Jüdischer Rexit

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 32. Kapitel

Restaurant-Tipp für Fischliebhaber: das Uri Buri im Norden Israels

Jüdischer Rexit – Tu Bishvat, das Neujahrsfest der Bäume – Hedonisten und Märtyrer

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Tobias Kriener schreibt:

02.02.2017

Jüdischer „Rexit“ im 1. Jahrhundert

Vorgestern waren wir in Galiläa zwischen Jotfat und Zippori unterwegs. Eigentlich war für diesen Tag ein Besuch in Sakhnin geplant. Aber da am selben Tag auch der britische Botschafter nach Sakhnin kommen wollte, mussten wir natürlich zurückstecken, denn unser Kontaktmann musste seinem Bürgermeister bei diesem Besuch zur Seite stehen. Nach Sakhnin fahren wir nun am 20. Februar.

So hatte ich mir überlegt, mal Meggiddo zu besuchen und den Ort auf dem Karmel, an dem der Tradition nach der Wettkampf zwischen Elia und den Baals-Propheten stattgefunden hat – nicht zuletzt, weil man von da so einen schönen Blick sowohl aufs Mittelmeer als auch ins Jesreetal hat. Vorweg noch ein Besuch bei Rabbi Or Zohar mit einer Einführung in das Fest Tu Bishvat.

Or bot uns eine kleine Führung über den Tell Jotfat an, ein Ruinenhügel der Festung aus dem jüdischen Aufstand der Jahre 66-70, die von Josephus befehligt wurde. Als die Römer kurz davorstanden, die Festung zu stürmen, begingen die Verteidiger Selbstmord – bis auf Josephus, der den belagernden Kommandeuren Vespasian und Titus prophezeite, dass sie Kaiser werden würden, dafür mit dem Leben davonkam und seine Karriere als Historiker Joesphus Flavius in Rom startete.

Or ordnet den jüdischen Aufstand als eine Art jüdischen „Brexit“ des 1. Jahrhunderts ein. Er sieht das Judentum beständig vor der Alternative, sich einzulassen auf die umgebende Kultur – sei es Römisches Imperium oder EU –, oder sich abzuschließen und nationale Eigenheiten zu kultivieren. Für das letztere steht Jotfat, wo nicht viel mehr zu sehen ist als die Überreste der hastig hochgezogenen Mauern, ein paar Zisternen und Höhlen, eine Olivenpresse. Der Gegenentwurf aus dem 1. Jahrhundert ist in Zippori (Sepphoris) zu bewundern – dazu gleich noch mehr.

Eine interessante Sicht der Dinge und des jüdischen Aufstands – ganz anders als die sonst übliche Heldenverehrung. Wo Or in dieser Alternative steht, ist auch völlig klar: Heroisches Märtyrertum – Massada und das ganze Brimborium – ist seine Sache überhaupt nicht, sondern er verkörpert den Lebensgenuss und die Neugier auf Anregungen von Anderen und das Zusammenbringen von Menschen jedweder Couleur. Und natürlich drückt sich in seiner Haltung auch der kulturelle Unterschied zwischen den verschiedenen alternativen Strömungen des Judentums (reform, konservativ, reconstructionist und was es sonst noch gibt) und der Orthodoxie aus: Hier die weltoffenen, zu Veränderungen bereiten, auch politisch zu Kompromissen bereiten – dort diejenigen, die sich an jedem Buchstaben der Tradition und an jedem Zentimeter Boden festklammern ...

Wir fuhren dann zu ihm nach Hause nach Hararit, einem kleinen Dörfchen hoch oben auf einem Berg des Galil: Von Ors Terasse aus kann man den See Genezareth und die Golanhöhen sehen, von der anderen Seite von Hararit sieht man bis zum Mittelmeer und nach Haifa.

Dort bekamen wir zunächst einen heißen Kaffe oder Tee, und dann eine Einführung in das kleine Fest Tu Bishvat – ursprünglich einfach nur ein Steuerdatum, im 20. Jahrhundert dann vor allem in Israel populär geworden, weil es als kleines Fest, das in seinem Begängnis nicht so festgelegt ist durch Talmud und Tradition wie Pessach oder Jom Kippur, für die säkularen Zionisten anschlussfähig war und heute als Fest der Erd- und Heimatverbundenheit vom Kindergarten an gerne gefeiert wird.

Dann führte er uns noch zu einem kleinen Nonnenkonvent neben Hararit mit einer schönen Höhlenkirche – mit wirklich selten geschmackvoller Innenausstattung!

Und zum Schluss aßen wir dann noch in einer Schawarmabude im benachbarten Dorf Arabeh zusammen Lunch. Unser deutsches Multikulti ist nichts dagegen.

Während Or nach Tel Aviv zu einer Refomrrabbinerkonferenz fuhr, nahmen wir dann die Anregung auf und sahen uns den Gegenentwurf von Jotfat an: die Ausgrabungen in Zippori. In neutestamentlicher Zeit war Zippori oder Sepphoris das römische Verwaltungszentrum Galiläas. Die Stadt liegt nur wenige Kilometer von Nazareth entfernt – wird aber im Neuen Testament nicht erwähnt. Es sieht so aus, als hätte Jesus einen großen Bogen um Zippori gemacht. War Jesus also ein jüdischer Fundamentalist?

Das gilt beileibe nicht für alle Juden: Neben den eindrucksvollen Dokumenten römischer Bau- (dem Straßennetz, dem Theater) und Lebenskunst (fantastisch schöne Mosaiken) finden sich in Zippori eben auch Synagogen und – aus späterer Zeit – Kirchen. Hier hat kein geringerer als Rabbi Jehuda HaNasi die Mischna redigiert – und freimütig bekannt, dass er die römischen Badehäuser mit ihren erotischen Darstellungen von heidnischen Göttinnen besucht hat. Das Theater allerdings stand unter dem rabbinischen Bannstrahl – was aber eher dafürspricht, dass es auch von Juden besucht wurde, denn sonst müsste man es ja nicht ausdrücklich und so scharf verbieten.

Ich gestehe, dass ich lieber in Zippori gelebt hätte als in Jotfat. Und dass ich heute lieber in Hararit leben würde, von wo man zum Lunch eben mal ins benachbarte Arabeh gehen kann, als in einem der Außenposten der Siedlungen in der Westbank, wo man sich hinter seinem Sicherheitszaun selbst einsperrt.

Auf der anderen Seite: Wenn es nur solche Hedonistenchristen gegeben hätte wie mich und nicht auch die Glaubenszeugen, die für ihre Überzeugung Leiden zu ertragen bereit waren – gäbe es mich dann heute überhaupt?

Gäbe es das Judentum heute ohne die jüdischen Märtyrer, die nicht auf das Angebot eingegangen sind, ihr Leben zu retten, indem sie sich taufen lassen?

Muss ich Or beim nächsten Zusammentreffen mal fragen, wie er das sieht.

Tja, nun war also der Tag ganz anders verlaufen, als ich es mir vorgestellt hatte – aber ich kann wirklich nicht sagen, dass ich enttäuscht gewesen wäre. Neben der vielen schönen Landschaft und dem dramatischen Himmel auch viel Stoff zum Nachdenken.

Abends war dann noch mein Arabischkurs – aber von dem ich erzähle ich ein andermal noch gesondert.

03.02.2017

Seit gestern haben wir zu Hause Internet! Jetzt muss ich nicht für jede E-mail ins CLD fahren, sondern kann auch mal nebenbei schnell was die Tastatur hacken.

Wohlan – Stichwort Hedonistenchristen: Vorgestern waren wir zu einem Arbeitstreffen mit den Kolleginnen von Evangelisch in Jerusalem auf dem Ölberg. Dort haben wir uns von den beiden Pfarrerinnen nach Strich und Faden verwöhnen lassen. Und auf dem Rückweg sind wir dann – weil wir's zeitlich zum Talmudkurs in Naharija nicht mehr geschafft haben – nach Akko abgebogen und haben im „Uri Buri“ gegessen – einem wirklich ganz feinen Fischrestaurant an der Küstenpromenade von Akkos Altstadt in einem sehr geschmackvoll hergerichtetemm alten türkischen Haus mit dem köstlichsten Fisch, den ich jemals gegessen habe. Nicht ganz billig – aber jeden Schekel wert!

Nur mal so um Euch den Mund wässerig zu machen für den nächsten Besuch im Norden Israels.

Kirche und Mosaik in Zippori

 


Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, Februar 2017
Leben in Israel zwischen Golan und Sinai, Mittelmeer und Jordan, unter Juden, Muslimen, Christen, Agnostikern,Touristen, Freiwilligen - Volontären, Israelis, Palästinensern, Deutschen, Niederländern, Schweden, Amerikanern undundund

Ein Fortsetzungs-Tagebuch auf reformiert-info. Von Tobias Kriener
 

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