Die fragliche Wahrheit und Vernunft der biblischen Landtheologie

Dogmatisch-theologische Einsichten von Friedrich-Wilhelm Marquardt

Das Verhältnis Israels zu seinem Land ist kaum bedacht in christlicher Dogmatik. Anders bei Friedrich-Wilhelm Marquardt, dem 2002 in Berlin verstorbenen Professor für Evangelische Theologie. In seiner Eschatologie lädt Marquardt ein, das jüdische Volk und seinen Staat als "neue Tatsache" wahrzunehmen. Er hält dabei fest: Bis zum jüngsten Gericht „können wir die Geschichte von den Juden und ihrem Land nur als Geburtswehen eines kommenden Neuen begreifen“.

 Die biblische Landverheißung, die im Bund Gottes mit Israel begründete Beziehung des jüdischen Volkes zu seinem Land, betrachtet Marquardt ausführlich im zweiten Band seiner Eschatologie, der Lehre von den letzten Dingen: „Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?“ (1994)

Zu „Gottes Selbstbindung an ein einzelnes Volk unter vielen Völkern“ gehört die Verheißung des Landes für Israel: „Diesem Volk hat Gott ein kleines Land unter allen Ländern bestimmt, damit es ihm dort, von der Tora geleitet, in gerechten Institutionen diene. Darin soll tätig die Verheißung eines kommenden Reiches Gottes auf Erden erinnert werden.“ (Marquardt, 133). Es sei ein „Gottesauftrag“, „um dessentwillen Israel und dies Land zusammengehören“ – in all den Härten, Konflikten, der Feindschaft, der „quälenden Widersprüchlichkeit“ einer noch nicht erlösten Welt. Es sei jedoch zu befürchten, dass die nichtjüdische Menschheit dies erst im jüngsten Gericht erkenne und auch dann erst Gott und seinen Auftrag anerkenne: „Bis dahin können wir die Geschichte von den Juden und ihrem Land nur als Geburtswehen eines kommenden Neuen begreifen“. (Marquardt, 134).

Unter der Überschrift „Die fragliche Wahrheit und Vernunft der biblischen Landtheologie“ fasst Marquardt seine dogmatisch-theologischen Überlegungen zu biblischen Landverheißung zusammen. Einige Aspekte seien hier zitiert:

Eine neue geschichtliche Situation für Christen seit der Gründung des Staates Israel

Die „biblische Landtheologie“ sei so sehr „mit dem ungekündigten Bund zwischen Gott und dem Volk Israel verbunden“, dass sie sich „nur um den Preis theologisch abschieben (ließe), dass auch jener Bund für antiquiert erklärt würde“ (Marquardt, 266).
Die Christen stehen seit der Staatsgründung Israels in einer neuen geschichtlichen Situation dem Judentum gegenüber: „Seit es das Christentum gibt, gab es bisher nur ein seines Landes verlustig gegangenes und für uns darin für ‚enterbt’ gehaltenes Judentum – die erste, vor dem August 70 [der Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem durch die Römer] lebende Christengeneration ausgenommen; aber alle Schriften des Neuen Testaments, von den ‚echten’ Paulusbriefen abgesehen, kennen Judentum nur in ‚entfremdeter’ Gestalt der Gola [Exil, Diaspora, Zerstreuung des jüdischen Volkes außerhalb Israels], sie hat das problematische neutestamentliche Bild von ihm entscheidend mitgeprägt. Und wie mit den schriftlichen ‚Quellen’ der Kirche steht es mit den Erfahrungen auf ihrem bisherigen Weg durch die Zeiten: Erst wir, in unserer Generation, sind genötigt und – gewürdigt, es mit einem Judentum völlig anderer Gestalt zu tun zu bekommen als alle unsere Glaubensmütter und –väter vor uns.“ (Marquardt, 267)
In Bezug auf die „schüchternen“ Versuche, „für eine Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses zu arbeiten“ möchte Marquardt die Christen nicht „an einem deutschen Schuldkomplex“ behaftet sehen: „Die Shoah und ihre Folgen haben mehr für die Christen in sich, als uns zu Schuldnern der Juden zu machen. Es gefällt Gott, die Christen durch die Juden, und die Völker (und unter ihnen die Deutschen) durch Israel vor neue Tatsachen zu stellen, schärfer: neue Bedingungen einer Erkenntnis der Wirklichkeit im ganzen: ‚Dies Volk’ – lebt.“ (Marquardt, 268)

Der Bund von Gott, Volk und Land lässt sich nicht als „ewige Vernunftwahrheit“ behaupten

Marquardt weist darauf hin, dass, solange nicht alle Grenzen zwischen Israel, dem palästinensischem Volk und den umliegenden Ländern völkerrechtlich anerkannt seien, die „Vernunftwahrheit“ zu ihrer „Befriedigung noch einen großen Spielraum“ habe: „Sofern die Vernunftwahrheit Kind und Mutter des Menschenrechts zugleich ist, hat sie alles Entscheidende zu ihrer Durchsetzung erst noch vor sich, und wird dabei lernen müssen, gerade das Verschiedene zu hegen und zu pflegen und es nicht an ihrem Einheitsbedürfnis zu erdrücken. So bekommt auch die Vernunft noch die Chance, sich an der Wirklichkeit des Bundes zwischen Gott, dem Volk Israel und dem Land zu erhellen und das Wesen von Wirklichkeit daran neu aufzuklären.“ (Marquardt, 271)

Der Bund von Gott, Volk und Land nicht zur höheren „Glaubenswahrheit“ erheben

Der Bund von Gott, Volk und Land sollte nicht zu einer höheren „Glaubenswahrheit“ über die „Relativität des Geschichtlichen und den universalen Anspruch der Vernunft“ gesetzt werden. Das hat zwei Gründe: Zum einen den, dass der Glaube nicht jedermanns Ding sei (2. Thessalonicher 3, 2) und somit eine Glaubensausage keine Allgemeingültigkeit besitze, zum anderen widerspricht der Charakter einer „Glaubenswahrheit“ dem Charakter des Bundes Gottes mit Israel. Diesem ist „wesentlich, mitten in der Welt der zufälligen Geschichtswahrheiten die Vernunft des Ewigen zu bezeugen: als von dem Ewigen angeleitete und ständig begleitete Vernunft“. Dabei ist die Entwicklung der Geschichte zwischen Gott, Israel und Land „unabsehbar“, sie ist „offen“. Die Wahrheit dieser Geschichte kann sich erst „herausstellen“. Aber die Wahrheit Gottes ist eine „Einladung“, sich an ihr zu beteiligen, sich zum Gott Israels und seiner Landverheißung zu bekennen. Dabei sind in der Treue zum Land „Irrnis und Wirrnis“ nicht auszuschließen (Marquardt, 271f.).

In Israels Verhältnis zum Land ist ein Verhältnis Gottes zum Land lebendig

Das biblische Wort vom „Zuschwören des Landes“, davon, dass Gott Israel hinaufführt in sein Land und dies um seiner selbst Willen tut, „schließt jede theologische Relativierung dieser Schriftzeugnisse aus“. Damit ist gesagt, „dass dies Landverhältnis für uns darum so unableitbar ist wie Gott selbst. Wir können es nicht begründen. Hier entspricht ganz und gar nichts unserem Bild von einem Gott. Hier können wir nur dem ent-sprechen, was uns im Namen Gottes gesagt wird, und können es nur teilnehmend bezeugen.“ Zu dieser „Glaubenssache“ gehört, dass der Glaube nach dem Glauben ruft: „Die Juden wollen mit Gott und dem Land gar nicht allein, an-und-für-sich, apart sein; sie wissen, wozu sie in diesem Bund gebunden sind. Sie rufen nach uns Gojim [Nichtjuden], ob da nicht wenigstens einer wäre, der sie in dieser Beziehung bestätigen könnte, indem er Gott in dieser Beziehung bestätigt und bezeugt. Christen sind dafür die Richtigen – wenn sie die Tora nicht aus ihrer Schrift streichen oder umdeuten, sondern aus Gesetz, Propheten und Schriften ebenso leben wie aus dem Evangelium Jesu.“ (Marquardt, 273)

Theologie nicht zur Legitimation von Gott-weiß-was verbrauchen

Marquardt schreibt: „Was wir theologisch als notwendig erkennen, berechtigt nicht, damit etwas politisch zu legitimieren. Theologische Erkenntnis bleibt Glaubenserkenntnis, ihre Äußerung: Glaubenserkenntnis. Sie kann nicht das Genus wechseln. Weder Israels Ansprüche ans Land noch seine Politik können theologisch gerechtfertigt werden.
Theologie kann aber verstehen helfen, wovon Israel in seinen wechselnden Beziehungen zum Lande sich leiten lässt; sie erlaubt, Israel nicht bloß von außen, sondern auch von innen – aus der Tradition, auf die es sein Handeln und seine Ansprüche stützt – beurteilen zu können, ‚von innen’: also teilnehmend. Nichts in der Welt überhaupt kann Theologie legitimieren wollen, aber zur Verstehenshilfe kann sie – wenn es gut geht – taugen.“ (Marquardt, 273f.)

„Die Landtheologie ist Befreiungstheologie für Sklaven“

Ein „Schein des Triumphalen“ liegt auf der Landtheologie der Bibel mit ihren kriegerischen und gewaltsamen Eroberungen. Doch dieser Schein beruht darin, dass das Starke in den Schwachen mächtig ist (2. Korinther 12, 9): „Die Landverheißung wird in der Wüste gegeben. Die Landnahme geschieht von der Wüste aus. Das Volk, das aufs Land zugeführt wird, bildet sich aus soeben aus der Sklaverei befreiten Haufen. Ihre Weigerung, ins Land zu ziehen, ist Angst vor neuer Gefangenschaft. Die Perspektive der Stärke ist und bleibt die einer hoffnungslosen Minorität. Sie ist eine Projektion: von unten. 'Nicht weil ihr zahlreicher wäret als alle Völker, hat der Herr sein Herz euch zugewandt und euch erwählt – denn ihr seid das kleinste unter allen Völkern -, sondern weil der Herr euch liebte und weil er seinen Eid hielt, den er euren Vätern geschworen, darum hat euch der Herr mit starker Hand herausgeführt und hat dich aus dem Sklavenhaus befreit, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten' (Deuteronomium [5. Buch Mose] 7, 7-8). Die Landtheologie ist Befreiungstheologie für Sklaven“ (Marquardt, 274f.).

Literatur
Freidrich-Wilhelm Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie. Band 2, Gütersloh 1994

Nation, Land und Staat Israel in postmoderner jüdischer Philosophie – ein Denkanstoß für christliche Bundestheologie?

David Novak, jüdischer Philosoph in Toronto, Kanada, reflektiert die biblischen Landverheißungen im Sinne traditioneller rabbinischer Auslegung und moderner Philosophie. Sein Fazit: Jüdische Bundestheologie begründet einen modernen Rechtsstaat, in dem Gemeinschaften unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Religion zusammen im Land Israel leben.
Von Tobias Kriener

Als "Schüler" Marquardts beleuchtet Kriener dessen Auslegung der biblischen Landverheißung in Bezug auf den heutigen Staat Israel. Er kritisiert das Ausblenden realpolitischer Fakten des 20. Jahrhunderts. Diese seien mit der biblischen Landnahme im Einzelnen nicht zu vergleichen. Kriener selbst plädiert für eine „konsequent uneschatologische Sicht Israels inmitten der Juden in aller Welt und inmitten der Völker der Welt“, die auch das „Heimatrecht“ der Palästinenser umfasse. Zu dieser Sicht habe Marquardt selbst in seiner den Eschatologie-Bänden folgenden „Utopie“ (1997) die Tür geöffnet.
Eine Broschüre des Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

"60 Jahre Staat Israel. Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist" - das Themanheft 2008 des Deutschen Koordinierungsrats e.V. mit theologischen, gesellschaftspolitischen und pädagogischen Beiträgen steht bereit zur Online Bestellung.
Von Tobias Kriener

Das politische Ereignis der Existenz Israels bewirkte eine Umkehr im theologischen Denken über das Verhältnis von Kirche und Israel. Karl Barth würdigte die Existenz des Staates Israel bereits zwei Jahre nach seiner Gründung in der „Kirchlichen Dogmatik“. Und umgekehrt? Beeinflussten kirchliche Stellungnahmen deutsche Politiker? Den drei in der evangelischen Kirche engagierten Bundespräsidenten Heinemann, von Weizsäcker und Rau zumindest waren die deutsch-israelischen Beziehungen ein persönliches Anliegen „jenseits außenpolitschen Kalküls“.
Kirchliche Verlautbarungen aus uniertem und reformiertem Kontext

Eine Dokumentation von Auszügen aus kirchlichen Beschlüssen und theologischen Stellungnahmen der Jahre 1980-2001 der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelisch-reformierten Kirche, der Union Evangelischer Kirchen, der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa und des Reformierten Bundes zum Staat Israel
Probleme christlicher Stellungnahmen zum Staat Israel

In dem Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel sieht der Alttestamentler Frank Crüsemann die möglicherweise größte Herausforderung für christliche Theologie dieser Tage. Er benennt drei Problemfelder einer christlich-theologischen Beurteilung des Staates Israel und erinnert an drei Aspekte, die für weitere kirchliche Stellungnahmen zum jüdischen Staat zu bedenken sind.