Nicht so wichtig nehmen!

Predigt zu Matthäus 6, 25-34

© G. Rieger

Diese Rede Jesu ist eigentlich unlogisch und inakzeptabel. Und doch hat sie etwas Faszierendes und Gutes.

Liebe Gemeinde,

Zynismus ist etwas, das in einem Gottesdienst eher nichts zu suchen hat. Zynisch klingen aber die Worte aus der Bergpredigt, die uns heute beschäftigen sollen – vor allem der Anfang:

Darum sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen werdet, noch um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Schaut auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen - euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht mehr wert als sie? Wer von euch vermag durch Sorgen seiner Lebenszeit auch nur eine Elle hinzuzufügen?

Und was sorgt ihr euch um die Kleidung? Lernt von den Lilien auf dem Feld, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht, ich sage euch aber: Selbst Salomo in all seiner Pracht war nicht gekleidet wie eine von ihnen. Wenn Gott aber das Gras des Feldes, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, so kleidet, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen!

Sorgt euch also nicht und sagt nicht: Was werden wir essen? Oder: Was werden wir trinken? Oder: Was werden wir anziehen? Denn um all das kümmern sich die Heiden. Euer himmlischer Vater weiß nämlich, dass ihr das alles braucht. Trachtet vielmehr zuerst nach seinem Reich und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch das alles dazugegeben werden. Sorgt euch also nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last.

Sie ahnen wahrscheinlich, was ich am Anfang meinte mit dem Zynismus. Angesichts der Flüchtlingsströme hier in Europa, aber ja noch mehr dort im Nahen Osten oder in Afrika, ist so ein Text ein Schlag ins Gesicht. Im Libanon gibt es Flüchtlingslager mit hunderttausend Menschen. Wenn sich da keiner kümmern würde, organisieren und sammeln, dann wäre bald die Hölle los. Ich bin so froh, dass es Menschen gibt, die beruflich oder ehrenamtlich, sich diesen Aufgaben stellen. Manche schuften Tag und Nacht, weil eben nichts von selber geht, sondern all das getan werden muss. Und dann hier von der Kanzel schlau daher reden? Oder auch vom Berg, wie Jesus das getan hat?

Jetzt bald frieren auch wieder Menschen, die nicht auf der Flucht sind, sondern ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen oder auch keine Chancen haben oder einfach fertig sind mit der Welt. Dieser Text ist eine Provokation für alle, die Not leiden und für alle Engagierten und gut Organisierten und Hilfsbereiten.

Und natürlich fängt jede Predigt über diesen Text so an, dass es sich Jesus da aber ein bisschen einfach macht und dass es halt irgendwie so auch nicht gemeint ist, sondern … Punkt. Punkt Punkt. Im Moment ist es halt noch ein bisschen unpassender und unverständlicher als sonst. Auf die Situation passt es überhaupt nicht. Aber soll es das überhaupt? Ist dieser Text in eine Situation hinein gesprochen? Wir wissen so gut wie gar nichts über die Menschen, die auf dem Hügel am See Genezareth Jesus zugehört haben sollen. Ob dort solche waren, die arm dran waren? Oder doch eher ein paar Gutsituierte? Es herrschte kein Krieg aber eine gewisse Anspannung in Palästina. Schließlich war das Land besetzt.

Was ist das also für ein Text? Was für eine Rede? Für wen? Für was? Warum? In der wissenschaftlichen Textauslegung gilt ein Grundsatz, der im ersten Moment irritiert, dann aber logisch erscheint: Je ungewöhnlicher ein Text ist, desto wahrscheinlicher ist er echt. Wenn es für einen Text ein durchsichtiges Motiv gibt, also die Absicht, die dahinter steht, ganz klar ist, dann kann so ein Text auch im Nachhinein dazu gedichtet oder umgeschrieben sein. Weil ja auch die nachfolgenden Generationen gerne Geschichten gehört hätten, die ihre Meinung unterstützen. Den Evangelisten oder auch schon den Erzählern vor ihnen fehlte aber ja diese Intuition, diese Inspiriertheit, die Jesus zu eben dem gemacht hat, was er war. Sie waren schon eher wieder bemüht, sich die Welt und auch die biblische Botschaft gefällig zu machen – jedenfalls tendenziell.

Die Bergpredigt hat also – mehr als andere Texte – einen Anspruch darauf, dass sie wirklich so oder so ähnlich stattgefunden hat und die Worte annähernd so gesprochen worden sind. Eben weil die Aussagen so außergewöhnlich sind, können sie kaum später dazu gedichtet worden sein.

Nun kommt aber ein zweiter Filter, durch den die Bergpredigt musste. Denn wenn sie ungewöhnlich, spannend und provozierend war und deshalb wahr, dann ist ja die Frage: Warum wurde sie weiter erzählt und fiel nicht unter den Tisch – wie wahrscheinlich viele andere Begebenheiten und Worte Jesu? Sie müssen in ihrer Radikalität und Unbedarftheit auch schon immer etwas Faszinierendes gehabt haben.

Ich reite auf dieser Traditionsgeschichte des Textes (wie man das in der theologischen Wissenschaft nennt) deshalb herum, weil ich glaube, dass darin in gewisser Weise ein Schlüssel zu diesem Text zu finden ist. Sicher nicht der einzige, aber einer, den es sich vielleicht lohnt, sich einmal anzusehen. Zwei Grundbedürfnisse des Menschen sind es, die den Text durchziehen: Essen und Trinken zum einen und die Kleidung zum anderen. An diesen Beispielen wird die These aufgehängt, dass wir Menschen uns da gar nicht kümmern müssten, sondern Gott für uns sorgt. Als Beleg werden Szenen aus der Natur herangezogen: Vögel, die einfach fressen, was sie finden. Blumen, die schöner sind als alles, was Menschen erschaffen können. Das sollen unsere Vorbilder sein.

Würden die Menschen nicht säen und ernten und in Scheunen sammeln, dann wäre es wohl bald zu Ende mit uns. Und der Kleiderschrank des König Salomo muss man sich ja nun wirklich nicht zum Vorbild nehmen. Aber ganz ohne Kleidung? Stimmt, die Lilien tun nichts für ihre Schönheit. Aber würden wir Menschen nicht spinnen und nähen, würden wir wohl auch nicht viel älter als einen Sommer. Jesus sagt es ja selbst: Das Gras endet im Herbst im Ofen. Die Beispiele hinken nicht nur, sie sind genau betrachtet sogar ziemlich unsinnig.

Und trotzdem fasst Jesus am Ende dieser Rede noch einmal zusammen: Um all das kümmern sich die Heiden. Sorgt ihr euch aber nicht und sagt nicht: Was werden wir essen? Oder: Was werden wir trinken? Oder: Was werden wir anziehen?

Also: Die Rede passt auf kaum eine Situation. Sie trifft eigentlich immer die falschen. Und sie ist in sich unlogisch – in der Konsequenz sogar zerstörerisch. Lebensfeindlich. Wenn wir sie aber hören, die Bilder vor uns entstehen lassen, die Gelassenheit spüren, die daraus spricht … dann hat die Ansprache doch etwas Ansprechendes. Das ist das Faszinierende an diesem Abschnitt. Er gehört zu den bekanntesten und nicht selten zitierten Textstellen des Neuen Testaments. Er bringt irgendwie die Botschaft Jesu auf den Punkt. Wir wissen eigentlich nur nicht wie. An seiner bestechenden Logik kann es nicht liegen. Es ist irgendetwas Anderes, was diese Rede so aufrüttelnd und beruhigend, so provozierend und versöhnlich macht. Sie atmet einen Geist, der uns bewegt.

Ich kann mich also im Weiteren meiner Predigt nicht auf Textstellen fixieren, sondern will versuchen, uns das zu beschreiben, was zwischen den Zeilen, ja vielleicht sogar auf einer noch ganz anderen Ebene aus diesen Worten spricht: Ein Stichwort habe ich schon genannt, das es sicherlich trifft: die Gelassenheit. Aus Jesu Worten spricht ein tiefes Vertrauen darin, dass Dinge auch ohne unser Zutun funktionieren. Das klingt im ersten Moment banal, ist aber eine tiefe Lebensweisheit. Es geht nicht ohne uns, aber es geht nicht immer um uns. Wir sind ein Teil dieses Kosmos, in dem alles geregelt ist, und unser Sorgen und Tun sind nichts gegen das, für das schon gesorgt ist. In vielen Wortschleifen kann man das versuchen zu beschreiben, was der Text selber doch viel besser macht. Nicht jeder Satz für sich, aber das Gesamte vermittelt dieses Vertrauen in Gott und seine Fürsorge für uns.

Es wird auch deutlich – auch das mehr zwischen als in den Zeilen – dass das schwer auszuhalten ist. Es erfordert ein Loslassen, ein Abstandnehmen von Gewohntem. Wir ziehen ja einen guten Teil unseres Selbstvertrauens aus dem, was wir selber leisten. Das aber, heißt es, ist der falsche Weg. Nicht auf unsere Sorge sollen wir das Augenmerk legen, sondern auf Gottes Gerechtigkeit und auf sein Reich.

Dieser vermeintlich klare Satz führt uns direkt in die nächste Ratlosigkeit. Denn was ist Gottes Reich und was ist Gottes Gerechtigkeit? Sind das nicht theologische Leerstellen – große Begriffe, die uns überfordern? Was soll das denn konkret heißen: nach Gottes Reich und nach seiner Gerechtigkeit trachten?

Es ist auch mit diesem Satz wie mit dem Rest des Textes. Er erschließt sich nicht logisch, sondern gibt uns Gelegenheit zum Nachdenken: Was könnte das Reich Gottes denn sein? Ist das wirklich eine Frage, die man nur an der Universität diskutieren kann? Es gibt da hochtrabende Abhandlungen – keine Frage. Aber was konnte Jesus denn bei seinen Zuhörenden erwarten, was sie sich darunter vorstellen? Die hatten ja nun nicht evangelische Theologie studiert und über die reformatorische Heilslehre promoviert. Sie hatten nur ihren gesunden Menschenverstand mit an den Hügel gebracht, wo Jesus zu ihnen sprach. Nun hat er zu dem Zeitpunkt ja schon Einiges erzählt – die Seligpreisungen, das mit dem Salz der Erde und Licht der Welt, vom neuen Verständnis der Gebote und der Vergebung und Feindesliebe. Und das Vater Unser hatte er ihnen vorgebetet – inklusive der Bitte: Dein Reich komme.

Ich glaube doch, dass die Menschen damals und dass wir heute eine Vorstellung von Gottes Reich bekommen können. Wenn wir uns auf ein Zuhören und Lesen einlassen, das sich vom bloßen Buchstaben trennt und das Ganze auf sich wirken lässt. Jesus entwickelt Bilder über Bilder von diesem Reich, indem er von Gott spricht und die Menschen zum Vertrauen auf Gott einlädt. Das Reich Gottes stelle ich mir von daher als einen Zustand vor, in dem alle Menschen im Vertrauen auf Gott leben. Selbst wenn Sie es anders nennen würden und sich ihn gar nicht als Vater oder Mutter oder was auch immer vorstellen können – dass sie eben doch im Vertrauen leben, dass für sie gesorgt ist.

Und da sind wir dann auch schon wieder bei der Rede über das Sorgen: Diese Rede über die Vögel im Himmel und die Blumen auf dem Feld sind ein Versuch, mit dem Jesus wie mit vielen anderen Bildern und Gleichnissen klar machen will, was Glauben heißt.

Er will die Menschen davon abbringen, sich selbst zu wichtig zu nehmen. Weil er sieht, was wir heute überall und ständig auch sehen, dass Menschen, die sich selbst zu wichtig nehmen – selbst wenn sie das Beste tun – der Welt keinen Gefallen tun. Das Buhlen um Anerkennung bringt uns ab von dem Weg, was das Reich Gottes sein könnte. Und wir schaden uns auch selbst, verschwenden Zeit und Mühe auf Konkurrenz und Scharmützel. Wir verhalten uns, als könnten wir uns einen Platz wo immer auch erarbeiten. Manche verhalten sich gar, als wären sie Götter und müssten die Welt neu erschaffen.

Gegen all diesen Größenwahn, den es auch im kleinen Stil gibt, ja in uns allen irgendwie – gegen diese Selbstüberschätzung setzt Jesus das Bild von den Grashalmen, die so wunderschön sind und doch verwelken (oder sogar verheizt werden). Das Vertrauen auf Gott soll uns nicht sorglos machen, sondern uns von der Vorstellung befreien, wir könnten mit unserer Sorge die Welt retten. Wir sollen uns an Gottes Gerechtigkeit orientieren – also selbst gerecht handeln – aber doch nicht glauben, unsere Regeln wären die Lösung für alle Probleme.

Liebe Gemeinde, ich finde, das ist auch ein Text gegen das Missverständnis des Glaubens als eine Ideologie, mit der wir uns gegenseitig in Verhaltensregeln und angeblich unumstößliche Wahrheiten pressen. Der Glaube ist etwas, das befreit. Vertrauen macht uns mutig. Uns von Gott umsorgt zu wissen, macht uns selbst hilfsbereit. Da sollen uns doch die besorgten Bürger und Besserwisser als Gutmenschen und Naivlinge beschimpfen. Wir wissen, dass Gutes zu  tun keine Schwäche ist. Der Glaube macht uns stark, uns aufregenden Situationen auszusetzen, Fremden zu begegnen und für andere Lebensweisen offen zu sein.

In diesen Tagen hat man manchmal das Gefühl, dass das Menschsein noch einmal neu erfunden werden muss. Auf der einen Seite die unfassbare Respektlosigkeit, die aus den Pöbeleien spricht. Auf der anderen Seite jetzt die Aufregung und der Hype, der um so etwas Selbstverständliches wie Gastfreundschaft gemacht wird und der schon fast wieder beschämend ist. Aber es ist eben ein schmaler Grat, der auch in Jesu Rede über das Sorgen beschrieben wird: wir sollen nach Gottes Gerechtigkeit trachten und haben damit natürlich unsere Mühe und Sorge. Und doch sollen wir nicht sorgen, in dem Sinn, dass wir uns zu wichtig nehmen.

Der schmale Grat ist für jeden Menschen anders, der ihn begeht. Der Text, den wir heute als Predigttext hatten, besticht nicht durch seine Logik und Klarheit, sondern dadurch, dass er diesen Raum lässt. Obwohl wir die einzelnen Sätze nicht verstehen oder nicht gelten lassen können, wissen wir doch genau, was Jesus von uns will – jede und jeder von uns.

Wir bekommen von diesem Abschnitt der Bergpredigt etwas mit auf den Weg für die Wochen und Monate, die vor uns liegen – und für unser ganzes restliches Leben. Und wenn wir es bis dahin nicht verstanden haben, dann werden wir es am letzten Tag unseres Lebens verstehen: Sorgt euch also nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Last.

Amen.


Georg Rieger