Flucht, Exil, Entfremdung - Die Kirche ist angesprochen

Michael Weinrich: „Eine Kirche, die sich nicht von den bei uns ankommenden Flüchtlingen unmittelbar angesprochen findet, verfehlt ihre Berufung und Sendung.“

Prof. Dr. Michael Weinrich, Paderborn

ref-info-Interview mit Prof Dr. Michael Weinrich

Das Moderamen des Reformierten Bundes hat heute (2. Mai 2016) „Impulse für eine theologische Vergewisserung“ zum Thema Flucht und Exil veröffentlicht. Der Text der Vergewisserung ist maßgeblich von Prof. Dr. Michael Weinrich verfasst. Mit ihm sprach ref-info Redakteurin Barbara Schenck.

reformiert-info: Die Flüchtenden erinnern die Kirche in besonders unausweichlicher Form an die für sie essenzielle Bedeutung ihrer Fremdlingschaft in einer Welt jenseits von Eden.“ – So heißt es in dem Impuls „Flucht und Exil“ des Moderamens des Reformierten Bundes, dessen maßgeblicher Autor du bist.
Ein bestimmtes historisches Ereignis wird für die Theologie zu einer besonderen Herausforderung, das erinnert an die Dialektische Theologie „Zwischen den Zeiten“, eine „Theologie nach Auschwitz“, den Ausruf des status confessionis.
Wie verortest du die „theologische Vergewisserung“ angesichts der aktuellen Migration?

Michael Weinrich: Im Unterschied zu „Zwischen den Zeiten“, Juden und Christen und „status confessionis“ (1982), wo jeweils bestimmte konsequente Verabschiedungen zur Debatte standen, die –nebenbei bemerkt – alle bis heute noch nicht ganz „abgearbeitet“ sind (s. Rolf Wischnath, Bekennen), geht es in diesem Votum „Flucht und Exil“ um eine entschiedene Bekräftigung des von keiner Kirche in Frage gestellten Engagements für die Schutzsuchenden aus den lebensbedrohlichen Krisenregionen. Wir leben im Blick auf diese Frage nicht in einer Situation, in der ein reformiertes Vorpreschen gefordert oder auch nur wünschenswert ist, sondern wir sehen alle Kirchen um uns herum fraglos für die Flüchtlinge engagiert.

Ökumenischer Konsens

Es gibt Themen, bei denen die gewonnene Klarheit zu Scheidungen führen muss, aber es gibt auch Themen, deren Klarheit auf ein weiteres Zusammenrücken der Kirchen in ihrem kritischen Verhältnis zur nichtkirchlichen Umwelt drängt. Ein solches letzteres Thema ist „Flucht und Exil“. Die Intention ist also, den bereits bestehenden, wenn auch noch nicht ausdrücklich festgestellten ökumenischen Konsens öffentlich zu unterstreichen und dabei aus der eigenen Perspektive die nötige theologische Tiefe auszuloten, damit dieses Engagement belastbar und zukunftsfähig im Auge gehalten wird.

Wir haben es nicht mit einer schnell zu überwindenden Krise zu tun, sondern mit einer anhaltenden Problemkonstellation, die uns noch lange beschäftigen wird und die auch zu grundsätzlichen Nachjustierungen in beinahe allen gesellschaftlichen Bereichen führen muss. Sie kann auch dann nicht als überwunden gelten, wenn sich die Zahl der zu uns kommenden Flüchtenden längerfristig verringern sollte. Es wird entschieden auf eine nüchterne Wahrnehmung der komplexen Gesamtsituation und einen ebenso langen wie entschlossenen Atem ankommen. Dem aus verschiedenen Quellen genährten Ansteigen des Pegels des auch von unserer Lebensweise mitverursachten Elends haben wir ja lange weithin tatenlos zugesehen, und jetzt, wo das Fass überläuft und wir selbst betroffen sind, können wir vor der Bedrängnis nicht weiter die Augen verschließen.  

Ja, „Wir schaffen das“, aber eben nicht so nebenbei und ohne ausdrückliche Aufmerksamkeit. Für die Kirchen kann es nicht zur Debatte stehen, dieser Frage dann auch wieder den Rücken zuzukehren, wenn die Gesellschaft dieser Thematik möglicherweise einmal überdrüssig wird, was ja partiell bereits jetzt der Fall ist. Deshalb ist es so wichtig, darauf hinzuweisen bzw. deutlich zu unterstreichen, dass sich die Kirche als Kirche selbst verfehlen würde, wenn sie in ihrer Achtsamkeit und Entschlossenheit gegenüber diesen lebensbedrohlich bedrängten Menschen nachlassen würde.

Den Hilflosen Gehör verschaffen

Die Kirche ist keine Agentur zur Pflege allgemeiner humanitärer Werte, die mal in diese und mal in jene Beleuchtung geraten und dann entsprechend uminterpretiert werden, sondern sie hat eine besondere Berufung und Sendung, unbeirrbar die Stimmen der Hilflosen und Ausgegrenzten zu vernehmen und ihnen in der Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Und diese Berufung hat etwas mit ihrer eigenen Situation in dieser Welt zu tun, in der ihr die Nähe und Beziehung zu Gott tunlichst bedeutungsvoller sein sollte als die möglichst restlose Eingemeindung in ihren jeweiligen Kontext. Unsere Zuwendungsbereitschaft darf nicht von utilitaristischen Hochrechnungen über den Nutzen der Flüchtlinge für den Arbeitsmarkt oder sonstige Gewinnprognosen gesteuert werden, denn niemand kann die weiteren Entwicklungen verlässlich voraussagen.

Menschen zu einer Perspektive in unserer Gesellschaft verhelfen

Gewiss aber scheint mir zu sein, dass, wenn wir jetzt nicht tatsächlich diesen Menschen zu einer Perspektive in unserer Gesellschaft verhelfen, uns die Folgeprobleme auf die Füße fallen werden. Nicht nur den Flüchtlingen wird dann nicht wirklich geholfen, sondern es wird auch zu weiteren Erosionen in unserer Zivilgesellschaft kommen. Es wäre – wie gesagt –  nicht das erste Mal, dass wir sehenden Auges die anwachsenden Problemen ihrer freien Entfaltung überlassen, so als könne schon das um sie gewahrte Stillschweigen die Dramatik ihrer Entwicklung hemmen. Ich sehe durchaus auch das Potential einer Bereicherung unserer Gesellschaft durch die Flüchtenden, aber unsere Konzentration darf sich nicht auf das konzentrieren, was wir möglicherweise von den Flüchtlingen haben, sondern sie müssen als entwurzelte Menschen bei uns aufgenommen werden. In jedem Falle werden auf unmittelbar absehbare Zeit die zu lösenden Probleme deutlich größer sein als die zu erwartende Bereicherung.

Menschlichkeit als entscheidendes Kriterium für Sachlichkeit

Die Kernaussagen des „Impulses“ in Kürze:

Michael Weinrich:

  1. Eine Kirche, die sich nicht von den bei uns ankommenden Flüchtlingen unmittelbar angesprochen findet, verfehlt ihre Berufung und Sendung. Das scheint mir eine in der Ökumene weithin geteilte Einsicht zu sein, die es zu bekräftigen gilt.
  2. Die Kirche muss sich immer wieder daran erinnern lassen, dass sie von der Hoffnung auf das Reich Gottes in einer Welt jenseits von Eden lebt, so dass sie immer auch eine bewusste Distanz zu den in unserer Welt herrschenden Gepflogenheiten zu wahren hat, in der sie eine klare Positionierung auch dann nicht scheuen darf, wenn sie ihr Konflikte mit den Mehrheitsmeinungen und ihren gesellschaftlichen Trägern einbringt.
  3. Es geht um die hier ankommenden Menschen, und deshalb muss die Menschlichkeit das entscheidende Kriterium für die Sachlichkeit unserer Entscheidungen sein.
  4. Die zuerst den Flüchtenden geltende Verantwortung schließt auch eine ernst zu nehmende Verantwortung der eigenen Gesellschaft gegenüber ein. Minimalistische Lösungen können hier mit erheblichen Folgeproblemen einhergehen.
  5. Gerade die reformierte Tradition ist in besonderer Weise durch eigene Erfahrungen von dem Thema „Flucht und Exil“ geprägt, an die wir uns heute produktiv erinnern sollten.
  6. Da mit schnellen Erfolgen kaum zu rechnen sein wird, gilt es, sich auf die Notwendigkeit eines langen Atems einzustellen.   

Beim Stichwort „Flüchtling sein“ denken biblisch geschulte vermutlich zuerst an Sätze wie diesen „Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht quälen, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.“ (2. Mose 22,20). Du beziehst dich in deinem Nachdenken zu Flucht und dem „Exil der Kirche“ auf die Vertreibung aus dem Paradies.

Michael Weinrich: Zu sehen, was der Fall ist, heißt in theologischer Perspektive immer auch zu sehen, dass es so, wie es ist, nicht sein soll. Der Spiegel des Paradieses zeigt uns, dass Gott die Welt nicht so geschaffen hat und so eben auch nicht will, wie wir sie jetzt erleben und auch erleiden, sondern in unseren Lebensumständen zeigt sich immer auch unsere Entfremdung von Gott und seinem Schöpfungswillen. Es geht also nicht nur um die Fremdlingschaft der Fremden, sondern auch um die eigene Fremdlingschaft, in einer Welt, in der sich kaum ein Mensch von einer zumindest indirekten Beteiligung an einem der zahlreichen babylonischen Turmbauten einfach freisprechen kann. Gerade die Reformatoren und insbesondere Johannes Calvin haben immer wieder auf diese Spannung des Glaubens zu den Bedingungen der weltlichen Existenz hingewiesen, um zugleich die Christen in ganz besonderer Weise gerade in diese Welt hineinzustellen. Nur in dem Wissen, dass Gott den Menschen in Christus aus dieser wahrhaft babylonischen Gefangenschaft freigesprochen hat, kann das ganze Ausmaß der Entfremdung von Gott in den Blick kommen. Es ist diese geschenkte Freiheit, in der die ganze Reichweite der Gefangenschaft und des Exils erkennbar wird.  

Hoffnung als Lebenselixier

Und die Hoffnung auf das Reich Gottes verhindert gleichsam als Lebenselixier, dass wir uns einfach in all den Eigenwilligkeiten mittreiben lassen, denn sie lässt die Spannungen zwischen dem, was der Fall ist, und dem Willen Gottes im konkreten Leben erkennbar werden. Ich kann das jetzt nur sehr kurz andeuten. Es geht um das konsequente Wahrnehmen der auch im Exil nicht erlöschenden Hoffnung, die uns auf die Füße stellt, damit wir sie in die ihr entsprechende Richtung lenken.  

Was wäre aus deiner Sicht eine gute Wirkung der theologischen Vergewisserung?

Michael Weinrich: Theologische Vergewisserung kann immer nur ein Hilfsmittel sein. Dieses Hilfsmittel begründet nicht den Glauben oder produziert ihn gar, sondern setzt diesen voraus und dient seiner Selbstvergewisserung, weil dieser die Neigung hat, sich zu zerstreuen oder sich in problematischer Weise zu verfestigen. Da sich die Umstände, denen sich der Glaube und das christliche Bekenntnis ausgesetzt finden, ständig ändern, muss eben auch diese Selbstvergewisserung des Glaubens permanent neu vollzogen werden. Die Selbsttreue Gottes besteht nicht in einer starren und unveränderlichen Selbstdefinition, sondern in der verlässlichen Lebendigkeit seiner Zugewandtheit, wie sie uns in Christus vor Augen steht, der ja der Auferstandene und zur Rechte Gottes Sitzende und eben nicht nur eine Figur der Vergangenheit ist.

Der Glaube muss sich immer wieder neu verstehen

Um möglichst verlässlich am gleichen Glauben festhalten zu können, muss er sich in jeder Situation immer wieder neu verstehen. Wer nur schlicht immer das Gleiche sagt, sagt im Laufe der Zeit beständig etwas anderes. Jetzt geht es angesichts des Elends der zu uns kommenden Flüchtenden um die Wiederentdeckung des besonderen theologischen Potentials von „Flucht und Exil“ im biblischen Zeugnis und der Tradition der Kirche, nicht um nun alte Antworten einfach zu wiederholen, sondern um für unsere heute zu gebende Antwort eine Hilfestellung zu bekommen.

Und für dich persönlich? Was heißt Flucht und Exil für dich? Wo kommst du im Alltag in Berührung mit Geflüchteten? Was verändert sich in deinem Leben, inwiefern wird es bereichert?

Michael Weinrich: Erschrocken bin ich zunächst von all der Ahnungslosigkeit und Selbstverschlossenheit, in der sich unser Leben in der Regel in unserer Wohlstandsgesellschaft vollzieht. Was wissen wir schon wirklich, was in den Ländern passiert, aus denen nun die Menschen zu uns kommen? Auch der kurzatmige Aktualismus, von denen unsere meinungsbilden Medien leben, ist mir noch einmal ganz neu einem Problem geworden.

Redliche Wirklichkeitswahrnehmung ist gefragt

Zwar agieren wir global, aber unsere Wahrnehmungen sind häufig nur im negativen Sinn des Wortes „global“, eben undifferenziert und gleichmacherisch. Mir ist die Pflicht zu möglichst verlässlicher Informationsbeschaffung noch einmal ganz neu zu Bewusstsein gekommen. Das ist kein akademisches Anliegen, sondern eine Frage einer möglichst redlichen Wirklichkeitswahrnehmung. Und zugleich kommt in unser meist doch recht leichtfüßigen christlichen Existenz wieder deutlicher zum Vorschein, wie groß doch auch die Reichweite unseres Glauben gerade im Blick auf die Bedrängnisse ist, von denen unser Leben umgeben ist und die wir eben immer nur zeitweilig verdrängen können.

Leben in kritischer Wendezeit

In vieler Hinsicht scheinen wir in einer kritischen Wendezeit zu leben und es hat wenig den Anschein, dass dies von den verantwortlichen EntscheidungsträgerInnen ausreichend wahrgenommen wird. Durch die Flüchtlinge wird mir unausweichlich deutlich, wie unmöglich und brandgefährlich es ist, die Energie vorrangig nur darein zu stecken, das eigene Haus möglichst sauber zu halten.  – Ansonsten kümmern wir uns, d.h. insbesondere meine Frau, in Paderborn ein wenig um eine syrische Familie mit drei Kindern, was immer wieder mit sehr unterschiedlichen Überraschungen verbunden ist. Da erfahren wir auch bei den Behörden durchaus sehr viel Gutwilligkeit, stoßen aber auch immer wieder auf strukturelle Blockierungen, denen nach wie vor zu wenig veränderungswillige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Das aber ist dann ein eigenes Thema.

Vielen Dank für das Gespräch!

30. April 2016

Impulse für eine theologische Vergewisserung - veröffentlicht vom Moderamen des Reformierten Bundes

Flüchtenden und Zuflucht Suchenden zu helfen gehört zum Wesen der evangelisch-reformierten Kirchen, das hat Ende April der Reformierte Bund in einem theologischen Impuls zu „Flucht und Exil“ erklärt. Für die Kirche stehe mit der Herausforderung, die Verantwortung den Flüchtenden gegenüber wahrzunehmen, ihr „eigenes Kirchesein auf dem Spiel“. Der Text im Wortlaut:
Flucht und Exil. Impulse für eine theologische Vergewisserung (April 2016).pdf
 

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