Als Deutsche vor dem israelisch-palästinensischen Konflikt: Informieren! Diskutieren! Stellung nehmen? I

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 33. Kapitel

Seminare für Volontäre

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Tobias Kriener schreibt:

Zwischenseminar I

9.2.2017

Diese Woche ist das Zwischenseminar für die IJFD-Volos – das ist ein spezielles Volontärsprogramm, bei dem die Volontäre verpflichtet sind, vor Beginn ihres Einsatzes in Deutschland an einem Vorbereitungsseminar, nach dem Ende wiederum in Deutschland an einem Nachbereitungsseminar, und während ihrer Einsatzzeit im Einsatzland an einem Zwischenseminar teilzunehmen. Das Zwischenseminar dient dazu, Bilanz zu ziehen und die zweite Hälfte der Einsatzzeit in den Blick zu nehmen. Zum zweiten Mal findet es in Nes Ammim statt unter Beteiligung von acht Volontär_innen aus Nes Ammim und acht Volos aus Bethlehem/Beit Jala/Beit Sahour. Das besonders Produktive an diesem gemeinsamen Seminar ist, dass Volos von beiden Seiten – aus Israel und aus den palästinensischen Gebieten – aufeinandertreffen und die jeweilige Perspektive mitbringen.

Zum Programm gehören auch ein paar Exkursionen. Gestern waren wir in Haifa in der Schule der „Sisters of Nazareth“, einer katholischen Schule, an der ausschließlich arabische Schüler_innen lernen – malerisch gelegen an den Hängen des Karmel, direkt neben dem Bahai-Tempel. Der sehr nette Lehrer Ehab referierte voller Stolz von der Geschichte der Schule und den Lernerfolgen der Schüler_innen und zeigte uns die drei Schulteile: Von der Secondary School über die Elementary School (die schönste, weil sie in dem alten Prachtbau untergebracht ist) und den Kindergarten. Die Volos nahmen außerdem an der ersten Hälfte einer Englischstunde teil.

Was mir an Besonderheiten in Erinnerung geblieben ist: Die Schüler_innen haben Unterricht in drei Sprachen: Arabisch, Hebräisch und Englisch. Physik z.B. wird auf Arabisch gegeben, aber nach dem hebräischen Lehrbuch. Hebräisch und Englisch werden schon im Kindergarten gelernt.

Das Andere: 70% der Schüler_innen sind Christ_innen, 30% Nicht-Christ_innen. (Jüdische Schüler_innen gibt es nicht – bei aller Qualität der Schule: sie ist dann doch gegenüber den jüdisch-israelischen Schulen nicht so gut ausgestattet, dass jüdische Eltern ihre Kinder auf diese Schule schicken würden.) Das Geschlechterverhältnis ist genau ausgeglichen – ein paar Mädchen mehr als Jungen. Beides ist ganz anders als in den christlichen Schulen in der Westbank, die wir besucht haben, wo die große Mehrheit der Schüler_innen muslimisch ist, und ein klarer Überhang von Jungen festzustellen ist.

Danach sind wir noch zum Aussichtspunkt Stella Maris gefahren und haben in einer Humusbude zu Mittag gegessen.

Zurück in Nes Ammim gab es einen Nachmittag zum Thema: „Als Deutsche vor dem israelisch-palästinensischen Konflikt: Informieren! Diskutieren! Stellung nehmen?“ Ich hatte als praktisches Beispiel den Beschluss des UN-Sicherheitsrates 2334 zur israelischen Siedlungspolitik gewählt. Wir haben die Resolution gelesen und einen Hintergrundartikel dazu aus Ha'aretz. Dann teilten sich die Volos in 3 Gruppen, die jeweils eine Stellungnahme (von BeTselem, Mosche Arens und Volker Beck) an die Hand bekamen. Jeweils ein/e Vertreter_in der Gruppe hat danach in einer Art „Anne-Will-Diskussionsrunde“ die Position vertreten müssen (die „Anne-Will“ habe ich gegeben ;-) ).  Das haben sie wirklich sehr überzeugend gemacht – und sehr humorvoll! Für mich war es ein großer Lern-Spaß.

Es fehlte eine palästinensiche Stimme – das war mir auch sehr bewusst. Deshalb war für mich persönlich das Beste an dieser Einheit, dass ich am Anfang einmal rundgefragt habe, wie sich die Volos während ihrer Zeit hier eigentlich auf dem Laufenden halten. Und dabei kam eine sehr lange Liste heraus, die eben unter anderem auch Zugänge zu Stimmen der palästinensischen Zivilgesellschaft enthält, die ich dann demnächst eifrig nutzen werde, so dass bei „Anne-Will“ im nächsten Jahr dann auch ein/e Palästinenser_in mit in der Runde sitzen wird.

Abends dann hatten wir Avner Shai zu Gast unter dem Motto: „Was ich immer schon mal einen israelischen Patrioten fragen wollte“. Das haben v.a. die Westbank-Volos intensiv genutzt. (Unsere Volos haben sich zurückgehalten, was auch völlig in Ordnung war – sie haben ja schließlich jeden Monat die Gelegenheit, Avner zu befragen.) Es war ein harte Befragung – und Avner ist keine Antwort schuldig geblieben: Er hat klar gesagt, dass er nicht (mehr) stolz ist auf Israels Armee – wegen dem, was in den besetzten Gebieten passiert; er hat seine große Distanz zu den Siedlern glasklar deutlich gemacht; dass er gegen die Siedlungspolitik demonstriert hat; dass er eine Friedenslösung will – aber leider seine Seite in den Knessetwahlen der letzten Jahre immer verloren hat; aber er hat eben auch klar gesagt, dass die Armee überlebensnotwendig ist, weil er hier leben will, und weil „sie“ (und da hat er schon immer wieder sehr pauschal von „ihnen“ geredet) Israel hier nicht haben wollen, und dass deshalb z.B. Kriegsdienstverweigerung aus seiner Sicht nicht in Frage kommt.
Andere Aspekte sind da zu kurz gekommen: Er hat eingangs sehr eindrücklich davon erzählt, dass seine Eltern Überlebende sind – von seiner Zeit als israelischer Verbindungsoffizier in Deutschland – davon, dass er von zu Hause her Deutsch konnte, durch eine Kopfverletzung sein Gedächtnis verloren hatte, alles wiedergekommen ist – bis auf die deutsche Sprache: die ist komplett verschwunden geblieben, und was er jetzt wieder an deutschen Brocken beherrscht, ist Ergebnis völlig neuen Lernens.

Weil die Westbankvolos immer wieder nachhakten bei „ihren“ Themen (Besatzung, Siedler... – völlig verständlich aus ihrer Sicht), fragte er mehrmals fast verzweifelt in die Runde nach anderen Fragen. Sie kamen nur sehr spärlich.
Ich hätte als Moderator die Aufgabe gehabt, aus diesem Zirkel herauszuführen – war da aber gestern nicht geistesgegenwärtig genug. Ich lerne daraus, dass ich beim nächsten Mal die Zeit mit ihm von vorneherein in zwei Teile einteilen werde: Armee und Besatzung und Siedlungen usw. – und ein zweiter Teil zu Israel: Warum er hier leben will – was das Leben in Israel zu bieten hat – worauf er stolz ist u.a.

Beim nächsten Mal wird's besser.


Dr. Tobias Kriener, Studienleiter in Nes Ammim, Februar 2017
Leben in Israel zwischen Golan und Sinai, Mittelmeer und Jordan, unter Juden, Muslimen, Christen, Agnostikern,Touristen, Freiwilligen - Volontären, Israelis, Palästinensern, Deutschen, Niederländern, Schweden, Amerikanern undundund

Ein Fortsetzungs-Tagebuch auf reformiert-info. Von Tobias Kriener
 

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