Zugunsten einer doppelten Solidarität: mit Israel und Palästina

Rainer Stuhlmann: Zwischen den Stühlen


Am Eingang zum „Zelt der Völker“ in Bethlehem; Foto: Rainer Stuhlmann

Eine Rezension von Sylvia Bukowski

Nein, neutral oder ausgewogen, wie der Titel vermuten lassen könnte, ist dieses Buch nicht. Es ist aus Briefen, Blogs und Andachten Rainer Stuhlmanns entstanden. Der rheinische Theologe ist seit 4 Jahren Studienleiter in Nes Ammim, einem ökumenischen Begegnungszentrum im Norden Galiläas, das sich Dialog-und Versöhnungsarbeit verschrieben hat. Er versteht sich als verlässlicher Freund Israels und als Christ, der in vielfacher Hinsicht von Juden zu lernen hat: in der Reflexion der Schoa, im ökumenischen und interreligiösen Dialog und auch im politischen Konfliktfeld. Aber das bedeutet für ihn keine einseitige Parteinahme. Durch die Gespräche und Begegnungen an vielen Orten Israels ist sein Blick für die Konflikte der Palästinenser in Israel sowie in den besetzten Gebieten geschärft worden. Und Rainer Stuhlmann ist keiner, der sich aus Konflikten heraushält. Vehement tritt er für die Rechte der Palästinenser ein, ohne jedoch ein Gegner Israels zu werden und ebenso vehement verteidigt er Israel gegen alle ungerechtfertigten oder überzogenen Vorwürfe, ohne begangenes israelisches Unrecht an den Palästinensern zu verharmlosen.

„Zwischen den Stühlen“ ist ein engagiertes Buch, das in Momentaufnahmen die vielfältigen Spannungsfelder in Israel/Palästina ausleuchtet. Es richtet sich gegen jede Form von Klischee, Einseitigkeit und Besserwisserei und nimmt die Leser mit in überraschende Entdeckungen und Einsichten. So beschreibt Stuhlmann etwa die große Bandbreite praktizierten Judentums, die von traditioneller Frömmigkeit bis zu einem orthodoxen Besucher der Schwulenparade und einer säkularen Jeschiwa in Tel Aviv reicht, aber auch Steine werfende Fundamentalisten in Jerusalem einschließt.

Er berichtet von israelischen Aktivisten, darunter viele ältere Frauen, die sich als Patrioten verstehen und mutig und konsequent für die Rechte der Palästinenser eintreten, sich von Landsleuten jedoch als Vaterlandsverräter beschimpfen lassen müssen, aber auch von Israelis, die noch nie Kontakt zu Palästinensern hatten und das Unrecht in den besetzten Gebieten nicht wahrhaben wollen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Fruchtbäume fällen? Das ist doch in der Tora verboten! Das muss Propaganda sein! Oder: Palästinenser, die sich weigern, Feinde zu sein? Unmöglich!

Ermutigende Beispiele von gelingender israelisch-palästinensischer Versöhnungsarbeit, der auch Nes Ammim gezielt Raum gibt, wechseln sich ab mit verstörenden Erfahrungen. Stuhlmann erzählt vom Austausch der unterschiedlichen Lebensgeschichten und der Bereitschaft, am Leiden des jeweils anderen Anteil zu nehmen. Er beschreibt den Zusammenschluss von israelischen und palästinensischen Eltern, die ihre Kinder durch die Gewalt der jeweils anderen Seite verloren haben und stellt andere gemeinsame Initiativen für Verständigung und Aussöhnung vor. Aber er berichtet auch von tragischem Scheitern, wie z.B. dem Ende einer Intervention von Kibbuzniks gegen den Grenzzaun, der ihre palästinensischen Nachbarn von ihren Feldern trennte. Als die Israelis endlich erreicht hatten, dass der zuständige Minister dem Kibbuz einen Besuch abstattete, um eine Korrektur des Grenzzauns zu besprechen, fand er keinen Gesprächspartner. Alle Kibbuzniks waren bei verschiedenen Beerdigungen, weil ein Palästinenser aus dem Nachbardorf am Tag zuvor eine Mutter mit drei Kindern und mehrere andere Bewohner erschossen hatte.

Stuhlmann erlebt auf beiden Seiten Betonköpfe, die versuchen, alte Feindbilder aufrecht zu erhalten und Begegnungen zu verhindern oder zu erschweren. Die israelische Regierung beschwört häufig übermäßige Sicherheitsbedenken, auf palästinensischer Seite stellt das Antinormalisierungsprogramm jede Begegnung mit Israelis unter Verdacht, die Besatzung zu verharmlosen. In diesem Zusammenhang kritisiert Stuhlmann auch das internationale Programm: BDS – Boykott, Disengagement, Sanctions. Er nennt es Blindheit, Dummheit, Schwachsinn, weil es auf seine Weise ebenso Feindbilder verfestigt und heilsame Begegnungen zwischen den verfeindeten Parteien verhindert.

Ein eigenes Kapitel widmet Stuhlmann dem Raketenalarm in Nes Ammim und dem Gazakrieg 2014. Darin widerspricht er in vieler Hinsicht einer deutschen Berichterstattung, die Israel einseitig als Aggressor darstellt und palästinensische Raketen bagatellisiert. Provokativ gibt er der in Israel verbreiteten Meinung Recht, die behauptet: Wir benutzen unsere Raketen, um unsere Kinder zu schützen. Sie benutzen ihre Kinder, um ihre Raketen zu schützen! Gleichzeitig prangert er die doppelte Moral der deutschen Öffentlichkeit an, die sich über die Zahl palästinensischer Opfer entrüstet, aber zu den weit höheren Opferzahlen des IS weithin schweigt. Seine These: Interessant sind für die Deutschen nicht die Opfer, sondern die Täter. Und die Täter sind nur interessant, wenn sie aus Israel kommen... Ins Feindbild passt: Israel ist an allem schuld.

In seinen Andachten verbindet Stuhlmann seine Beobachtungen mit Worten aus der Bibel und setzt beide in ein ungewohnt Licht. An anderen Stellen bezieht er zu vor Ort naheliegenden theologischen Fragen scharfsinnig, manchmal auch scharfzüngig Stellung, etwa zum messianischen Judentum in Israel, zum Umgang mit heiligen Stätten, zur Judenmission, und auch zur Frage: wem gehört das Land.

Das Buch macht deutlich, dass zwischen den Stühlen keine bequeme Position ist. Stuhlmann selbst beschreibt sie als eine Position voller Zweifel und Selbstzweifel, voller Ohnmacht und Hilflosigkeit, aber auch von einer Hoffnung, die immer etwas wagt und nicht aufgibt. Beim Lesen atmet man Stuhlmanns Lust, Neues zu entdecken und von anderen Menschen zu lernen. Und man fängt an zu begreifen, was Liebe zu diesem zerrissenen Landstrich ausmacht: nämlich die Fähigkeit, mit und an beiden Völkern zu leiden und die vielen unlösbaren Spannungen auszuhalten, statt sie sich mit irgendwelchen besserwisserischen Patentrezepten vom Hals zu schaffen.

„Zwischen den Stühlen“ ist sehr gut lesbar und eignet sich mit seinen kurzen, thematisch gegliederten Abschnitten hervorragend als Grundlage für Diskussionen in Gemeinde – oder Unterstützungsgruppen. Die Fotos sind unspektakulär, aber umso aussagekräftiger für den Alltag in Israel/Palästina.

Ich wünsche dem Buch viele Leser und Leserinnen, die sich wie die Volontäre in Nes Ammim von Stuhlmann mitnehmen lassen in seine oftmals irritierenden Beobachtungen und Erfahrungen, und die von ihm lernen, jede einseitige Parteinahmen aufzugeben zugunsten einer doppelten Solidarität: mit Israel und Palästina.

Pfr.in Sylvia Bukowski, April 2015

Zwischen den Stühlen

Alltagsnotizen eines Christen in Israel und Palästina
€ 12,99
1. Auflage 2015
(16-seitiger farbiger Bildteil)
gebunden / 13,5x21,5 cm /
ca. 160 Seiten
ISBN 978-3-7615-6179-9
Neukirchener Aussaat

Leseprobe mit Libreka

Blog von Rainer Stuhlmann: Zwischen den Stühlen:
https://stuhlmannzwischendenstuehlen.wordpress.com/