Kunst trotz(t) Handicap

Predigt zu 2. Mose 4,1-17

Kunst trotz(t) Handicap - Detail vom Cover des Ausstellungskatalogs

I.

Liebe Gemeinde,
eine Herausforderung anzunehmen – das fällt nicht jedem gleichermaßen leicht. Vor allem, wenn die Herausforderung groß ist und wenn jemand seine eigenen Fähigkeiten als eher begrenzt einschätzt. Wie bereichernd und befreiend es aber sein kann, solche Einschätzungen zu überwinden, erleben wir in diesem Ausstellungsraum. Wir sehen Kunstwerke von Menschen, die die Selbst- und Fremdeinschätzungen ihrer Fähigkeiten überwunden haben. »Kunst trotz(t) Handicap« lautet der Titel dieser Wanderausstellung. Menschen, die aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung behindert werden – sie haben mit der Unterstützung anderer Kunstwerke geschaffen.

Diese Bilder stehen uns hier heute im ›Forum Marta‹ vor Augen. Und ich möchte in der Predigt eine weitere Bilderreihe anfügen. Eine Bilderreihe aus dem Alten Testament, die sich mit Herausforderungen, Hemmnissen und unterstützenden Maßnahmen beschäftigt. Die Bilderreihe handelt von der Begegnung eines behinderten Menschen mit Gott. Wir erfahren, wie sehr eine Behinderung die Selbstwahrnehmung bestimmen kann. Wir erfahren, was Gott mit der Behinderung zu tun hat und wie er damit umgeht.

II.

Bei der Bilderreihe handelt es sich um eine längere Begegnung eines 80jährigen Mannes mit Gott: es ist eine der entscheidenden Begegnungen im Alten Testament. Und fast wäre diese Begegnung im (Wüsten-)Sande verlaufen. Denn Mose – so der Name des 80jährigen Mannes – mochte sich nicht auf das, wozu Gott ihn herausforderte, einlassen: Als Gott ihm im brennenden Dornbusch erschien, beauftragte er Mose, zum Pharao zu gehen und das Volk Israel aus Ägypten zu befreien. Doch Mose lehnte dreimal ab. Zunächst hielt er sich für viel zu unbedeutend, dann fragte er nach Details zu seinem Auftraggeber und schließlich kam er zu dem Schluss, das er diese Aufgabe nicht wirklich glaubhaft ausführen könne.

Gott versuchte, die Einwände des Mose der Reihe nach zu entkräften. Dreimal tat er das, aber vergeblich. Denn es gab einen gewichtigen vierten Einwand, weshalb sich Mose sträubte. Er war nämlich fest davon überzeugt, ein völlig ungeeigneter Redner zu sein. Er empfand sein Sprachvermögen als unzureichend, und in seiner schwergängigen Zunge sah er eine ernsthafte Behinderung.

III.

Doch hören wir den Predigttext selbst aus dem 2. Buch Mose, Kapitel 4:

1 Mose sagte: »Und was ist, wenn sie mir nicht glauben und nicht auf mich hören, sondern sagen: Der HERR ist dir bestimmt nicht erschienen.« 2 Der HERR aber sprach zu ihm: »Was hast du da in deiner Hand? Und er sagte: Einen Stab.« 3 Und er sprach: »Wirf ihn auf die Erde!« Da warf Mose ihn auf die Erde, und er wurde zu einer Schlange, und Mose flüchtete vor ihr. 4 Der HERR aber sprach zu Mose: »Strecke deine Hand aus und fasse sie beim Schwanz!« Da streckte er seine Hand aus und ergriff sie, und in seiner Hand wurde sie wieder zu einem Stab. 5 »Damit sie glauben, dass dir der HERR erschienen ist, der Gott ihrer Vorfahren, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.«

6 Und der HERR sprach weiter zu ihm: »Stecke deine Hand in deinem Umhang.« Er tat es. Als er sie wieder herausholte, war sie voll von einem schneeweißen Ausschlag. 7 Und er sprach: »Stecke deine Hand noch einmal in deinen Umhang.« Er tat es. Und als er sie wieder hervorzog, war sie wieder so wie sein übriger Körper. 8 »Wenn sie dir beim ersten Zeichen nicht glauben und dir nicht folgen, dann werden sie es beim zweiten Zeichen tun. 9 Glauben sie dir auch nach diesen beiden Zeichen nicht und hören sie nicht auf dich, dann nimm Wasser aus dem Nil und gieße es auf die Erde. Das Wasser, das du aus dem Nil geschöpft hast, wird auf dem trockenen Boden zu Blut.«

10 Mose aber sagte zum HERRN: »Bitte, HERR! Ich bin kein Mann, der zu reden versteht; ich bin es früher nicht gewesen und bin es auch jetzt nicht, da du zu deinem Diener redest. Sondern ich bin mit Mund und Zunge unbeholfen.« 11 Da sprach der HERR zu ihm: »Wer hat dem Menschen einen Mund gemacht, wer macht stumm oder taub oder sehend oder blind? Bin nicht ich es, der HERR? 12 Und nun geh! Ich selbst werde mit deinem Mund sein und dich lehren, was du reden sollst.«

13 Mose aber sagte: »Herr, sende, wen immer du senden willst, nur nicht mich!« 14 Da wurde der HERR wütend auf Mose, und er sprach: »Du hast doch noch einen Bruder, den Leviten Aaron! Ich weiß, der kann gut reden. Er ist auf dem Weg zu dir und wird sich freuen, wenn er dich wiedersieht. 15 Rede mit ihm, und lege ihm die Worte in den Mund; ich selbst werde mit deinem und mit seinem Mund sein und euch lehren, was ihr tun sollt. 16 Er soll an deiner Stelle zum Volk sprechen, er wird dein Sprachrohr sein, und du sollst ihm gegenüber Gottes Stelle einnehmen. 17 Und den Stab da nimm in deine Hand; mit ihm wirst du die Wunder tun, die dich ausweisen.«

IV.

Liebe Gemeinde,
hier in diesem Raum mit den ausgestellten Kunstwerken sind Ihnen vielleicht ähnliche Bilder gekommen wie mir. Wir wollen sie einen kurzen Augenblick lang auf uns wirken lassen:

  • Der knorrige Stab in der Hand des Mose windet sich wie eine Schlange; Mose greift danach und hat fortan keinen knorrigen Stab mehr in der Hand, sondern einen Zauberstab – gewissermaßen einen Pinsel, der sich auf dem Papier elegant windet.
  • Und das Wasser aus dem Nil: Es wird auf dem trockenen Untergrund zu roter Farbe – zur blutroten Farbe, mit der die weitere Geschichte des Auszugs aus Ägypten gezeichnet wird: Wir denken an die erste Plage, bei der alles Wasser in Ägypten zu Blut wird, und an das Blut des Passalamms, das zum Schutz der erstgeborenen Kinder Israels an die Türpfosten gestrichen wird.

Einen Augenblick lang – und nur in diesen besonderen Räumen hier – wird aus der Berufung des Mose die Ausstattung eines Künstlers mit Pinsel und Farbe. Der an sich selbst zweifelnde Künstler – also Mose – soll zum ersten Pinselstrich einer neuen Geschichte befreit werden …

V.

Doch zurück zu den detaillierten Bildern unseres Predigtextes: Der Mose, der am Dornbusch zum Befreier Israels werden soll, ist auf den ersten Blick alles andere als eine ideale Rettergestalt. Er hat 80 Lebensjahre auf dem Buckel und trägt einen Hirtenstab. Mit dem Stab weidet er die Schafe seines Schwiegervaters und stützt wohl auch seinen greisen Körper regelmäßig damit ab.

In all den Lebensjahrzehnten war in diesem Mann die Gewissheit zementiert, dass er alles Mögliche war, nur kein brauchbarer Redner. Ob er stotterte, bestimmte Silben nicht aussprechen konnte oder ob ihm schlicht die Fähigkeit fehlte, Menschen zu überzeugen und mitreißend zu erzählen – das wird nicht berichtet. Aber ein Mann, der von sich selbst behauptet, dass sein Mund und seine Zunge unbeholfen und schwerfällig sind, ist als Botschafter in einer so heiklen Mission eine denkbar schlechte Wahl. Für den Auftritt beim Pharao scheint Mose nicht geeignet. Und er selbst macht deutlich, dass er aufgrund seiner Behinderung für diese Herausforderung nicht in Frage kommt.

VI.

Liebe Gemeinde,
nun hätte Gott warten können, bis jemand anders an seinem Dornbusch vorbeikommt. Aber dieser Mann, der fest überzeugt war, eine sprachliche Behinderung zu haben, zeigte in seinen Antworten ein bemerkenswertes sprachliches Geschick: Er war höflich, kannte die korrekte Anrede, gebrauchte komplizierte Sätze, flocht dichterische Elemente ein und gab klar zu erkennen, was er wollte und was nicht. Dieser greise Mann mit Hirtenstab und Hirtenmantel redete brillanter, als er glaubte. Seine eigene Einschätzung stand in einem krassen Missverhältnis zu seinen wirklichen Fähigkeiten.

Aber wie bekommt man nun einen solchen Menschen dazu, sich auf eine ungewohnte Herausforderung einzulassen? In unserem Predigttext aus dem 2. Buch Mose geht Gott stufenweise vor: Er knüpft bei dem an, was Mose dabei hat. Er verwandelt Moses Hirtenstab in einen Zauberstab. Er verleiht dessen Gewand die Macht, Moses Hand zu schädigen und wieder zu heilen. Und er gibt Mose die Kraft, aus Wasser Blut zu machen. Oder – um im Bild dieser Räume zu bleiben – Gott gibt Mose Pinsel und Farbe in die erneuerte Hand.

Das kann Mose beeindrucken, gewiss, aber noch nicht überzeugen. Seine jahrzehntelang erlittene Sprachbehinderung lässt es nicht zu, den Auftrag anzunehmen: »Bitte, HERR! Ich bin kein Mann, der zu reden versteht; ich bin es früher nicht gewesen und bin es auch jetzt nicht, da du zu deinem Diener redest. Sondern ich bin mit Mund und Zunge unbeholfen.« Fast scheint es so, dass Gott angesichts dieser Sturheit fassungslos wird. Und dabei gibt er Mose einen überraschenden Einblick in sein Handeln als Schöpfer. Er sagt: »Wer hat dem Menschen einen Mund gemacht, wer macht stumm oder taub oder sehend oder blind? Bin nicht ich es, der HERR?« D.h. Gott hat die Menschen zu seinem Ebenbild geschaffen. Selbst die stummen, tauben und blinden Menschen sind keine Montagsmodelle. Auch sie sind von Gottes Schöpfungshandeln umgriffen und darum vollgültige Ebenbilder Gottes.

Als ein solches Ebenbild kann sich Mose eigentlich nicht weigern, Gottes Auftrag anzunehmen. Und das erwartet Gott auch. Aber das jahrzehntealte Selbstbild der Behinderung ist stärker. Sogar Gottes Zusage, Mose die Schwerfälligkeit seiner Zunge zu nehmen und ihn höchstpersönlich auf die Aufgabe vorzubereiten, kann Mose nicht von seiner Ablehnung abbringen: »Herr, sende, wen immer du senden willst, nur nicht mich!«

VII.

Liebe Gemeinde,
Es ist deutlich: Gott hätte Mose den Auftrag trotz dessen Handicap zugetraut. Aber Mose kann auch durch die göttliche Überwindung des Handicaps nicht umgestimmt werden. Das macht Gott zuerst wütend. Aber dann beschreitet er geschickt einen neuen Weg: Die Ausstattung mit Pinselstab, erneuerter Hand und rotem Wasser macht den behinderten Mose noch nicht zu einem inspirierten Künstler, zu einem inspirierten Retter seines Volkes. Es muss das hinzukommen, was in der Arbeit mit Behinderten ›Assistenzbedarf‹ genannt wird. Ein Helfer also, der jemandem nach dessen Anweisungen zur Hand geht. (Pause)

Mose ist mit allerlei Zaubertricks ausgestattet. Er weiß jetzt, dass er trotz seiner Behinderung ein gleichrangiges Geschöpf Gottes ist. Aber das alles nimmt ihm noch nicht die Angst, stotternd vor den gottgleichen Pharao zu treten. Daher Gottes letztes Argument:

»Du hast doch noch einen Bruder, den Leviten Aaron! Ich weiß, der kann gut reden. (...) 15 Rede mit ihm, und lege ihm die Worte in den Mund; ich selbst werde mit deinem und mit seinem Mund sein und euch lehren, was ihr tun sollt. 16 Er soll an deiner Stelle zum Volk sprechen, er wird dein Sprachrohr sein, und du sollst ihm gegenüber Gottes Stelle einnehmen.«

VIII.

Liebe Gemeinde,
Menschen, die an ihren Begrenzungen leiden, brauchen einen Aaron. Einen vertrauten Menschen, der dabei hilft, die eigenen Unzulänglichkeiten in den Hintergrund treten zu lassen. Jemand, der mir an entscheidender Stelle einen Dienst erweist, mich dabei aber nicht entmündigt. Menschen, die an ihren Begrenzungen leiden, brauchen genau da, wo diese Grenze in den Blick kommt, jemand, der an ihrer Stelle über die Grenze geht. Jemand, der mich die Erfahrung machen lässt, dass mir auf der anderen Seite der Grenze Dinge möglich sind, ohne dass ich diese Grenze ganz überschreiten muss.

Und Menschen, die an ihren Begrenzungen leiden, brauchen Gott, der sowohl mit dem Mund des Stotterers als auch mit dem des sprachgewandten Assistenten ist. Ein Gott, »der in den Schwachen mächtig ist« (2. Kor 12,9), wie Paulus bei Christus gelernt hat.

Pinsel, rote Farbe, eine erneuerte Hand, die Zusage, Ebenbild Gottes zu sein, und ein Aaron an der Seite – das ist ein langer Weg, um aus dem behinderten Mose einen inspirierten Künstler zu machen. Ein langer Weg, aber ein lohnenswerter langer Weg, an dessen Ende nicht weniger steht als ein Retter seines Volkes. Amen.

Literatur:

Barbara Schenck, 12. Sonntag nach Trinitatis. Gottes Pädagogik der Inklusion. Eine Predigtmeditation zu Exodus 4,10-17

Infos zur Ausstellung in Herford

Marta Herford

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Ausstellungskatalog

Gehalten im Forum MARTa in Herford anlässlich der Ausstellung »Kunst trotz(t) Handicap« am 6.9.2015


Achim Detmers, Generalsekretär des Reformierten Bundes