Dieser Beitrag versucht, eine theologisch-reformierte Landkarte zu skizzieren. Er sucht auf die Frage, was denn charakteristisch für eine reformierte Kirche ist, theologische Antworten zu geben.
Es gäbe andere Möglichkeiten zu antworten: etwa indem man das vorfindliche Leben in der eigenen Gemeinde beschreibt und das als 'reformiert' kennzeichnet. Und das wäre nicht falsch. Denn die reformierte Theologie ist kein Ideal, keine Norm, der sich die Gemeinden vor Ort anpassen müssten. Vielmehr lebt die reformierte Theologie in den Gemeinden und kann sich demzufolge verändern, wenn die Gemeinden sich verändern. Weil die reformierte Kirche aus vielen Gemeinden in unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten, mit unterschiedlichen Strukturen besteht, darum gibt es in der reformierten Theologie Aussagen, die in der eigenen Gemeinde weniger betont werden als in andern reformierten Kirchen und Gemeinden – und umgekehrt. Das kann dann für die eigene Gemeinde als Anregung und als Herausforderung verstanden werden.

Eine theologisch-reformierte Landkarte kann nur einen groben Maßstab haben.
Nicht alles kann benannt werden. Ich beschränke mich auf wichtige zehn Punkte. Diese können als Orientierungspunkte verstanden werden, als Wegweiser, die dem Weg der Gemeinde im Lauf der Zeit eine Richtung geben.
Aus Sicht der reformierten Theologie sind diese Orientierungspunkte nicht nur für die reformierten Gemeinden wichtig, sondern für Gemeinden in der ganzen Christenheit. Es geht also nicht um reformierte Eigentümlichkeiten, sondern - aus reformierter Sicht - um Einsichten, die für die Kirche insgesamt wesentlich sind.
Es kann gut sein, dass manche dieser Orientierungspunkte in anderen Landkarten auch verzeichnet sind. Dann können wir uns nur freuen!
 

1. Orientierungspunkt:

"Die heilige christliche Kirche, deren einziges Haupt Christus ist, ist aus dem Worte Gottes geboren, bleibt in demselben und hört nicht die Stimme eines Fremden".

Dieser Satz stammt aus der ersten Berner These von 1528, aus einer der ältesten reformierten Bekenntnisschriften. In der Feststellung dieses Satzes stimmen alle reformierten Bekenntnisse aller Orten und aller Zeiten überein. Mag es sonst auch Unterschiede in den Bekenntnissen geben -... darin sind sich alle einig: Wir gehören nicht uns selber, sondern Jesus Christus (so sagt es der Heidelberger Katechismus).
Der Satz aus der ersten Berner These ist eingeflossen in die erste These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“
Was besagt nun diese erste und wohl wichtigste reformierte Orientierung?
Gott hat sich auf den Weg zu uns gemacht. Er ist Mensch geworden, er hat sich für uns kreuzigen lassen, er ist für uns auferstanden. Dieser menschenfreundliche Gott regiert uns, auch wenn wir das nicht am Lauf der Welt ablesen können.
In seiner Hand stehen wir – und deshalb ist die Ausrichtung darauf, dass dieser eine Herr den Weg der Kirche bestimmen möge, entscheidend. Alternativen lassen sich denken und sind auch von der reformierten Kirche und von reformierten Gemeinden gegangen worden: die fraglose Unterwerfung unter irdische Machthaber (etwa in der NS-Zeit), die Anpassung an den Zeitgeist, das Schielen nach eigener Stärke und nach gesellschaftlichem Einfluss. Immer dann, wenn die Kirche andere Mächte oder sich selbst zu wichtig nimmt, muss sie sich fragen, ob sie noch ausreichend auf den einen Herrn - ihren Herrn! - ausgerichtet ist.

2. Orientierungspunkt:

Die Bibel „als Grundlage des Lebens der Kirche und der Christen“.

Dieser Satz, der aus dem Bekenntnis von 1979 der (mit unserer reformierten Kirche verbundenen) indonesischen Karo-Batak-Kirche stammt, ist sinngemäß auch in allen anderen reformierten Bekenntnissen zu lesen und hören. Was dieser Satz beinhaltet, wird in der gesamten Reformation betont und herausgestellt, nicht nur von den Reformierten: Allein die Heilige Schrift hat Autorität. Auch die kirchlichen Bekenntnisse haben sich der Schrift unterzuordnen. Als Ulrich Zwingli nach Zürich kam, begann er mit der Auslegung ganzer biblischer Bücher und wollte damit deutlich machen: Die Quelle unserer Erneuerung kann nur das Zeugnis der Heiligen Schrift sein.
In  diesem Zusammenhang sind zwei Hinweise zu beachten.
Erstens hat die Schrift eine Mitte; und die Mitte ist Jesus Christus. Im Blick darauf lesen wir die Bibel. Sie ist also nicht einfach für sich selbst und aus sich selbst heraus das Wort Gottes - wie das etwa eine Verbalinspirationslehre meint, wonach in der Bibel jedes Wort vom Geist Gottes diktiert und gleich wichtig und darum wie ein Gesetz ist. Nein, die Bibel bezeugt Jesus Christus; und wir lesen sie auf diese Mitte hin und von dieser Mitte her.
Zweitens ist der reformierten Theologie diese Erkenntnis wichtig: Zur Bibel als der Heiligen Schrift gehört das Alte Testament genauso dazu wie das Neue Testament. Denn das Kommen Jesu Christi ist nicht isoliert zu verstehen, sondern es gehört hinein in die Geschichte des Bundes Gottes mit seinem Volk und mit seiner Schöpfung.

3. Orientierungspunkt:

„Der  Bund, der Abrams Hoffnung war, steht jetzt noch da unwandelbar.“

Das ist ein Vers aus Reimpsalm 105, der oft in den reformierten Kirchen, gerne auch bei Taufen gesungen wird. Er verweist auf die besondere Bedeutung des Bundes, den Gott geschlossen hat. Die Schöpfung der ganzen Welt, die Erwählung Israels, das Kommen Jesu Christi - sein Tod und seine Auferstehung - zeigen die Bundestreue Gottes an und lassen erkennen, dass Gott die Werke seiner Hände nicht los lässt. Gott ist treu: sich selber und seiner Schöpfung. Diese Zuwendung Gottes ist ganz einseitig und bedingungslos – sie gilt auch dann, wenn wir Menschen uns nicht so verhalten, wie Gott es von uns erwartet. Gott liebt den Menschen und vergibt seine Sünde. Die Rechtfertigung des Sünders wird auch in der reformierten Theologie großgeschrieben - und ist Ausdruck der Bundestreue Gottes. Gleichzeitig ist der Bund Gottes ein Hinweis auf die Unverfügbarkeit seines Handelns: Wir können mit keinem Mittel diesen Bund zustande bringen oder beeinflussen. Die (reformierte) Kirche kann die Zuwendung Gottes bezeugen, aber nicht bewirken.

4. Orientierungspunkt:

Jesus Christus „versammelt, schützt und erhält“ seine Gemeinde.

Diese dem Heidelberger Katechismus (54) entlehnte Formulierung weist auf eine ganz bestimmte Dimension der eben schon genannten Bundestheologie hin: Gottes Zuwendung ist nicht nur in der Vergangenheit geschehen, sondern sie ereignet sich auch heute, indem er seine Gemeinde versammelt, schützt und erhält. Insbesondere die erste Feststellung (Jesus Christus 'versammelt' seine Gemeinde) ist für die reformierte Theologie wichtig geworden. Denn was Kirche ist, bestimmt sich von der versammelten Gemeinde her. Das heißt, dass die einzelne Gemeinde nicht als Vertreterin der ganzen Kirche zu verstehen ist, sondern es ist genau umgekehrt: Die von Jesus Christus durch seinen Geist und Wort versammelte Gemeinde ist im Vollsinn Kirche - und nicht deren Dependance. Das hat in der Praxis dazu geführt, dass viele reformierte Gemeinden sehr selbständig sind und sich verantwortlich für das Gemeindeleben wissen, sich dann auch recht selbstbewußt verhalten. Aber es darf nicht übersehen werden, dass der Herr, der die einzelne Gemeinde versammelt, auch der Herr der ganzen weltweiten Kirche ist und deshalb einen  großen Weitblick hat und nicht nur die einzelne Gemeinde sieht. Deshalb existieren die reformierten Gemeinde nicht für sich, sondern schließen sich zu Synoden zusammen; deshalb gibt es in den meisten reformierten Kirchen eine „presbyterial-synodale Kirchenordnung“, weil die einzelne von einem Presbyterium (= Kirchenrat) geleitete Gemeinde in Gemeinschaft mit anderen Gemeinden auf einem gemeinsame Weg ist ('Synode' heißt 'gemeinsamer Weg'). Auch die Kirchenleitung in Leer ist Ausdruck und Teil dieses Verständnisses von Kirche: Sie hat den Synoden und den Gemeinden zu helfen.

5. Orientierungspunkt:

„Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft“.

Dieser Satz ist der 4. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 entnommen. Sie hat zum Hintergrund, dass es in den reformierten Gemeinden mehrere Ämter gibt, nicht nur das Pfarramt oder Predigtamt: das Amt des Pastors und der Pastorin. Bereits Johannes Calvin kannte neben dem Pfarramt das Amt des Diakons, des Ältesten und des Lehrers. Allerdings lag ihm nicht an einer Festschreibung der Vierzahl: Pastor, Lehrer, Diakon, Ältester.
Die Ämter in den Gemeinden sind Ausdruck dafür, dass es in den Gemeinden geordnet zugehen soll; dass die den Gemeindegliedern anvertrauten Schätze und Gaben eingesetzt werden sollen „zum Wohl und Heil der anderen“ (so formuliert der Heidelberger Katechismus 55). Entscheidend ist das Miteinander. Eine Hierarchie ist nicht gewollt. Auch das Amt des Pastors oder der Pastorin ist Bestandteil des Miteinanders. Es wird allerdings durch die Aufgabe zu predigen besonders hervorgehoben. Leider hat die eher lutherische Konzentration auf das Predigtamt dazu geführt, daß auch in reformierten Gemeinden in Deutschland Pastor und Pastorin zu sehr im Mittelpunkt stehen und oft eine isolierte Stellung haben.  Dazu tragen auch (manchmal allzu große) Erwartungen in den Gemeinden bei. So werden Strukturen, wonach eine oder einer in der Gemeinde mehr zu sagen hat als andere, gefestigt und nicht in Frage gestellt.
Die kritische Betrachtung kirchlicher Herrschaft und das Bemühen, sie zu vermeiden, hat zur Folge, dass die Kirchenleitungen in reformierten (und unierten) Kirchen weniger Befugnisse haben als in vielen lutherischen Kirchen  und den Synoden prinzipiell untergeordnet sind.

6. Orientierungspunkt:

„Der Heilige Geist wirkt den Glauben in unseren Herzen durch die Predigt“ (Heidelberger Katechismus 65).

Im Aufbau des reformierten Gottesdienstes fällt auf, dass die Predigt eine zentrale Rolle einnimmt, ja, dass der Gottesdienst eigentlich um die Predigt herum gestaltet ist. (Historisch ist der reformierte Gottesdienst vom mittelalterlichen Prädikantengottesdienst entscheidend beeinflusst worden.)
Die zentrale Stellung der Predigt im Gottesdienst bedeutet, dass ihr einerseits hohe Erwartung entgegengebracht und anderseits große Sorgfalt gewidmet wird. Das ist auch gut begründet, weil der Heilige Geist – so der Heidelberger Katechismus – sich der Predigt bedient, um Glauben zu wecken. Das Evangelium kommt als lebendiges Wort zu uns. Es kann nicht anders weitergegeben werden als in mündlicher Form. Es wird im Hören als 'gute Botschaft' (als Evangelium) erfaßt und erkannt - und kann dann zu Herzen gehen. Weil wir das Evangelium in der Heiligen Schrift finden, ist die Predigt immer auf die Bibel bezogen. Sie sucht den Menschen der Gegenwart in der Botschaft der Bibel zu entdecken: den Gerechtfertigten und den Sünder; den von Gott Geliebten und den, der von Gott auf den Weg in die Nachfolge Jesu Christi gewiesen wird. Die Predigt kann nur deshalb diesen hohen Stellenwert haben, weil  dem Heiligen Geist zugetraut wird, durch das gepredigte Wort in der versammelten Gemeinde zu wirken.
Es wäre aber fatal, das Wirken des Heiligen Geistes alternativ zum eigenen Handeln zu sehen: Das Predigen erfordert den ganzen Menschen, seine Aufmerksamkeit und seine Arbeit - und das gilt auch für das Hören. Deshalb ist die Predigt ein anspruchs-volles Geschehen, das jeden erreichen soll und deshalb weder zu seicht noch zu intellektuell sein darf.

7. Orientierungspunkt:

Die Sakramente sind ein „äußeres Zeichen des göttlichen Wohlwollens gegen uns“ (Johannes Calvin im Genfer Katechismus)
 
Die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl bezeugen ebenso wie die Predigt das Evangelium. Der Unterschied besteht im wesentlichen darin, dass die Predigt das Ohr erreicht und die Sakramente darüber hinaus auch andere Sinne. Die Sakramente tragen Gott nicht in sich. Brot und Wein werden nicht verwandelt, sondern bleiben Brot und Wein. Und das Wasser der Taufe macht Menschen nicht zu Christen. Die Sakramente sind von Christus eingesetzt, weil uns vor Augen gestellt werden soll und weil unser Mund es schmecken und unsere Haut es empfinden soll: Gott ist uns zugewandt. Wenn wir in unserer Mitte Menschen taufen, dann bekennen wir damit vor Gott und seiner Gemeinde, dass er Menschen in die Kirche hinein ruft, dass er auch heute noch Menschen anspricht und ihnen den Glauben schenkt. Und wenn wir Abendmahl feiern, dann bekennen wir, dass das, was am Kreuz geschehen ist, auch uns gilt: Auch wir sind versöhnte und befreite Menschen, auch bei uns ist Gott gegenwärtig. Das Abendmahl feiert die Gegenwart Gottes. Deswegen fällt der Blick nicht auf die Elemente (Brot und Wein); sondern unsere Sinne sind gerichtet auf den unsichtbar anwesenden Herrn der Kirche, der uns an seinen Tisch einlädt (nicht: vorlädt).
Die Sakramente sind  so etwas wie „göttliche Pädagogik“, mit denen Gott uns zeigen will, wie gütig und gnädig er ist – und die wir deshalb brauchen, weil wir so vergessliche Menschen sind.

8. Orientierungspunkt:

„Die Kirche ist in Wort und Tat Zeugin des neuen Himmels und der neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.“

Dieser Satz ist im Belhar-Bekenntnis von 1986 zu finden, das in Südafrika entstanden ist. Angesichts der dort über lange Zeit herrschenden Rassentrennung (Apartheid) bezeugt dieser Satz, dass es in der Kirche nicht nur um den Gottesdienst am Sonntag, sondern auch um das Leben im Alltag geht. Unser Handeln hat sich nach dem auszurichten, was unser Glaube bekennt: Glauben und Handeln gehören zueinander und dürfen nicht verschiedenen Herren folgen. Dass das im Leben nicht immer gelingt, ist leider wahr: Den oben genannten Satz aus dem Belhar-Bekenntnis sollte darum niemand mit stolz geschwellter Brust sagen und dabei die Unvollkommenheit menschlichen Redens und Tuns verschweigen.
Der Anspruch Christi, der im Zuspruch enthalten ist (so die Barmer Theologische Erklärung), bleibt gültig und bleibt der Maßstab. Weil Gott Gerechtigkeit schafft, sollen auch wir uns für gerechte Maßstäbe in dieser Welt einsetzen. Weil sich Gott zu den Niedrigen bekannt hat, darf die Kirche nicht nur mit den Einflussreichen und Mächtigen paktieren, sondern hat Anwältin der Schwachen zu sein. Der Heidelberger Katechismus sagt, dass wir gute Werke aus Dankbarkeit tun sollen - dankbar dafür, dass Gott selbst uns befreit und erneuert hat.
 

9. Orientierungspunkt:

Die Kirche „erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten“.

So formuliert es die 5. These der Barmer Theologischen Erklärung und macht damit deutlich, dass sich die Kirche nicht in einem weltfernen Raum befindet, sondern in einem bestimmten Land mit einer bestimmten Gesellschaft lebt und im Staat Verantwortung übernimmt. Die Kirche darf sich nicht so verhalten, dass sie mit dem Staat verwechselt wird. Zwischen Staat und Kirche muss sauber unterschieden werden. Die Kirche soll dem Staat, in dem Christen und Nichtchristen leben, sagen, was Gott erwartet: wo es gilt, (im Sinne der Orientierungspunkte) Gerechtigkeit zu üben. Reformierte Gemeindeglieder werden auch deshalb Verantwortung im Staat übernehmen, weil der Staat eine göttliche Aufgabe hat: Er soll für Recht und Frieden sorgen.
Nun kann es sein, dass ein Staat sich vehement über göttliche Gebote hinwegsetzt und das Recht mit Füßen tritt. Und es kann auch sein, dass der Staat weder von der Kirche noch von irgendjemandem sich irgendetwas sagen lässt. Der Satz  „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29) ist dann ein Grundsatz, der beachtet werden muss, der im Einzelfall sehr wohl gilt und im Extremfall sogar politischen Widerstand theologisch begründet. Aber letzteres ist der Ausnahme-, nicht der Regelfall. Wichtig ist jedoch, dass der Staat und die Regierenden der Mitarbeit der Christen und in besonderer Weise der Fürbitte bedürfen – auch der Staat ist Teil der guten Schöpfung Gottes.

10. Orientierungspunkt:

„Du sollst dir kein Bildnis machen“.

So heißt es im zweiten Gebot - und das kennzeichnet bis heute die meisten reformierten Kirchengebäude, deren Innenraumgestaltung recht schlicht gehalten sind. Aber es wäre zu wenig, nur in die Kirchenräume zu sehen.
Alle gemalten Bilder, aber auch Bilder, die wir im Kopf haben, wollen etwas 'anschaulich' machen. Das gehört zum Menschen dazu: dass er etwas anschauen, be-greifen, in den Griff bekommen will. Hier markiert das zweite Gebot eine gefährliche Tendenz. Seine theologische Grundaussage zielt darauf ab, Gott nicht zu vereinnahmen, ihn nicht in die Kirche zu integrieren, Gott nicht auf etwas festzulegen. „Der Geist weht, wo er will“, heißt es im Johannesevangelium (3,18). Gott ist nicht einzufangen in kirchliche Gebäude, auch nicht in kirchliche Zeremonien und schon gar nicht in kirchliche Institutionen. Dieser Grundgedanke, der die reformierte Reformation von Anfang an bestimmt, hat vielfach die reformierte Mentalität geprägt und stellt deshalb nicht selten den Grundzug reformierter theologischer Existenz dar, der eine tief eingegrabene Skepsis zeigt gegenüber allen Versuchen, hier auf Erden schon etwas Göttliches erkennen oder erfahren zu können. Dann führt dieser 'reformierte Grundzug' gelegentlich dazu, dass der Betrachter die Reformierten als sehr nüchtern wahrnimmt; dass reformierte Frömmigkeit und reformierte Gottesdienste schlicht und karg wirken. Aber genau betrachtet wird hier der Ausdruck tiefen Gottvertrauens spürbar: Wir müssen Gott nicht herbei tragen. Er kommt von selber.

Zum Schluß: Verwendungshinweise für diese Orientierungspunkte

Wenn ich mit diesen zehn Orientierungspunkte eine reformierte Landkarte zu skizzieren versucht habe, so ist wichtig, dass die Landkarte reformiert ist, nicht aber das Land. Das heißt: Es kann nicht darum gehen, ein reformiertes Land zu beschreiben, in dem die reformierte Kirche für sich existieren würde - ein Land  neben einem lutherischen und einem römisch-katholischen Land. Nein, es gibt nur eine einzige Kirche Jesu Christi; und die reformierte Kirche ist ein Teil davon.
Biblisch verstanden ist die Kirche nicht ein Land, sondern eher eine Bewegung. Sie ist unterwegs, auf dem Wege. Sie kommt her von Schöpfung und Versöhnung – und sie hat ein großes Ziel vor Augen: die Erlösung der Welt.
Wenn hier eine reformierte Landkarte skizziert wird, so geschieht das in dem Bewusstsein, dass es auch andere Landkarten gibt, die zum Teil dieselben, zum Teil auch andere Orientierungspunkte für wichtig erachten. Die hier benannten zehn Orientierungspunkte (es ließen sich noch mehr nennen!) markieren die aus reformierter Sicht wichtigen Hinweise für die Nachfolge Jesu Christi. Andere Orientierungspunkte in anderen Landkarten werden für weniger hilfreich – und manche sogar für Irrwege gehalten. Deshalb muss immer wieder innegehalten und immer wieder neu gefragt werden, wo man sich gerade befindet – und in welche Richtung zu gehen empfehlenswert und geboten ist. Die Theologie kann nicht mehr und nicht weniger tun, als auf diese Orientierungspunkte hinzuweisen und sie zuweilen stärker, zuweilen weniger stark kenntlich zu machen und so Richtungen anzuzeigen.
Reformierte Theologie ist immer eine „theologia viatorum“, eine Theologie derer, die selber auf dem Wege sind. Und deshalb lautet ein weiterer Hinweis - der weniger ein elfter Orientierungspunkt als mehr eine Erklärung der reformierten Landkarte ist -: ecclesia reformata semper reformanda: Die reformierte Kirche muss immer wieder reformiert werden.

Mit freundlicher Genehmigung aus:
125 Jahre Evangelisch-reformierte Kirche, Leer 2007, herausgegeben von Walter Herrenbrück und Hilke Klüver im Auftrag des Moderamens der Gesamtsynode der Evangelisch-reformierten Kirche