Vom 500. Jahrestag der Reformation zum 22. Jahrestag der Ermordung Jitzchak Rabins

Nes Ammim - aus dem Alltag in einem nicht-alltäglichen Dorf in Israel. 66. Kapitel


von Tobias Kriener

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Inhalt Tagebuch

Tobias Kriener erzählt:

Am 31. Oktober hatten sich tatsächlich 5 Mitspieler_innen gefunden, so dass wir eine komplette 6-er Runde hatten. Die Volos haben sich tapfer geschlagen und 3 Runden durchgehalten. Dann waren ihre Kräfte allerdings erschöpft, und wir haben abgebrochen. Aber schön war's. Und es hatte den Vorteil, dass ich abends noch zu meiner Bläserprobe gekommen bin.

Donnerstag haben wir einige Kirchen im Westen Jerusalems besucht. Unser Guide, Ilan, ein religiöser Jude, hat uns diese Stätten, die biblische Geschichten aufgreifen und theologische Denkfiguren ins Bild setzen, aus jüdischer Perspektive erläutert und ans Herz gelegt: In Ein Karem die Kirchen, wo nach der Tradition Johannes der Täufer geboren wurde und Maria sich mit ihrer "Base" Elisabeth traf, worauf sie das "Magnificat" anstimmte; in Kirjat Jearim die Kirche, die Maria mit der Bundeslade vergleicht, die hier gestanden hat; in Abu Gosh eine wunderschöne Kreuzfahrerkirche, in der noch recht gut die Originalbemalung erhalten ist, an einer der vier Stellen, die verschiedenen Traditionen als das Emmaus aus Lukas 24 identifizieren; schließlich Latrun und ganz in der Nähe eine weitere Emmaus-Kirche, wo wir bei Mondschein ein Gespräch mit einer Ordensschwester hatten.

Für mich ganz neu war der Vergleich von Maria mit der Bundeslade: Ein Gefäß zur Aufbewahrung und zum Transport des Heiligen. Wie Ilan sagen würde: "Interesting ...". Für Protestanten natürlich erst mal ein ganz fremdartiger Gedanke - aber beim zweiten Nachdenken darüber doch ein reizvoller katholischer Midrasch zur Bundeslade ...

Freitag sind Katja und ich nach Tel Aviv gefahren und haben in einem ungemein hippen Hotel im Stadtteil Florentin übernachtet - ein wunderschönes Beispiel für die Gentrifizierung, die dort in vollem Gang ist. Wir konnten es uns nur deshalb leisten, weil unser Zimmer direkt neben der U-Bahn-Baustelle liegt, weshalb es einen ordentlichen Rabatt gab. Am Samstag Morgen gingen die Bauarbeiten glücklicherweise erst spät und mit begrenztem Maschineneinsatz los, so dass wir gut ausschlafen konnten, bevor wir dem Kranfahrer zuwinkten, der uns direkt ins Badezimmer schauen konnte.

Die Wartezeit bis zur Jitzchak-Rabin-Gedenk-Demo vertrieben wir uns am Strand. Pünktlich um 18.30 klappte es bestens mit dem Versammeln der Volos am vereinbarten Treffpunkt auf dem Jitzchak-Rabin-Platz. So hatten wir noch eine Stunde Zeit, uns auf dem Platz an den verschiedenen Ständen umzusehen von Schalom Achschaw über Meretz und Avodah bis Breaking the Silence.

Es war übrigens bis zuletzt nicht klar, ob diese Stände in diesem Jahr da sein würden. Die Veranstalter waren nämlich nicht - wie in der Vergangenheit - die Partei Rabins (die Arbeitspartei) oder Schalom Achschaw, sondern zwei sich als unpolitisch verstehende Organisationen - "Offiziere für die Sicherheit Israels" und "Darkenu - Unser Weg" -, die die Veranstaltung unter das Motto stellten: "Wir sind ein Volk". Die wollten eigentlich gar keinen Stände der "üblichen Verdächtigen" vor Ort haben und versuchten bis kurz vor Beginn, auf jeden Fall Breaking the Silence und Schalom Achschaw vom Platz zu kriegen; aber die weigerten sich einfach - und so waren ihre Gegen-Slogans - "Ein Volk besetzt ein anderes Volk" - "am ächad kovesch am acher" (Breaking the Silence) und "Zwei Staaten für zwei Völker!" - "schtei medinot leschnei amim!" (Schalom Achschaw) doch auch für die Fernsehkameras kaum zu übersehen ...

Politiker waren als Redner nicht zugelassen. Die meisten Reden beschworen den Friedensschluss zwischen Rechts und Links in Israel. An Frieden zwischen Israel und den Palästinensern glaubten sie entweder nicht oder hielten ihn für nicht so wichtig. Nur ein Redner forderte ausdrücklich das Ende der Besatzung (und nahm diesen verpönten Begriff: "kibbusch" doch tatsächlich in den Mund)): der arabisch-palästinensische Israeli Thabet Abu Rass, Co-Executive Director der Abraham Fund Initiative. Immerhin: Die Veranstalter hatten ihn als Repräsentanten eines Teils des Staats-Volks eingeladen.

Auch ein Vertreter der Siedler erhielt Gelegenheit zu sprechen: Oded Revivi, Bürgermeister von Efrat, einer Siedlung im Gush-Etzion-Block, dessen Siedlungen Teil des sog. "Israelischen Konsenses" sind, d.h. es gilt als ausgemacht, dass sie im Falle eines Friedensschlusses Teil Israels werden. Er war vor allem am Frieden zwischen den Tel-Aviv-Israelis und den Siedlern interessiert und sprach deshalb immer wieder mit der altbekannten Formel der jüdischen Liturgie von "schalom aleinu we-al kol-jisrael" (Frieden über uns und ganz Israel). Über einen Frieden mit den Palästinensern verlor er kein Wort.

Viel war die Rede von der "Überwaltigenden Mehrheit der Gemäßigten" - "ha-rov ha-muchatz shel ha-metunim" - gegenüber den Extremisten auf beiden Seiten: der Mörder Rabins auf der einen - und auf der anderen Seite: Breaking the Silence? Betselem? ...

Revivi mag ja tatsächlich ein "Gemäßigter " sein - wenn man einmal ausblendet, dass Efrat eine Siedlung ist, die nach internationalem Recht illegal ist. Aber das kann nun wirklich nicht für beispielsweise Jehuda Glick gelten. Ich traute meinen Augen kaum, als ich ihn ein paar Meter von uns entfernt freundlich lächelnd und Selfies mit Friedensdemonstranten schiessend über den Platz streifen sah: Er arbeitet nämlich daran, den 3. Tempel noch in unseren Tagen zu bauen - was voraussetzt, dass die Moscheen, die dort jetzt (noch) stehen, verschwinden müssten. Mit ihm besuchten seine Parteifreunde von "ha-bajit ha-jehudi" (Das Jüdische Heim - die nationalreligiöse Siedlerpartei) Uri Ariel und Nissan Slomianski diese Gedenkveranstaltung für Rabin. Wenn diese Leute sich zur "Gemäßigten Mehrheit" rechnen dürfen ...

Für mich persönlich, der ich vor 22 Jahren fassungslos vor dem Fernseher saß, als CNN live vom Mord an Rabin berichtete, war es sehr bewegend, einmal bei dieser Gedenkveranstaltung an diesem Ort dabei gewesen zu sein und die Gruppen getroffen zu haben, die noch an der Perspektive eines Friedensschlusses mit den Palästinensern festhalten. Aber die Rahmenbedingungen und vor allem die Überschrift - "Wir sind ein Volk" - lassen für mich kaum einen Zweifel daran, dass Rabins Erbe gerade vollkommen umgedeutet und er für einen Konsens instrumentalisiert wird, der die Siedlungsbewegung ein- und damit einen Kompromiss mit den Palästinensern ausschließt.

Tja - wo bleibt jetzt "das Positive"?

Nach meinem Eindruck läuft es in Nes Ammim gerade sehr gut. Viele Freiwillige, die eine wunderbar konstruktive Haltung haben. Veränderungen im Management, die zu einer erheblichen Hebung der Stimmung geführt haben. Jede Woche Gruppen, die beeindruckt sind von der Idee Nes Ammims. Ich muss mich einfach an das Gedicht von Gerti Spiess im HOPS halten, das als Beginn der Sünde des Unschuldigen benennt, dass er die Schultern zuckt und sagt: "Da kann man nichts machen." Im Umkehrschluss gilt für Nes Ammim: Man kann immer etwas machen - auch wenn es noch so unscheinbar ist - auch wenn drumherum alles ziemlich aussichtslos erscheint ...


Tobias Kriener