Aneignung und Gegenseitigkeit statt Enteignung - vom christlichen Umgang mit dem Alten Testament

ekir.de-Interview mit der Alttestamentlerin Michaela Geiger, Wuppertal/Bethel


Dr. Michaela Geiger; Foto: ekir.de

Sie ist die neue Juniorprofessorin für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel: Prof. Dr. Michaela Geiger. Mitten in der Debatte über die Bedeutung des Alten Testaments ein ekir.de-Interview von Anna Neumann mit der Hochschullehrerin.

Warum gehört auch das Alte Testament zum Christentum?

Das Alte Testament gehört zum Christentum, weil es Jesu Bibel ist. Ohne das Alte Testament ist das Neue nicht zu verstehen. Viele alttestamentliche Texte werden im Neuen Testament vorausgesetzt, wie zum Beispiel die Schöpfungserzählungen. Andere werden im Neuen Testament aufgegriffen und für den eigenen Kontext neu gedeutet. Ein solcher Prozess des Weitererzählens und Umdeutens findet auch schon innerhalb des Alten Testaments statt. Er ist also nichts grundlegend Neues, sondern die Voraussetzung dafür, dass die Texte relevant und aktuell bleiben.

Ich frage vor dem Hintergrund der Thesen des Berliner Theologieprofessors Notger Slenczka, der von einer „Vereinnahmung“ des Alten Testaments spricht.

Für mich ist es nicht per se „Vereinnahmung“, wenn Christinnen und Christen das Alte Testament lesen. Mir ist die Unterscheidung zwischen „appropriation“ („Aneignung“/„Enteignung“) und „reciprocity“ („Gegenseitigkeit“) wichtig, die aus der womanistischen Theologie Schwarzer Frauen in den USA stammt. Enteignung wäre es, wenn Christinnen und Christen das Alte Testament ganz für sich beanspruchen und jüdischen Lesarten keine Geltung mehr beimessen – und im Extremfall jüdischer religiöser Praxis keinen Raum mehr geben. Eine christliche Aneignung des Alten Testaments dagegen, die von Gegenseitigkeit geprägt ist, nimmt jüdische Deutungen der Texte ernst und tritt in einen Dialog mit ihnen ein – im Wissen darum, dass all unsere Erkenntnis von Gott vorläufig ist. Als Menschen sind wir immer Suchende, Verletzliche, die auf die Solidarität anderer angewiesen sind. Darum bedeutet Gegenseitigkeit auch, sich füreinander einzusetzen, wo immer das nötig ist.

Wir nehmen also meiner jüdischen Freundin die Tora gar nicht weg?

Nein, meiner auch nicht, natürlich nicht. Es ist schön, wenn wir uns zu Bibelgesprächen treffen und unsere jeweiligen Lesarten der Tora und anderer biblischer Texte austauschen. Gerade weil wir unterschiedliche Perspektiven auf die Texte haben, können wir voneinander lernen.

Warum gehört auch für uns heute das Alte Testament dazu?

Das Alte Testament gehört zu unserer Bibel, weil die christlichen Kirchen in den letzten 2.000 Jahren immer wieder entschieden haben, dass es in unseren Kanon gehört. Ich finde die Entscheidung bemerkenswert, unterschiedliche Weisen, über Gott zu sprechen, nebeneinander stehen zu lassen. Schon im Alten Testament stehen zwei Schöpfungsberichte nebeneinander. Beide sind auf ihre je eigene Weise wahr. Und auch die vier Evangelien erzählen die Geschichte Jesu auf ihre je eigene Weise. Für mich liegt in dieser Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven ein großer Reichtum: Es gibt nicht eine Wahrheit, sondern Gottes Wort berührt Menschen immer wieder neu und immer wieder ein bisschen anders.

An welche Beispiele für Gottesbilder denken Sie?

Insbesondere das Alte Testament enthält eine Vielfalt an Gottesbildern, die jeweils unterschiedliche Gotteserfahrungen spiegeln: Da ist die Vorstellung von Gott als Schöpfer oder als König, als Fels oder Quelle, als Vater oder Mutter. Diese unterschiedlichen Bilder stehen miteinander im Dialog: der göttliche Zorn wird dadurch begrenzt, dass derselbe Gott Israel erwählt und aus Ägypten befreit hat, und der gewalttätige Gott lässt sich zur Reue bewegen. Aber es ist nicht nötig, diese vielfältigen Gotteserfahrungen zu einem alles umfassenden Gottesbild zusammenzufassen.

Wie sieht es mit der Trinität aus, sie ist ja im Alten Testament noch gar nicht da.

Nein, im Neuen Testament aber auch nicht.

Wie bitte?

Die Rede von der Trinität ist eine spätere Systematisierung unterschiedlicher Gottesvorstellungen. Ansätze dazu gibt es im Neuen Testament, wenn in einem Atemzug von Vater, Sohn und Geist gesprochen wird. Aber eine durchgehende Vorstellung des dreieinigen Gottes findet sich nicht in den neutestamentlichen Texten. Für Jesus selbst gilt weiterhin, dass Gott einer und einzig ist (Mk 12,29), wie es im Alten Testament bezeugt wird (5. Mose 6,4). Obwohl die Einheit Gottes im Alten Testament so wichtig ist, finden sich daneben auch lebendige Bilder der göttlichen Geistkraft („ruach“): Atem, Wind, Lebendigkeit, Schöpferkraft, Geist …

Wie könnte eine christliche Lesart des Alten Testaments aussehen?

Ich plädiere für eine christliche statt einer christologischen Lesart. Sie fragt nicht danach, ob im Alten Testament schon von Jesus Christus die Rede ist, sondern welche Erfahrungen mit Gott, mit der göttlichen Geistkraft, hier bezeugt werden. Das muss nicht mit einer jüdischen Lesart kollidieren. Unter einer christlichen Lesart verstehe ich vor allem, dass ich in einer christlichen, mittlerweile 2.000 Jahre alten Auslegungstradition stehe, die unsere heutige kirchliche Praxis hervorgebracht hat. Ich kann das Alte Testament nur als Christin lesen, und als christliche Alttestamentlerin.
Als Christin sprechen mir viele biblische Texte – alt- und neutestamentliche – aus dem Herzen, ich erkenne mich darin wieder oder fühle mich direkt angesprochen. Zu einer christlichen Lesart der Texte gehört für mich aber auch, anzuerkennen, dass wir es mit Texten aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit zu tun haben. Nicht jeder Text spricht unmittelbar zu mir. Andere Texte sind mir so vertraut, dass ich sie erst wieder loslassen muss, um sie neu zu begreifen. Aus der Fremdheit kann dann wieder neues Verstehen wachsen.

Stichwort Fremdheit: Wie lesen Sie die Speisegebote?

Die alttestamentlichen Speisegebote sind mir tatsächlich erst mal fremd. Wie auch jüdische Exegetinnen und Exegeten heute versuche ich zu verstehen, worin ihr ursprünglicher Sinn liegt. Solche Regeln im Alltag zu befolgen, stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe und grenzt sie von anderen Gruppen ab. Ich finde es spannend zu fragen, welchen Speisegeboten wir heute folgen – vegetarisch, halal, glutenfrei, Brigitte-Diät … Stärken sie Gemeinschaft, machen sie einsam oder grenzen sie andere aus? Haben unsere Essgewohnheiten etwas mit unserer Gottesbeziehung oder unserer christlichen Verantwortung für andere Menschen zu tun?

Welchen Platz hat das Alte Testament heute in den Gemeindegottesdiensten?

Die Bedeutung des Alten Testaments hat in den letzten Jahren wieder zugenommen. In vielen Gemeinden steht ein im Wechsel gesprochener Psalm am Anfang des Gottesdienstes, und die neue Perikopenordnung, die gerade erprobt wird, enthält deutlich mehr alttestamentliche Predigttexte, so sind zum Beispiel einige Texte aus dem Buch Hiob neu eingetragen worden. Kindergottesdienste sind ohne die wunderbaren alttestamentlichen Geschichten kaum denkbar: Schöpfung, Erzeltern-Erzählungen, Mose …. Das Alte Testament spielt also keine so geringe Bedeutung in der Kirche, wie Notger Slenczka annimmt, aber es gäbe noch viel Spielraum.

Um eine weitere Bemerkung Slenczkas zur begrenzten Bedeutung des Alten Testaments aufzunehmen: Warum genügt es nicht, wie Slenczka vorschlägt, Shakespeare zu lesen?

Lesen Sie so viel Shakespeare, wie Sie wollen! Ich glaube, wir können auch in anderen Büchern als der Bibel Bilder für unseren Glauben finden. Aber es ist etwas anderes, ob ich etwas für mich allein lese, oder ob ich Teil einer Lesegemeinschaft werde und eine religiöse Praxis mit anderen teile. Als Christin stelle ich mich in die Tradition der christlichen Auslegung. Weder das Alte noch das Neue Testament wurde für mich persönlich geschrieben. Aber ich kann mich entscheiden, Teil der christlichen Lesegemeinschaft zu werden und mich zum Beispiel mit Jakob oder den Jüngern Jesu identifizieren.

Außerdem spricht Slenczka davon, erst das Neue Testament enthalte spezifische christliche Aussagen, das Alte Testament sei – wie auch die Shakespeare-Texte – Zeugnis einer „vorchristlichen“ Gotteserfahrung.

Ich finde die Gleichsetzung problematisch. Während das Alte Testament Zeugnis der Gotteserfahrung Israels ist und seit 2000 Jahren zur christlichen Bibel gehört, erhebt Shakespeare nicht den Anspruch, Gotteserfahrung zum Ausdruck zu bringen – eher vielleicht menschliche Erfahrungen im christlichen England seiner Zeit. Für Slenczka liegt die Stärke Shakespeares gerade darin, die „vorchristlichen Erfahrung, die wir alle teilen“ auszusprechen, so dass Menschen sich selbst besser verstehen. Die Begegnung mit Christus sei demgegenüber aber etwas qualitativ anderes. Mir leuchtet diese Unterscheidung nicht ein. Wenn ich Shakespeare lese – auch wenn ich das selten tue – lese ich die Texte nicht „vorchristlich“, sondern als Christin, geprägt durch meine Lebenserfahrung und meine theologische Ausbildung. So entdecke ich auch Passionsmotive in den Harry-Potter-Büchern oder Auferstehungsbilder in den Matrix-Filmen. Manchmal hilft mir das, besser zu verstehen, was Passion und Auferstehung für mich bedeuten – in Anknüpfung und auch in Abgrenzung von den modernen Rezeptionen.

Welche Bezüge zwischen Altem und Neuem Testament erfreuen Sie besonders?

Als alttestamentliche Engel-Forscherin finde ich in den Engeln der Weihnachtsgeschichte die alttestamentlichen Engelserzählungen wieder. Ein Engel erscheint Zacharias im Tempel und verkündet Maria die Geburt Jesu – so ähnlich erfährt auch die Mutter Simsons von dessen Geburt (Ri 13). Die himmlischen Heerscharen loben Gott wie vor ihnen die Serafim (Jes 6). Und Josef träumt von einem Engel, der ihm den Weg weist, wie es auch von Jakob im Alten Testament erzählt wird (Gen 28; 31). Mir macht es Freude zu entdecken, wie die neutestamentlichen Erzähler die alttestamentlichen Geschichten weiterspinnen und so ihre eigenen Gotteserfahrungen in Worte fassen. 

Mehr zum Thema:

Zur Person: Prof. Dr. Michaela Geiger

Ringen um die Bedeutung des ersten Buchs der Bibel. Podiumsdiskussion in Köln, 15.6.2015