Zum Ende der Regenschirm-Revolution

Mittwochs-Kolumne - Paul Oppenheim


Plakat-Motiv aus Hong Kong; Foto: CeciliaPang / WikipediaCommons

„Wir kommen wieder“, rufen zum Abschied die letzten Demonstranten. So geht nach zehn Wochen die „Regenschirm-Revolution“ in Hong Kong ziemlich unspektakulär zu Ende.

Ihr Symbol war der Regenschirm, unter dem  Demonstranten am 28. September Schutz gegen Wasserwerfer- und Tränengaseinsätze der Polizei gesucht hatten. Bekannter wurde die Bezeichnung „Occupy Central“, also der Aufruf, den Zentralbezirk der Wirtschaftsmetropole mit Sitzblockaden und Barrikaden zu besetzen. Die Initiatoren der Protestbewegung hatten sich selbst einen viel schöneren Namen gegeben, der zugleich Programm und Methode beschreibt: „Occupy Central with Love and Peace“, also „Besetzt das Finanz- und Geschäftszentrum mit Liebe und Frieden“.

Ziemlich ratlos haben nicht nur unsere westlichen Medien auf diesen gewaltfreien Aufstand reagiert, auch die politische Führung in der ehemaligen britischen Kronkolonie schien irritiert und überrascht. Was wollen denn auf einmal diese aufmüpfigen Studenten? Wogegen protestieren Menschenrechtsaktivisten, Künstler und Professoren? Warum gehen sie auf die Straßen, belagern Plätze, Gebäude und U-Bahn-Stationen?

Es ist ja nicht so, als habe ihnen die Regierung in Peking etwas weggenommen. Es ist ja nicht so, als habe man die demokratischen Rechte der Hongkonger Bevölkerung einschränken wollen. Dass es in Hong Kong keine allgemeinen freien Wahlen gibt, ist ja nicht die Erfindung der chinesischen Kommunisten, sondern eine Hinterlassenschaft der britischen Kolonialmacht. Bis 1997 hatte sie es nicht für nötig befunden, demokratische Verhältnisse einzuführen. Als es bei der Übergabe Hong Kongs an China  dann hieß: „ein Land, zwei Systeme“, da gehörte die freie Wahl der politischen Führung eben nicht zum System, das die Briten in Hong Kong hinterließen.

Bei der Übergabe der Kolonie an China wurde allerdings das allgemeine Wahlrecht als Fernziel festgeschrieben und für die nächsten Wahlen im Jahr 2017 wollte Peking einen ersten Schritt in diese Richtung wagen. Zum ersten Mal sollte es allgemeine Wahlen geben,  vorher aber die Auswahl von Kandidaten durch eine Versammlung von 1.200 mehr oder minder demokratisch bestimmten Volksvertretern. Eigentlich geht es um Nuancen, um die Auslegung des Artikels 45 der Basic Law, jenes Grundgesetzes, auf das sich China und Großbritannien geeinigt hatten. Es ist ein Thema für Juristen und Politikwissenschaftler, eigentlich nichts, worüber sich die Gemüter erhitzen und wofür junge Leute zu Tausenden auf die Straße gehen müssten. Es steckt also mehr dahinter.

Man fühlt sich erinnert an die Worte Willy Brandts aus dem Jahre 1969: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“. Auf diesen Satz hatte damals bei uns eine ganze Generation gewartet. Auf eine solche Antwort aus Peking warten auch die Studenten in Hong Kong. Ihr Losungswort ist „mehr Demokratie!“, millionenfach wird es über Twitter und Facebook verbreitet. Es verbindet sich mit einem Lebensgefühl, mit fantasievollen Aktionen des zivilen Ungehorsams und mit Kunst und Musik. Es geht einher  mit dem Erlebnis von Solidarität auf den Straßen, die in Zeltlager verwandelt wurden, wo nächtelang diskutiert wird, wo Seminare und Vorlesungen unter freiem Himmel stattfinden und der Kreativität kaum Grenzen gesetzt sind. Die 68er unter uns erinnert es an die „Sit-ins“ und „Teach-ins“ ihrer Studienzeit.

Etliche der führenden Köpfe dieser Bewegung sind Christen, obwohl diese in Hong Kong nur eine kleine Minderheit bilden. Einzelne prominente Christen, wie der frühere katholische Erzbischof von Hong Kong, Kardinal Zen, oder der Baptistenpfarrer Yiu-ming Chu gehören zu den Sprechern der Occupy-Bewegung. Die Kirchen selbst halten sich aber mit offiziellen Stellungnahmen zurück. Sie rufen alle Beteiligten dazu auf, Gewalt zu vermeiden, friedlich und rücksichtsvoll zu bleiben. Es gibt Gebetsgottesdienste und viel praktische Hilfe für die Demonstranten, aber keine offene Kritik an die Adresse Pekings. Man möchte die Christen in der Volksrepublik China nicht in Gefahr bringen, denn allen ist bewusst, dass es letztlich nicht nur um Hong Kong geht.

Nach über zwei Monaten atmet man erleichtert auf. Es gab keine Todesfälle und die verhafteten Demonstranten sind alle wieder auf freiem Fuß. So heißt es business as usual in Hong Kong, aber etwas hat sich verändert. Nicht nur in Hong Kong weiß man, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Funke auf die Volksrepublik China überspringt, aber der Ausgang der „Regenschirm-Revolution“ nimmt viele Ängste und stimmt hoffnungsvoll. Bei aller Enttäuschung über die unbeugsame Haltung der Regierenden muss man auch anerkennen, dass es keine Eskalation der Gewalt gegeben hat. Bei allem Ärger über die Arroganz der Mächtigen überwiegt die Empfindung, dass es möglich ist, sich Gehör zu verschaffen und etwas zu verändern with Love and Peace. Eine schönere Adventsbotschaft kann ich mir nicht vorstellen.

Paul Oppenheim, 17. Dezember 2014