Neu anfangen - Gedanken zu den „Anfängen“ am 3. Oktober 2016

von Klaus Müller, Karlsruhe


Foto: Kiefer, Darmstadt; CC BY-SA 2.0

Jedem Anfang wohnt – nicht nur wie Hermann Hesse dichtet - ein „Zauber“ inne, sondern auch ein gut Stück Identität. Wie ich etwas „anfange“, sagt viel über mich selbst. Das gilt auch für Religionen und auch für ein staatliches Gemeinwesen.

Im Anfang steckt viel Wegweisendes, in principio – so der Anfang der Bibel in Latein – viel Prinzipielles. Im Anfang zeigt sich schon viel vom Sinn, vom Woher und Wohin eines langen Weges. 

In diesen Tagen begegnen wir einer Koinzidenz, die zu denken gibt: Der jüdische Jahresanfang fällt zusammen mit dem islamischen und beide wiederum mit dem deutschen Nationalfeiertag. Das ist äußerst selten und in diesem Jahr etwas ganz Besonderes. Herausforderung genug für die Suche nach möglicherweise sinnvollen Bezügen zwischen Identitätsstiftendem in den Religionen und den Prinzipien bundesdeutscher Staatlichkeit. Dabei geht es nicht um 1:1 Abbildbares zwischen Religion und Staat, sondern im besten Fall um Hilfreiches für die ein oder andere Kurskorrektur in schwierigen Zeiten auf holprigem Terrain.

Die jüdische Tradition zählt vom Zeitpunkt der Schöpfung an bis heute 5777 Jahre. In übertragener Bedeutung, gewiss. Die Dimension „Schöpfung“ jedenfalls ist eine prinzipielle Größe und will alles Tun und Lassen in dieser Welt mit prägen. Der universale Schöpfungsgedanke ist bei der jüdischen Neujahrsfeier bis heute ein entscheidender. Anders in der Antike die Römer; sie zählten die Jahre ab urbe condita – von der Gründung der Stadt, ihrer Stadt an und fragten nach den Regierungsdaten der politisch Mächtigen. Im Anfangen schon spricht sich viel vom jeweiligen Selbstverständnis aus – einer Religion und eben auch eines politischen Gemeinwesens.

Just am Vorabend des 3. Oktober begehen wie die Juden auch die Muslime ihr Neujahrsfest. Es ist dieselbe schmale Mondsichel, die Juden und Muslimen das neue Jahr ansagt. Im Islam nun bezogen auf ein berühmtes Datum in der Geschichte des Propheten: Muhammed zieht im Jahr 622 mit allen, die zu ihm gehören, von Mekka nach Medina, um sich dort religiös, politisch, gesellschaftlich neu zu konstituieren. Die Hidschra wird sozusagen zum Gründungsgeschehen des Islam. Im Ursprungsnarrativ der islamischen Religion steckt der Gedanke an Migration, Weggehen, an Flucht und Suche nach dem Neubeginn. Auch hier gilt: Im Anfangen liegt viel Prinzipielles beschlossen. Die Erinnerung an das Weichenmüssen macht im gelingenden Fall sensibel und solidarisch mit allen, die alles aufgeben und verlassen mussten.

Und jener 3. Oktober 1990? Kein Jahresanfang, aber doch Anfang einer politischen Größe, die wir alle miteinander zu gestalten, zu prägen und zu verantworten haben. Eine demokratische pluralistische Gesellschaft ruft gewiss nicht nach direkten Direktiven aus den etablierten Religionsgemeinschaften. Aber sie tut gut daran, die Religionen in ihren Ursprungsgeschichten wahr- und in ihr politisches Gründungsnarrativ mit aufzunehmen. Von Anfang an – und ab 1989/90 erst recht – heißt von Deutschland zu erzählen auch vom Judentum, vom Islam und von den christlichen Kirchen zu erzählen. Das ist eine spannende Geschichte. Und beileibe keine konfliktfreie.

Das Übereinanderliegen der Termine in diesem Jahr erinnert daran, dass zusammenkommen soll, was zusammengehört. Dabei ist zu wünschen, dass die Religionen ihre Erzählungen vom Ursprung kritisch mit einbringen in die Geschichte von Staat und Gesellschaft. Mit der Erinnerung an jene zwei Prinzipien aus den Anfangserzählungen der Religionen wäre unserem Staat und unserer Gesellschaft in diesen Tagen schon sehr gedient: mit dem Weitblick auf die verletzliche Schöpfung und dem sensibel-solidarischen Erinnern an Menschen auf der Flucht aus Lebensbedrohung. Die Töne des Widderhorns – es sind allemal Töne, die zur Umkehr rufen - in den Synagogen des Neujahrstages am 3. Oktober mögen Resonanz finden auch in der Frage, wie die deutsche Gesellschaft nach ihren Neuanfängen im Herbst 1989 ihren Weg der Einheit weiter gehen will.

Und die Kirche? Wir sind Teil einer solchen Wegfindung. Im politischen Gemeinwesen ebenso wie im Raum der Religionen. Es steht uns gut an, in unseren Gottesdiensten am Erntedankfest am Vortag des 3. Oktober auch zu danken für Frieden, Demokratie und Pluralität in unserem Land. Und für Reichtum und Vielfalt religiösen Lebens unter uns. Dem Erntedanktag folgt in diesem Jahr schlicht kalendarisch eben jener Feiertag in dreifacher Version: die Feier des Anfangs, des Neuanfangs und der Neuorientierung. Jetzt müssen wir eigentlich nur noch – anfangen.

Pfarrer Dr. Klaus Müller
Bereichsleitung Interreligiöses Gespräch
Landeskirchlicher Beauftragter für das christlich-jüdische Gespräch
Referat Diakonie, Migration, Interreligiöses Gespräch
Evangelische Landeskirche in Baden