II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe

Magdalene L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe

I. Angabe: Die Rückkehr der milden Gabe
II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe
1. Der Geist (in) der Gabe und die freiwillige Verpflichtung zum Geben, Nehmen und Erwidern – Marcel Mauss' Lösung des Rätsels der Gabe 
2. Die Ambivalenz der (milden) Gabe. Zur gegenwärtigen Spendenpraxis
3. Die Gabe, die keine ist – J. Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe
4. Vom Geben, das in der Gabe nicht aufgeht - B. Waldenfels' Phänomenologie von Geben und Nehmen
III. Vorgabe, Weitergabe und Rückgabe: Das paulinische Kollektenprojekt
1. "Wir teilen euch die charis Gottes mit ..." - oder: Grazie, der Inbegriff göttlichen und menschlichen Gebens
2. "... auf dass Gleichheit entstehe!" - oder: die Kollekte als diakonia
3. "... und sie sehnen sich nach euch!" - oder: die Kollekte als koinonia
4. "... auch Überfluß für Gott!" - oder: die Kollekte als leitourgia
IV. Zugabe: Geben, was man nicht hat

II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe

4. Vom Geben, das in der Gabe nicht aufgeht – B. Waldenfels' Phänomenologie von Geben und Nehmen

Während Maurice Godelier nicht viel mehr als ein verständnisloses Kopfschütteln in Gestalt einer einzigen Anmerkung am Ende seines Buches für die ihn absurd anmutende Dekonstruktion der Gabe durch J. Derrida übrig hat[1], berührt sich Bernhard Waldenfels' Mauss-Lektüre in mancher Hinsicht mit der von J. Derrida, so dass jener seine Phänomenologie des Gebens und Nehmens[2] in einem zweiten Schritt im Gespräch mit J. Derridas "Falschgeld" fortschreibt[3].

Das Schlüsselwort der Philosophie von B. Waldenfels lautet "Responsivität" bzw. "responsive Rationalität".[4] Er ergreift damit gegenüber einer philosophischen Tradition, die sich der Frage verpflichtet weiß und ihren Einsatz beim Fragen nimmt, Partei für das Antworten. Die Radikalität philosophischen Fragens wendet Waldenfels auf den Primat der Frage selbst zurück, gegenüber dem die Antwort bisher nur das Nachsehen hatte: "Es könnte sein, daß die Frage erst dann sie selbst ist, wenn sie von einem anderen her gedacht wird – als Anspruch, der uns in Frage stellt und auf den zu antworten ist" (186). Dann aber steht nicht immer schon fest, was Antworten heißt, dann ist Antworten mehr und anderes als Geben dessen, was man schon hat und weiß. Antworten kommt in den Blick "als die Art und Weise, wie wir auf das Fremde eingehen, ohne es durch Aneignung aufzuheben"(14). Die Philosophie der responsiven Rationalität wird zu einer Phänomenologie des Fremden.[5] Im "Antwortregister" unternimmt Waldenfels den Versuch, "das, worauf wir antworten, zu umkreisen, ohne es selbst in etwas zu verwandeln, das sich beantworten läßt" (15). Damit deutet sich eine (sprachliche) Verdoppelung der Antwort an, die auch umgangssprachlich in einer Wendung wie "Keine Antwort ist auch eine Antwort" vorliegt: Es wird unterschieden zwischen dem Antwortgehalt, also dem weitergegebenen vorhandenen Wissen, das dem Fragegehalt entspricht, und dem Antworten, das auf einen fremden Anspruch eingeht: "Das Geben einer Antwort geht nicht auf in der gegebenen Antwort" (191), wie das Sagen überschüssig gegenüber dem Gesagten ist. Folglich ist es kein Zufall, dass Waldenfels vornehmlich vom Geben statt von der Gabe redet. In dieser Bevorzugung des verbalen gegenüber dem nominalen Sprachgebrauch deutet sich, so meine These, die eigentliche Pointe seiner Überlegungen und – bei aller Nähe zu Derrida – eine vermittelnde Position zwischen M. Mauss' Identifikation von Gabe und Tausch und J. Derridas Dekonstruktion der Gabe als Tausch an.

Waldenfels' Ausführungen zur Gabe nehmen ihren Ausgang vom Geben einer Antwort, wobei zunächst an eine sprachliche Antwort gedacht ist; doch die Wahrnehmung der Responsivität bleibt nicht auf den sprachlichen Bereich beschränkt, sondern überschreitet ihn auf ein antwortendes Handeln und ein leibliches Responsorium hin. Vielfältige Phänomene des Gebens und Nehmens werden im Antwortregister unter den Dimensionen der Antwort eingetragen. Es ist die beschriebene Antwortlogik, die bei dieser Registrierung ein einheitliches Gabe-System, etwa in Gestalt einer geschlossenen Tauschordnung der Gabe, unmöglich macht. Wo das Geben vom Antwortgeben her und damit selbst als Antworten auf fremde Ansprüche verstanden wird, ist immer eine irgendwie geartete Vorgabe im Spiel: "Ant-wort als ein Wort, das anderswo beginnt, ist ohne ein Moment der Vor-gabe nicht zu denken."[6] Waldenfels' Sichtung des sprachlichen und außersprachlichen Gebefeldes (nicht Gabefeldes!) ist von der Vermutung getragen, "daß das Außen eines Gebens, das weder bei sich beginnt noch bei sich endet, sich im Ereignis des Gebens indirekt anzeigt und ausspricht"[7]. Sie wird von vornherein von der Frage begleitet, "ob nicht [...] das Geben im Sinne des antwortenden Gebens jede Systematik sprengt und über jede Ordnung hinausschießt"[8]. Es ist die Unterscheidung von Gabe und Geben, mit der sich das Außer-ordentliche des Gebens und Nehmens andeutet.

Hat J. Derrida der Semantik der Gabe besondere Aufmerksamkeit geschenkt, so betont Waldenfels die Syntax des Gebens und damit den Dativ als Gebefall. Geben ist "Reden und Handeln im Zeichen des Dativ"; es gehört zu den "Ereignisse[n] im Dativ"[9]. Waldenfels' Interesse gilt dem "originären Dativ", dem "Adressatendativ", der ohne ein direktes Objekt die Zuwendung zu und Ausrichtung auf jemanden ausdrückt. Geben und Antworten sind nicht nur Verben, die den Dativ regieren, "sie bezeichnen das Dativische des Geschehens selbst". Wo das Reden in Tun übergeht, wird aus der Anrede ein Antun. Mit dem Geben als Antworten wird anderen etwas angetan. In Entsprechung zu M. Heideggers Existenzial des "Mitseins" bezeichnet Waldenfels das Dasein in seiner dativischen Struktur als Ansein.

Dem syntaktischen Gewicht, das der Dativ grammatikalisch dem Geben als einer Ausrichtung des Sprechens, des Handelns und des Seins auf Andere gibt, korrespondiert die semantische Überdeterminierung des Gebens, die sich in einer unbändigen idiomatischen Vielfalt des Verbs 'geben' niederschlägt. Diese zeigt sich nicht nur in den zahlreichen Verbindungen mit Präfixen wie 'an-', 'ab-' und 'aufgeben', 'ein-" und "ausgeben", "vor-" und "nachgeben", "zu-" und "umgeben", "vergeben", "(sich) übergeben", "(sich) hingeben", "(sich) ergeben", "sich begeben", "weitergeben", "zurückgeben", "wiedergeben", "sich verausgaben", die "einen reichhaltigen semantischen Zeit-Raum des Gebens entstehen"[10] lassen, sondern auch bei Substantivierungen wie "Begabung", "Ergebnis", "Untergebener", "Ge-" und Begebenheit", Adjektiven oder Adverbien wie "ausgiebig" oder "freigebig", "angeblich" oder "vergebens". Gerade die unpersönliche Wendung "es gibt", bei der im alltäglichen Sprachgebrauch wohl kaum jemand an das Geben einer Gabe denkt, trägt zur Prominenz des Wortes "geben" bei. Zu seiner Flexibilität und Variabilität gehört auch seine weitläufige Verwendung als eine Art Stütz- oder Füllverb zur Umschreibung von sprachlichen und außersprachlichen Handlungen, die nicht explizit als Geben benannt werden müssen, wie eben "antworten"/"eine Antwort geben", "erklären"/"eine Erklärung (ab)geben", "versprechen"/"ein Versprechen geben", "raten"/"einen Rat geben", "stoßen"/"einen Stoß geben", "warnen"/"eine Warnung geben", "helfen"/"Hilfe geben", töten"/"den Tod geben" ... Von dieser allgemeinen und unspezifischen Bedeutung ist der selbständige betonte Gebrauch des Wortes "geben" im Sinne des ausdrücklichen Gebens von etwas als Gabe, das Schenken zu unterscheiden (vgl. im Lateinischen die Differenz zwischen "dare" und "donare") – bis hin zu Spende, Schenkung oder Stiftung als juristisch geregelten Formen eines eigenständigen Gebens. Als Schenken "potenziert sich [das Geben] in einer besonderen Art von Selbstbezug"[11].

 

Die Unterscheidung zwischen einem relativ neutralen Geben von etwas im Sinne einer adressierenden Tätigkeitsweise und dem emphatischen, nicht selten feierlichen Geben von etwas als Gabe als einer eigenen Tätigkeit betrifft das Verhältnis von Geben und Nehmen sowie die Frage nach Austausch und Überschuß. Wie M. Mauss von seinen ethnologischen Forschungen her nicht nur unsere heutige strikte Trennung von Personen und Sachen (im hau liegt ja beides untrennbar ineinander), sondern auch die strenge Unterscheidung "zwischen der Verpflichtung und der nicht unentgeltlichen Leistung einerseits und dem Geschenk andererseits"[12] infrage gestellt hat (der freiwillige Gabentausch geht mit einer dreifachen Verpflichtung einher), so lehnt B. Waldenfels dementsprechend eine Zwei-Reiche-Lehre mit einem ersten "Reich des wechselseitigen Gebens und Nehmens", und einem zweiten "Reich des unentgeltlichen und ungeschuldeten Schenkens" unmißverständlich ab. Sie ist unmöglich, weil "Gabe ohne Tausch und Tausch ohne Gabe nur als Grenzfälle denkbar sind". Und geradezu an die Adresse von J. Derrida gerichtet, fährt Waldenfels fort: "Wenn es einen Widerspruch gibt zwischen Gabe und Tausch, so nur in Form eines realen Widerstreits, der in der Erfahrung selber auftritt."[13] Hier wird die schon in "Ordnung im Zwielicht"[14] entfaltete These, dass das Außer-ordentliche nur innerhalb einer Ordnung sichtbar werden kann, dass es eine (nicht die!) Ordnung geben muß, damit das Außerordentliche möglich wird, auf das Geben angewendet: "Die Gabe muß, wenn überhaupt, so nicht als Austausch, aber doch im Austausch begegnen [...], weil das Außer-ordentliche der Gabe im unaufhörlichen Durchbrechen von Tauschordnungen seine Kraft zeigt."[15] Mit dieser Einsicht, die in eine Unterscheidung zwischen einem "normalen Geben" und einem "anomalen Geben" einmündet, gibt Waldenfels M. Mauss und J. Derrida zugleich recht. Er trägt zum einen dem Rechnung, dass Geben für gewöhnlich auf ein Annehmen und ein Erwidern der Gabe zielt und sich so innerhalb einer Ordnung bewegt, wie sie auch vertraglich festgelegt sein kann, dass Geben und Nehmen buchstäblich in Ordnung sind, wenn sie durch Distributionsregeln wie ein Spiel durch Spielregeln geordnet werden.[16] Und eben so sehr bringt er in Anschlag, dass das Geben als Schenken sich Tauschgesetzen entzieht: "Ein Geschenk, für das es einen zureichenden Grund gibt, wäre kein Geschenk mehr."[17] Es ist die Unterscheidung von ordentlicher Gabe und außer-ordentlichem Geben, mit der Waldenfels die Positionen von M. Mauss und J. Derrida verbindet. Die Pointe besteht darin, dass beides unterschieden bleibt, aber untrennbar ineinander liegt: "Der Überschuß des Gebens über das Gegebene besagt, daß die (vergeltbare) Gabe zugleich ein (unentgeltliches) Geschenk ist."[18] Es entscheidet sich erst im Gebeereignis selbst, ob es sich um ein normales oder ein anomales Geben handelt, ob die Gabe in Ordnung ist oder ob sie als Geschenk aus der Rolle fällt, also außerordentlich ist. Grundsätzlich aber gilt: "Jedes Geschenk hat etwas von einer Gabe, aber doch nicht jede Gabe hat unbedingt etwas von einem Geschenk."[19]

 

Das Verzeichnen von Geben und Nehmen im Antwortregister, die Einschreibung des Gebens in die Logik des Antwortens als Eingehen auf fremde Ansprüche verlangt ebenso wie die Unterscheidung zwischen einem normalen Geben im Rahmen von Tauschvorgängen und einem anomalen Geben als Schenken eine Besinnung auf das Verhältnis von Geben und Nehmen.

Im Gabentausch stehen Geben und Nehmen in einem komplementären Verhältnis: Das Geben ist motiviert durch einen Mangel, welcher Art auch immer; die Gebende gibt aus ihrem eigenen Fundus an Besitz, an Wissen und Können das, was der Anderen fehlt. Die Gebende gibt von dem, was sie hat; die Empfangende nimmt das, was sie nicht hat. Das Nehmen ist "dem Geben zugeordnet [...] wie die Leere der Fülle"[20] M. Godelier hat diese Entsprechung zu einer etwas spröden Definition des Gebens veranlaßt: "Geben, das ist eine freiwillige Übertragung einer Sache, die einem gehört, auf jemanden, von dem man meint, daß er nicht umhin kann, sie anzunehmen."[21] Die Komplementarität von Geben und Nehmen wird zur Reziprozität, wo die Empfangende selbst zur Gebenden wird, indem sie die durch die Gabe entstandene Schuld durch eine Gegengabe, und sei es symbolisch durch ihren Dank, abzutragen versucht. Der Gabentausch funktioniert, wo die Gegengabe der Gabe gleichwertig, aber nicht gleich ist, oder wo zumindest – wie beim Ausleihen oder beim Kredit – eine Frist zwischen Geben und Zurückgeben tritt. Der Tausch würde aufgehoben, wo Gabe und Gegengabe in der Sache und zeitlich in eins fallen. Die Gleichwertigkeit beider mißt sich an einem Dritten, an einem symbolischen Tauschmittel, das den Tauschwert bestimmt. Diese Orientierung an einem der Gabe und Gegengabe äußerlichen Maßstab zeigt, dass "alle Tauschregeln [...] vergleichen und gleichsetzen, was niemals völlig gleich ist"[22]. Damit gibt es aber – bei aller Komplementarität und Reziprozität – ein Ungleichgewicht im Tauschvorgang, das auf einen Überschuß des Gebens hindeutet.[23] Indem M. Mauss den Dreiklang von Geben, Nehmen und Zurückgeben als jenseits der uns vertrauten Alternative von geschuldeter Pflichtleistung und freiwilligem Geschenk angesiedelt wahrnimmt, zeigt sich, dass die Gabe selbst im Tauschvorgang "die ökonomischen Gesetze von Äquivalenz und Sparsamkeit" durchbricht, und zwar in doppelter Hinsicht: in den kämpferischen Formen des Gabentauschs durch die Größe der Gabe, "die über das Geschuldete hinausgeht und als Verausgabung und Vergeudung auch das Maß des Verwertbaren überschreitet. [...] Man gibt mehr, als man muß, und mehr, als man hat", und durch die Frist, die zwischen Gabe und Gegengabe tritt und aus jeder Gabe eine Vorgabe und einen "Vorschuß [...] an Vertrauen"[24] macht, weil es keine Garantie dafür gibt, dass eine Gabe angenommen und erwidert wird.

In den Vor- und Überschuß-Motiven, die sich im vorvertraglichen Gabentausch finden und die auch in den vertraglich geregelten Tauschvorgängen nicht völlig aufgehoben sind, zeigen sich Spuren jenes anderen Gebens, das B. Waldenfels als antwortendes Geben in seiner responsorischen Logik von Geben und Nehmen freilegt. Das antwortende Geben unterscheidet sich vom austauschenden Geben nicht nur durch eine unauflösbare Verwicklung von Geben und Nehmen, die mehr als ein komplementäres und reziprokes Verhältnis ist, sondern vor allem durch einen veränderten Ausgangspunkt:

Nimmt das tauschende Geben seinen Anfang beim Mangel des anderen, den aufzufüllen und damit Ausgleich zu schaffen es intendiert, und liegt sein Überschuß in der Bemessung wie im zeitlichen Vorrang der Gabe, so kommt das antwortende Geben immer schon von einem Überschuß her, nämlich den über jede Antwort und damit auch jede Gabe hinausgehenden fremden Anspruch, auf den es eingeht. Der Überschuß liegt im Woraufhin des antwortenden Gebens, er liegt in der Überbeanspruchung: "Das Geben, das auf einen fremden Anspruch antwortet, der nicht erfüllbar ist, da er aus einer nicht einholbaren Ferne kommt, hat seinen Ursprung in einem Überschuß, der jede mögliche Ziel- und Gesetzeserfüllung übersteigt. Das, worauf wir antworten, besteht nicht in etwas, das fehlt, das also in einer Ordnung bereits vorgesehen und vorgezeichnet ist, es besteht in einem Außer-ordentlichen, das diese Ordnungen durchkreuzt."[25] Beim antwortenden Geben ist nicht so sehr entscheidend, was, sondern, dass gegeben wird. Das zu Gebende ist – um M. Heideggers Terminologie zu gebrauchen – weder ein Vorhandenes noch ein Zuhandenes, es entsteht erst im responsiven Gebeereignis selbst; in diesem "erfindet man, was man antwortet; man erfindet aber nicht, worauf man antwortet"[26]. Im antwortenden Geben gibt man folglich – so läßt sich paradox formulieren – das, was man nicht hat.[27]

So kommt es zu einer Verdoppelung von Geben und Nehmen, zu einem nehmenden Geben und einem gebenden Nehmen: Das antwortende Geben, das einen Anspruch vernimmt, kommt von einem Nehmen her; dieses ist aber "kein Ansichnehmen, kein Bekommen oder Erhalten, sondern ein Aufsichnehmen und Übernehmen"; genauer: "ein In-Anspruch-genommen-Sein"[28]. Wer antwortend gibt, ist eingenommen vom fremden Anspruch. Aber auch auf der Empfängerseite kommt es beim Entgegennehmen zu einem Geben, einem Antworten auf den Anspruch, der in der Gabe liegt. Waldenfels unterscheidet hier – wiederum das Nehmen, nicht, wie man erwarten könnte, das Geben im Nehmen spezifizierend – zwischen "einem Ansichnehmen als Annehmen oder Entgegennehmen und einem Ansichnehmen als Entnehmen, das jederzeit in ein Entreißen oder Ansichreißen übergehen kann. Etwas von jemandem empfangen, bedeutet mehr als Sich-etwas-nehmen."[29] Es ist also die Art und Weise des Nehmens, es ist das Moment der Rücksicht auf die Gebende, es ist der personale Aspekt im Gebeereignis, der das Nehmen zu einem gebenden Nehmen macht und so einer An-eignung der Gabe widersteht.

Die chiastische Verschränkung von Geben und Nehmen macht es unmöglich, Aktivität und Passivität bzw. Rezeptivität einseitig Gebenden oder Empfangenden zuzuordnen; auch geht es nicht um einen bloßen Rollentausch zwischen Gebenden und Nehmenden, sondern "Antworten heißt: ich gebe, indem ich nehme, und ich nehme, indem ich gebe"[30]. Dieses responsive Verständnis könnte einen Weg aus der Scham weisen, die die milde Gabe bei Gebenden wie Nehmenden hervorruft. Nehmendes Geben und gebendes Nehmen verunmöglichen einen gönnerhaften Spendergestus ebenso wie eine demütigende, schuldbesetzte Empfängerhaltung. Wer gibt, ist nicht zwangsläufig in der stärkeren Position, denn "dem Geben [wohnt] ein Nehmen inne als eine 'innere Schwäche', die verhindert, daß der Gebende je vollends der Gebende ist"[31].

Mit dem responsiven Geben, der Verschränkung von Geben und Nehmen und dem Überschuß des Gebens über das Gegebene hinaus meldet sich bei B. Waldenfels M. Mauss' "Geist der gegebenen Sache"[32] in veränderter Gestalt zurück – nicht als die bezwingende Kraft der Gabe selbst, sondern als unauflösbarer Bezug der Gabe auf das Ereignis des Gebens, das über sie hinausgeht. Waldenfels setzt Mauss' Lösung des Rätsels der Gabe erneut ins Recht. Doch nicht in die Gabe, sondern in das Geben gibt sich, wer gibt, hinein. Wo sich das Geben nicht auf eine vorgegebene Gabe berufen kann, wo das, was sich gibt, sich erst im Ereignis des Gebens selbst ergibt, bleibt das Geben eine riskante Angelegenheit. Auch das Schenken bleibt angefochten von der Ambivalenz der Gabe. "Ein Geben, mit dem jemand gibt, was er nicht bereits hat, in dem er als jemand auftritt, der er nicht schon ist, [...] steht auf keinem festen Grund. Es stellt sich dar als ein Geben à fonds perdu, [... das] auf nichts bauen und nichts zählen kann, ohne seine 'Seele' zu verlieren."[33] Gerade der Übergang vom eigenen Geben zum fremden Nehmen und umgekehrt markiert die Schwelle, wo jedes Geschenk seine Außer-ordentlichkeit verlieren und zu einer geschuldeten Gabe werden kann.

Wenn B. Waldenfels das Uneinklagbare eines solchen ungeschuldeten und unentgeltlichen, irreziproken und überflüssigen Gebens schließlich am Geben des Wortes im Versprechen und in der Vergebung, in der Bitte und im Dank veranschaulicht[34], stellt er selbst die Weichen für eine theologische Rezeption seiner responsiven Phänomenologie von Geben und Nehmen. 

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[1] Rätsel der Gabe, 294.

[2] Antwortregister, Frankfurt a.M. 1994, 586-626.

[3] Un-ding der Gabe, 385-409.

[4] Zur Entstehung dieser Fokussierung mit einer entsprechenden Retractatio der eigenen dialogphilosophischen Anfänge vgl. das Vorwort in Antwortregister, 13-19.

Mein Bochumer Kollege Peter Dabrock hat das antwortende Denken von B. Waldenfels in seiner Dissertation unter dem Titel "Antwortender Glaube und Vernunft. Zum Ansatz evangelischer Fundamentaltheologie (Forum Systematik 5), Stuttgart u.a. 2000, 179-299, einer ersten eingehenden (systematisch-)theologischen Rezeption unterzogen.

[5] Das programmatische Hauptwerk "Antwortregister", in dem Waldenfels gerade noch nicht alle Register zieht, mündet so folgerichtig in "Studien zur Phänomenologie des Fremden" ein, die bisher in vier Bänden vorliegen: Topographie des Fremden (stw 1320), 1997; Grenzen der Normalisierung (stw 1351), 1998; Sinnesschwellen (stw 1397), 1999, und Vielstimmigkeit der Rede (stw 1442), 1999.

[6] Un-ding der Gabe, 395.

[7] A.a.0., 392f. (Hervorhebung M.F.).

[8] Antwortregister, 594.

[9] Antwortregister, 589-595; Un-ding der Gabe, 393-395.

[10] Antwortregister, 592.

[11] Un-ding der Gabe, 396.

[12] M. Mauss, Gabe, 120f. Nach Émile Benveniste hat Mauss gezeigt, "daß die Gabe nur ein Element eines Systems wechselseitiger, zugleich freier und zwingender Leistungen ist, wobei die Freiheit der Gabe den Empfänger zu einer Gegengabe verpflichtet, was ein kontinuierliches Hin und Her von Geschenken und Gegengaben hervorbringt" (Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, 350; Hervorhebungen M.F.).

[13] Un-ding der Gabe, 398f.

[14] Frankfurt a.M. 1987.

[15] Antwortregister, 596. Hier nimmt Waldenfels offensichtlich Mauss gegen die harsche Kritik Derridas in Schutz, indem er festhält, dass "Marcel Mauss die Gabe dort sucht, wo sie einzig zu finden ist: im Tausch, von dem sie sich absetzt" (Un-ding der Gabe, 408). Der Schlußabschnitt des Textes ("Es gibt", 407-409) enthält überhaupt eine deutliche Kritik an J. Derridas Dekonstruktion der Gabe.

[16] Vgl. dazu die Abschnitte "13.3. Gabe, Gegengabe und Tauschordnung", "13.4. Die Regelung von Geben und Nehmen im Vertrag", "13.5. Lücken im Tauschvertrag" und "13.6. Gabe im Austausch (M. Mauss)" in Antwortregister, 595-608.

[17] Un-ding der Gabe, 400.

[18] Ebd.

[19] Antwortregister, 621. Zur Phänomenologie und insbesondere zur Zweideutigkeit des Geschenks vgl. den ganzen Abschnitt "13.8. Geben und Schenken", 618-622.

[20] Antwortregister, 598.

[21] Rätsel der Gabe, 21.

[22] Antwortregister, 598.

[23] Auch die Verbindlichkeit des Tauschvertrags, der das Geben und Nehmen nach Distributionsregeln ordnet, geht selbst über die Ordnung des Vertrags hinaus; sie gehört zu den "Lücken im Tauschvertrag", markiert dessen Grenzen: "Erst die Grenzen setzen Überschüsse frei und lassen ein Geben zu, das aus den Quellen des 'Überflüssigen' schöpft und sich nicht in den Schlingen des Austauschs verfängt" (Antwortregister, 602.605).

[24] Antwortregister, 606f.

[25] A.a.0., 609.

[26] Un-ding der Gabe, 402.

[27] Zum Ausdruck "geben, was man nicht hat", der sich auch bei M. Heidegger, J. Lacan und J. Derrida findet, vgl. B. Waldenfels, Antwortregister, 620; Un-ding der Gabe, 402; zur Bedeutung des Diktums bei Lacan und Derrida: Hans-Dieter Gondek, "Zu geben, was man nicht hat", in: RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse 35 (1996), 91-114. Zur theologischen Auslegung des Diktums s. u. Kapitel IV.

[28] Antwortregister, 614.

[29] A.a.0., 615.

[30] Ebd.

[31] Un-ding der Gabe, 402.

[32] M. Mauss, Gabe, 31ff.; vgl. B. Waldenfels, Antwortregister, 621.

[33] Antwortregister, 622.

[34] Vgl. a.a.0., 622-626.

 

 

 


© PD Dr. Magdalene L. Frettlöh