Ein Wort mit Hand und Fuß

Courage zeigen. Auf die Straße gehen. Wie ist Veränderung auf friedlichem Weg möglich?


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Eine Predigt von Vikar Fabian Brüder über Joh 1,1.4.14 – über die Sehnsucht nach Veränderung und das Wort mit Hand und Fuß.

„I follow the Moskva… down to Gorki Park, listening to the wind of change.“ – Na, singen Sie schon mit? Ich selbst kann gar nicht anders. Nicht bei diesem Lied. Ihm ist ein Zauber zu eigen, der mich jedes Mal aufs Neue in seinen Bann zieht. Wie zuletzt beim Konfi-Camp, abends am Lagerfeuer. Spätestens beim Refrain bricht es dann auch aus den Schüchternsten heraus: „Take me to the magic of the moment on a glory night…!“

Der Zauber des Wind of Change

The magic of the moment – da sind die Bilder von der großen Montagsdemo in Leipzig am 9. Oktober 1989. 70.000 Menschen, die ihre Angst überwinden. Courage zeigen. Auf die Straße gehen. Ihrer Sehnsucht nach Veränderung friedlich Ausdruck verleihen. Und da sind die Bilder vom Mauerfall in der Nacht auf den 10. November: Staunende, fassungslose Gesichter. Freudentränen. Umarmungen. Siegesfäuste, die in den Nachthimmel ragen. Der Wind of Change – er schien sich tatsächlich Bahn zu brechen in jenen Herbst- und Wintermonaten des Jahres 1989. Kein laues Lüftchen, keine seichte Brise, sondern ein echter Wind of Change.
Irgendwie ist die Stimmung von damals immer noch greifbar – dann, wenn Klaus Meine jene „Hymne der Wende“ mit seinem einsamen Pfeifengesang anstimmt und sich mit einem Mal der Himmel erneut in das Dämmerlicht jener Herbstmonate färbt. Dann liegt sie wieder in der Luft: die Sehnsucht nach Wandel und Veränderung – und mit ihr ein Hauch von Nostalgie: Denn das, wovon das Lied einst erwartungsvoll kündete, scheint bereits verklungen. Längst ist der Zauber jener Tage und Nächte für so manchen verblasst. Ermattet auch der Glanz der Zauberworte „Perestroika“ (Umgestaltung) und „Glasnost“ (Offenheit). Die Jahrzehnte des Umbruchs – sie haben so manche Hoffnung schmerzlich wie unausweichlich entzaubert.

Eine neue Zeit bricht an

Gerademal ein Vierteljahrhundert liegen jene Herbstmonate hinter uns. Und mit ihnen ein Jahrhundert voller Hoffnungen, Utopien, Träume und Illusionen. Eine neue Zeit ist angebrochen – vielleicht auch noch im Anbruch begriffen. Nur was für eine?
Als sei es selbstverständlich, orientiert sich unsere Zeitrechnung an dem Geburtsjahr eines Menschen mit Namen Jesus. Dabei setzte sich sein Geburtsjahr erst um das Jahr 1000 als Fixpunkt einer neuen Zeitrechnung durch. Eine Entscheidung mit Aussagekraft: Christi Geburt ist mehr als irgendein Meilenstein der Weltgeschichte. Mit Christi Geburt legt Gott den Grundstein für einen Neuanfang mit der Welt. Nur: Hat sich seitdem wirklich irgendetwas grundlegend verändert?

Das, wogegen Jesus seine Stimme erhob, scheint doch so allgegenwärtig wie eh und je: Der maßlose Geltungsdrang, der nicht nur jenseits des großen Teiches das friedliche Zusammenleben in der Welt leichtfertig aufs Spiel setzt. Die unzähligen Abgrenzungen und Ausgrenzungen, die unsere Gesellschaft durchziehen. Ab- und Ausgrenzungen, die das „Wir“ immer weiter beschneiden bis schlussendlich nur noch ein „Ich“ übrig bleibt. Hat sich an alledem seit Jesu Geburt wirklich etwas grundlegend verändert? Etwas, das es berechtigt erscheinen ließe, Jesu Geburt zum Dreh- und Angelpunkt  unserer Zeitrechnung zu erklären? Selbst das, wofür er eintrat, scheint noch in weiter Ferne: Ein wirklich gerechtes Miteinander, gegenseitige Achtsamkeit, Fürsorge und Wertschätzung; eine Gottesbeziehung, die Menschen den unermesslichen Wert eines jeden Lebens erkennen lässt.
Der Himmel auf Erden –  er wirkt an manchen Tagen rar gesät. Das gelobte Land mit seinen unendlichen Weiten, es liegt wohl (immer noch) in unerreichbarer Ferne.

Manchmal scheint es, als warte die Welt noch auf ihre Initialzündung – als warte die Menschheit immer noch auf die zündende Idee, mit der sich der Lauf der Welt endlich und endgültig zum Besseren wandelt. In keinem Jahrhundert schien die Möglichkeit eines solchen Neuanfangs greifbarer und die Hoffnung auf einen solchen gewisser als in den zurückliegenden hundert Jahren.

Leidenschaft und Ernüchterung

Die Weichen für einen der wohl radikalsten Versuche des letzten Jahrhunderts, die Welt zu verändern, wurden dabei in München gestellt. Hierher hatte es im Herbst 1900 einen Mann namens Wladimir Iljitsch Uljanow verschlagen. Quartier bezog er im Stadtteil Schwabing. In der bayerischen Hauptstadt sollte er sodann auch den Namen annehmen, unter dem er später Bekanntheit erlangte: Lenin. Lenin ist ehrgeizig: Tag ein Tag aus macht er sich auf den Weg in die Staatsbibliothek. Der 32-Jährige hat schließlich nichts Geringeres im Sinn als eine grundlegende Veränderung der Welt – mit Russland als Ausgangspunkt! Alles sollte anders werden. Von Grund auf. Nur wie? Lenin vertraute der Idee, die seit Marx und Engels durch Europa geisterte und so mancherorts längst eingefleischte Anhängerinnen und Anhänger gefunden hatten: dem Kommunismus.

Der eifernde Revolutionär wollte den Versprechen jener Idee dabei nicht einfach tatenlos nachträumen. Ihm schien die Zeit reif, Fakten zu schaffen. Umzugestalten. Die Gesellschaft umzukrempeln. Doch konkurrierten eine Unzahl an Vorstellungen, wie jene Idee verwirklicht werden sollte! Man stritt und zerstritt sich – nicht nur über die geeigneten Mittel. Seine eigenen Vorstellungen, wie jene Idee in die Realität umzusetzen sei, schrieb Lenin indes in München nieder. Schon der Titel jener Schrift zeugt von seinem entschlossenem Tatendrang: „Was tun?“ Es musste etwas geschehen – daran bestand für Lenin kein Zweifel. Wie es war, so konnte es nicht bleiben: Das soziale Elend, die Ungleichheit zwischen Arm und Reich im Bildungswesen, in der Gesundheitsversorgung und beim Zugang zu menschenwürdigem Wohnraum – das alles konnte für ihn nicht ohne Widerspruch und Widerstand hingenommen werden!

Im Herbst 1917 schien die Zeit gekommen: Unter Federführung Lenins fegte über das bereits verblühte Zarenreich eine Revolution hinweg, die seiner Bevölkerung tiefgreifende wie verhängnisvolle Veränderungen bescheren sollte. Alles sollte von Grund auf anders werden: Gesellschaft, Wirtschaft, Bildung – ja, der Mensch überhaupt! Statt einem zaghaften Nachjustieren hier und da, war Radikalität die Losung der Stunde. Doch das bedrohliche wie leidenschaftliche Rot, das die Radikalität des Dranges nach Veränderung weithin sichtbar werden ließ, verwandelte sich binnen weniger Jahrzehnte in ein tristes, trostloses Grau. Die Wüste und Öde, die das Bild weiter Landstriche bestimmte, machte augenfällig, was sich auch mit farbigen Worten nicht länger verschleiern ließ: Der heiß- wie kaltblütige Traum Lenins von einem fundamentalen Wandel der Gesellschaft, von der Erschaffung eines besseren Lebens mit besseren Menschen – er hatte sich ausgeträumt. Mehr noch: Ihm war Hohn gesprochen worden von den herrschaftlich residierenden Bürokraten seiner pseudo-proletarischen Traummaschinerie.

Inmitten der Ruinen jener Träume wurde derweil der Ruf nach einem Ende des Systems laut, schimmerten doch für manche am Horizont bereits neue, viel versprechende Hoffnungen: Freiheit und Aufschwung. Und während sich einige von jener Aussicht resigniert oder gar misstrauisch abkehrten, sorgten andere für das Wachsen und Gedeihen jener Bewegung, die letztlich in den Herbst des Jahres 1989 münden sollte. Es sollte nicht lange dauern, bis für manche auch auf jene „Wende“ erneut Ernüchterung und Enttäuschung folgten. Verhält es sich mit den Wehen und Folgen von Veränderungen etwa so, wie Shirley Bassey es besingt: „It’s all just a little bit of history repeating.“ (Es ist doch alles nur ein Stück Geschichte, das sich wiederholt.)?

Der Schrei nach Veränderung – und ein Wort mit Hand und Fuß

Die Welt schreit nach einer grundlegenden Veränderung. Doch wird dieser Schrei jemals dadurch, wie Menschen auf ihn zu reagieren versuchen, abklingen oder gar verstummen? Nach all den gescheiterten und entzauberten Versuchen, die Welt grundlegend zu verändern, stellt sich doch die Frage: Was soll man dem unerbittlichen Schrei nach Veränderung überhaupt noch entgegnen? Stehen wir nach den Erfahrungen des zurückliegenden Jahrhunderts dem unüberhörbaren Schrei nach Veränderung sprachlos gegenüber?

Veränderung – das ist für uns Reformierte  ja eigentlich kein Fremdwort. Verstehen wir uns doch als die nach Gottes Wort reformierte und zu reformierende Kirche! Als evangelisch-reformierte Kirche können und wollen wir gar nicht anders, als uns und die Welt immer wieder aufs Neue zu reformieren. Verändern lassen wollen wir uns jedoch nicht von allem und jedem - sind wir doch schließlich die nach Gottes Wort reformierte und zu reformierende Kirche! Das klingt zunächst einmal ziemlich konservativ, verstaubt und obendrein auch noch weltfremd. Doch ist es das wirklich? Oder hat sich in dieser Hinsicht mit der Geburt Jesu nicht etwas grundlegend verändert? Im Evangelium nach Johannes heißt es im ersten Kapitel wie folgt:

„Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gottes war das Wort. […] Und in ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. […] Und das Wort wurde Fleisch und wohnte mitten unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, wie sie ein Einzig-geborener vom Vater hat, voller Gnade und voller Wahrheit.“ (Joh 1,1.4.14)

Gottes Wort wurde Fleisch. Oder anders gesagt: Gottes Wort wurde Mensch. Es bekam Beine, Hände, Augen, Ohren, eine Stimme – damals, in Bethlehem, bei der Geburt Jesu Christi. Ein Ereignis mit Folgen. Mit ihm sollten Menschen Gottes Wort zum ersten Mal leibhaftig begegnen, als Mensch mit Haut und Haaren, von Angesicht zu Angesicht. Sichtbar. Lebendig. Zum Greifen nah.

Gottes Wort wurde Mensch – und stellte sich der Welt und ihrem Schrei nach Veränderung. Das Mensch gewordene Wort Gottes – es versucht nicht, den Schrei nach Veränderung zu übertönen. Es stimmt auch nicht einfach in ihn ein oder brüllt ihn nieder. Weder mit populistischen Parolen noch mit imposanten Theoriegespinsten. Stattdessen geht das Mensch gewordene Wort mit Namen Jesus auf den Schrei nach Veränderung zu – und lässt ihn zu Wort kommen. Lässt den Schrei überhaupt erst Worte finden für seinen Schmerz, seine Angst und Hilflosigkeit. Der Schrei nach Veränderung, er wird von Gottes Wort nicht zum Schweigen gebracht. Sondern zum Reden. Endlich wird er wirklich ernst genommen – der Schrei nach Veränderung. Eine heilsame Erfahrung für diejenigen, die ihn ausgedrückt haben: Der ins Abseits gedrängte Aussätzige, die unterdrückte Fremde, der übergangene Gelähmte. Sie alle begegneten dem Mensch gewordenen Wort Gottes. Statt von ihm eine ausgefeilte Lehre vorgelegt zu bekommen, erfuhren sie zuallererst eines: Zuwendung. Eine Begegnung, die dem Schrei nach Veränderung ermöglichte, sich in Worte zu verwandeln, in den Dialog mit Gottes Wort zu treten, und mit Gottes Wort Schritt für Schritt einen Lebensweg zu beschreiten.

Jesus, das Mensch gewordene Wort Gottes, verlangt keinen blinden Gehorsam. Sondern Gehör. Es will wachsame und neugierige Zuhörerinnen und Zuhörer. Es ist bereit, sich hinterfragen zu lassen. Fragt hier und da selbst nach. Hakt nach. Bringt sein Gegenüber zum Nachdenken – ohne ihn dabei in die Ecke zu drängen. Stattdessen macht es sein Gegenüber auf mögliche neue Wege aufmerksam. Auf Umwege und Auswege. Die Verantwortung für den eigenen Weg nimmt Gottes Mensch gewordenes Wort seinem Gegenüber keineswegs ab. Aber es spricht ihm Mut zu, die ausgedienten Wege nicht immer wieder von Neuem abzuschreiten. 

Jesus, das Mensch gewordene Wort, lässt sich nicht zum Verstummen bringen. Wer versucht, seiner habhaft zu werden, es Dingfest zu machen – wie einst auf einem Kreuz – er wird erfahren, dass es sich seinen Mund dadurch nicht verbieten lässt. Mehr noch: Viele, die ihm begegnet sind, die Gottes Mensch gewordenes Wort gehört haben, bringen es auch weiterhin zur Sprache. Nicht um den Schrei der Welt nach Veränderung zum Verstummen zu bringen. Nicht um ihn zu übertönen oder niederzubrüllen. Sondern um dem Schrei der Welt mit Gottes Wort zu begegnen, und dieser Begegnung Taten folgen zu lassen.

Gottes Wort ist lebendig wie eh und je, weil es kein Wort ist wie die vielen anderen Worte in dieser Welt. Es ist Gottes Wort. Ein Wort mit Hand und Fuß. Es ist der Grundstein, mit dem Gott einen unverrückbaren Neuanfang gelegt hat. Wer auf ihn baut, braucht keine Luftschlösser mehr zu träumen.

Amen.

 


Vikar Fabian Brüder