Vox populi vox dei

Mittwochs-Kolumne - Paul Oppenheim


Die Stimme des Volkes ist immer für eine Überraschung gut. Ja/Nein-Abstimmungen sind aber auch ein beliebter Tummelplatz für Populisten und werden komplexen Frage nicht gerecht.

Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos erhielt in diesem Jahr den Friedensnobelpreis für „seine entschlossenen Anstrengungen, den mehr als 50 Jahre andauernden Bürgerkrieg in dem Land zu beenden.“ Trotzdem hat sich das kolumbianische Volk bzw. die 50,2% der 38 Prozent, die gewählt haben, gegen den Friedensvertrag zwischen der Regierung und den FARC-Rebellen ausgesprochen.

Das britische Volk bzw. 51,9% der 72,2 Prozent, die zur Wahl gegangen sind, haben für den Austritt Großbritanniens aus der EU gestimmt.

Das ungarische Volk bzw. 98% der 43 Prozent, die abgestimmt haben, haben sich dagegen ausgesprochen, dass die Europäische Kommission Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen festsetzen darf.

Im schweizerischen Kanton Tessin haben 65,4% der 46 Prozent, die ihre Stimme abgegeben haben, dafür gestimmt, dass ein Vermummungsverbot (Burka und Nikab) in die Verfassung der Schweiz aufgenommen wird.

Das Fazit aus diesen Beispielen könnte lauten, dass die Stimme des Volkes immer für eine Überraschung gut ist. Fürsprechern der direkten Demokratie sollte das zu denken geben. Eine Abstimmung mit Ja oder Nein wird komplizierten Sachverhalten nicht gerecht. Das Referendum ist schon immer ein beliebter Tummelplatz für Populisten gewesen, die auf komplizierte Fragen allzu einfache Antworten geben. Es ist daher kein Zufall, dass ausgerechnet die AfD in ihrem Parteiprogramm Volksabstimmungen zu politischen Einzelthemen fordert. Auch in der Nazizeit wurden zwischen 1933 und 1938 vier Referenden durchgeführt. Jedes Mal haben sie die Politik Adolf Hitlers massiv unterstützt.

Das sprichwörtliche Vox populi, vox dei (Volkes Stimme ist Gottes Stimme) ist irreführend und steht im Widerspruch zur Bibel, die „das Volk“ immer wieder als wankelmütig und leicht verführbar beschreibt. Denken wir an das Volk Israel in der Wüste, das sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurücksehnt und das goldene Kalb verehrt. Denken wir an das Volk, das sich von Gott abwendet und sich einen starken König wünscht. Denken wir an das Volk, das Jesus beim Einzug in Jerusalem wie einen Retter bejubelt und später ruft: „Kreuziget ihn“.

Meistens –so lehrt die Bibel- ist des Volkes Stimme eine Stimme, die sich gegen Gott erhebt. Komplizierte Wahlverfahren und raffinierte Varianten repräsentativer Demokratie sollen das Volk vor Demagogen, Populisten und Agitatoren aller Art schützen.

So gehört zu einer modernen Demokratie das Aushalten von Gegensätzen, die Aushandeln und Akzeptieren von Kompromissen, der Respekt der Minderheiten und die Anerkennung gesellschaftlicher Vielfalt. Die Lösung komplexer Fragen erfolgt im Hören auf die Meinung anderer und vollzieht sich in oft langwierigen Prozessen. Dafür sind Ja-Nein-Abstimmungen vollkommen ungeeignet.

Paul Oppenheim