Ansprache zum Jahrestag der Reichspogromnacht am 9.11.1938

Rheydt, den 9.11.2017


Die Reichspogromnacht 1938 markiert eine Phase der Gewalt und Auslöschung. Einer der wenigen, die fliehen konnten: Hier verewigt auf einem Stolperstein © Pixabay

Martina Wasserloos-Strunk, Evangelischer Kirchenkreis Gladbach-Neuss, Philippus-Akademie

Meine Damen und Herren,

die jüdische Philosophin Hannah Arendt hat in ihren Werken immer wieder die Frage danach gestellt, was genau „das Böse“ sei.

„Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen, d. h. das, womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf. (…) Das Böse kann die ganze Welt verwüsten, gerade weil es wie ein Pilz an der Oberfläche wuchert. Tief aber und radikal ist immer nur das Gute!“ (Hannah Arendt, „Über das Böse“, 1965)

Der 9. November 1938 war der Tag, an dem auch dem Letzten klar werden musste, wie ernst es steht mit Deutschland. Der Letzte konnte sehen, dass realistisch war, was man bis dahin noch als „vielleicht etwas übertrieben aber doch nicht ernst gemeint“ abtun konnte: die gewaltsame Auslöschung von Nachbarn, Geschäftspartnern, Mitschülerinnen, Vereinskameraden, Arbeitskolleginnen, Lehrern, von Schulfreunden der Kinder, von Freunden aus der Jugend – wir können die Beziehungen nicht umfassend aufzählen. Gewaltsame Auslöschung von Beziehungen. Von Menschen.

Mit dem Pogrom am 9. November 1938 war begonnen, was dann folgte: Verfolgung, Deportation und Vernichtung. Was uns heute immer weniger deutlich ist: das Verbrechen kam nicht unerwartet.

„Es wird schon nicht ohne Grund sein!“. „Wer sich nichts zu Schulden kommen lässt, muss auch keine Angst haben!“, „Es betrifft nicht uns, es betrifft die anderen“ – so haben viele gedacht!

Die Bereitschaft zur Gewalt, die Verrohung der Seelen, das Wegsehen – es traf auf eine innere Bereitschaft vieler Menschen die schon länger sorgfältig gefördert und vorbereitet worden war.

Heute treffen wir uns hier zum Gedenken an die Opfer des 9. November 1938. Vielleicht mehr als in allen Jahren zuvor muss uns dabei klar sein: was wir hier tun ist kein Ritual. Es ist nicht ein Zusammenkommen bei dem die Vergangenheit allein im Zentrum steht, sondern es ist ein Treffen bei dem wir uns dessen vergewissern, was die Generationen nach dem Krieg für sich und uns unumstößlich formuliert haben: „Nie wieder!“

Mehr denn je ist uns angesichts des Erstarkens rechter Kräfte in Deutschland deutlich: Das ist ein Auftrag, kein Ritual. Wenn wir heute aufmerksam in die politische Landschaft sehen, können wir feststellen, wie vieles von dem, was wir in den letzten Jahrzehnten mühsam erarbeiten, begreifen, eingestehen und uns schließlich aneignen mussten von bestimmten politischen Kräften in Frage gestellt wird. Der Faschismus erhebt seine Fratze, wenn Sätze fallen die beginnen mit „man wird doch wohl noch einmal sagen dürfen!“ oder „weil wir die Wahrheit sagen, wollen uns die herrschenden Eliten mundtot machen“ oder „wir holen uns das Volk zurück!“

Mit großer Schamlosigkeit dehnen die Wortführer die Spielräume des Sagbaren aus und schneller als wir es begreifen können, werden ihre Theorien gesellschaftsfähig, werden sie zu gesuchten Gesprächspartnern. Die braune Parallelgesellschaft mit ihren schrillen Wortführern will die deutsche Geschichte umdeuten und daraus Konsequenzen ziehen, die aufs Neue Menschen entwürdigen und diskriminieren, die Angst schüren und den gesunden Menschenverstand in Frage stellen.

Die rassistischen Narrative dieser selbsternannten Aufklärer vergiften unsere Gesellschaft. Sie spalten, sie bringen Unfrieden in Familien und Freundeskreise und sie sind so schlimm wie die Motive derer, die im November 1938 hier die Fackeln geschwungen und die Brandsätze geworfen haben.

Mit ihren perfiden Ausführungen zur „Herstellung von Mischvölkern, zur Neubewertung der Rolle der Wehrmacht, zum Islam, zur Religionsfreiheit, zu Flüchtlingen, legen die Wölfe die Schafspelze ab! Machen wir nicht den Fehler das nicht ernst zu nehmen! Machen wir nicht den Fehler zu glauben, das seien Einzelstimmen und machen wir auch nicht den Fehler zu meinen, es fehle hier an intellektueller Befähigung und Grundlage. Nie wieder ! Die da brüllen sind keine Dummen!

Wer in diesen Chor einstimmt muss sich klar sein, dass seine und ihre Wahl nicht eine Protestwahl gegen irgendeine Partei oder eine politische Haltung ist! Diese Wahl ist eine Protestwahl gegen die Demokratie – nicht weniger. Meine Damen und Herren, in unserer guten, starken und überzeugenden Demokratie müssen wir vor nichts Angst haben, außer vor denen, die uns erklären wollen, was Deutsch ist und wie wir es leben sollen, vor denen, die unterscheiden in „Wir und Ihr“, in „Wir Deutschen - ihr Anderen“ und die mit der Bonbontüte voll hohler Phrasen durch die Republik laufen. Wir müssen Angst haben vor denen und vor denen, die die Bonbons genussvoll lutschen!

Wir müssen nicht Angst haben vor der Vielfalt, sondern vor der Einfalt! „Nie wieder!“ das heißt nicht nur – nie wieder brennende Gotteshäuser, das heißt auch: nie wieder wegducken. Nie wieder still sein. Nie wieder Angst haben vor den Brandstiftern. Nie wieder auf die Verführer hereinfallen. Nie wieder mitmachen.

Nehmen wir sie also beim Wort, die Wählerinnen und Wähler der neuen Rechten. Fragen wir sie doch: warum gebt ihr unsere Demokratie auf? Warum beschädigt ihr unsere gemeinsame politische Kultur, die euch alle Freiheit zu Reden, zu Handeln und auch zu Protestieren gibt. Ihr tut das in dem ihr eine Partei wählt, die genau auf diese Kultur pfeift! Warum? Warum versteckt ihr Euch hinter der Lüge es sei schließlich nur „Protestwählerei“, so als ginge es um nichts, so als wolltet ihr nur spielen - mit unserer Demokratie… ? Weil ihr Euch abgehängt fühlt - wovon? Weil ihr Angst habt - wovor? Weil ihr kein Vertrauen habt – in was? Fragen wir sie es doch!

Wenn wir heute am 9. November 2017 an die Menschen denken, die vor 79 Jahren zu Opfern des Pöbels wurden – dann tun wir gut daran, uns an das „Nie wieder“ zu erinnern. Und daraus Konsequenzen für uns zu ziehen. Für unsere Haltung zu politischen Fragen. Für unser Miteinander in dieser Gesellschaft. Für die Diskussionen mit denen, die unsere Werte nicht mehr teilen können. Meine Damen und Herren, ich weiß, dass das scharf klingt und provoziert. Und dennoch: unsere Demokratie lebt davon, dass wir uns ernst nehmen. Sie lebt davon, dass man politischem Handeln etwas zutraut: dem einen, wie dem anderen. Ernst nehmen und deutlich sein: Das ist die erste Voraussetzung für das „Nie Wieder“.


Martina Wasserloos-Strunk