Partita über 'O Mensch, bewein ...'

Karfreitagspredigt

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Predigt über Matthäus 27,33-60 zum Karfreitag von Jürgen Kaiser, Berlin

Thema:

O Mensch, bewein dein Sünde groß,
darum Christus seins Vaters Schoß
äußert und kam auf Erden;
von einer Jungfrau rein und zart
für uns er hier geboren ward,
er wollt der Mittler werden.
Den Toten er das Leben gab
und tat dabei all Krankheit ab,
bis sich die Zeit herdrange,
dass er für uns geopfert würd,
trüg unsrer Sünden schwere Bürd
wohl an dem Kreuze lange.

 

Variation I

Am 15. April 1729, ungefähr um fünf am Nachmittag, fiel ein Tropfen auf ein Blatt Papier und verwischt dort das c des Basses und einen Teil des Wortes „ruh“. Der Tropfen fiel aus dem Gesicht des Johann Sebastian Bach, der seit 10 am Morgen am Pult stand und die Musiker bändigte, nur unterbrochen durch eine lange und pathetische Predigt und fast noch längere Gebete. Der Tropfen fiel auf der letzten Seite einer handschriftlichen Partitur.

Da die Sache mit dem Tropfen nicht überliefert ist, ist auch nicht bekannt, ob sich der Tropfen aus einem seiner gerade überlaufenden Augen löste oder ob er ihm von der Stirn rann, wo kleine Perlen sich zu größeren vereinten und darauf warteten, von der Schwerkraft in die Tiefe gerufen zu werden. Es ist also nicht bekannt, ob Bach nach der Uraufführung seiner Matthäuspassion weinte oder eher schwitzte. Es ist weiterhin nicht bekennt, ob er für den Rest dieses Tages bei einem Glas Wein traurig war und auch ein wenig entzückt, weil Jesus in seiner – Bachs - Passion so wunderschön gelitten hat und so heilsschwanger gestorben war, oder ob er bei einem Schoppen Bier fröhlich war und in aller Fröhlichkeit erleichtert, weil auch dieser Karfreitag endlich seinen Feierabend bekam und Bach einem Tag Sabbatruhe entgegen sah.

Weinte Bach am Karfreitag über diese traurige Geschichte, die er vertont hatte, oder freute er sich über sein gelungenes Werk?

Weinte der Herrgott am Karfreitag über das Leiden seines Sohnes oder war er froh, dass es endlich vorbei ist?

 

Variation II

Knapp 1700 Jahre vor der Uraufführung der Matthäuspassion fiel ein Tropfen auf einen Fels nahe bei Jerusalem. Er traf dabei etwa ein Drittel eines größeren, schon getrockneten Tropfens Bluts und verwischt ihn ein wenig, dergestalt, dass das getroffene Drittel des Blutstropfens wässrig zerfaserte und die feine Äderung des Felsens abzeichnete. Der Tropfen fiel aus dem Gesicht eines römischen Hauptmanns, der dort seit ungefähr 10 am Morgen stand und die Soldaten bändigte, die ununterbrochen prüften, ob der Delinquent schon tot war, damit sie endlich wieder in die Kaserne einrücken und ihren verdienten Feierabend genießen konnten.

Da die Geschichte mit dem Tropfen in keinem der vier Evangelien überliefert ist, ist auch nicht bekannt, ob sich der Tropfen aus einem der volllaufenden Hauptmannsaugen löste oder ob er ihm von der Stirn rann, wo weitere Perlen darauf warteten, dass die Schwerkraft rief. Es ist also nicht bekannt, ob der Hauptmann nach dem Tod des Jesus von Nazareth weinte oder eher schwitzte. Mehrfach überliefert ist aber eine späte, ja zu späte, gleichsam postmortale Erkenntnis, derzufolge der Hauptmann nach getaner und erfolgreicher Arbeit gesagt haben soll: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“

Allerdings beantwortet diese Überlieferung nicht die Frage, ob der Hauptmann weinte oder schwitzte. Sie gibt lediglich Anlass zu müßigen Mutmaßungen, warum der Hauptmann entweder weinte oder schwitzte. Wenn er weinte, weinte er anders als Bach nicht aus übergroßer Rührung des Gemüts sondern aus tiefer Reue des Gewissens ob einer Tat, die ihm mit einem Schlag als größte Untat erschien, die je ein Mensch auf Erden begangen hatte. Schwitzte er aber, dann schwitzte er auch anders als Bach nicht wegen des stundenlangen Dirigierens und Bändigens sondern aus einer zuvor nie gespürten Angst vor dem Zorne Gottes.

Bereute der Herrgott am Karfreitag, einst diese aus dem Ruder gelaufene Menschheit auf seinen Planeten gepflanzt zu haben oder verspürte er darüber an jenem Tage eher einen nie zuvor empfundenen Zorn?

 

Variation III

Es dauerte 20 Minuten. Dauerte das immer so lang? Sie fragte sich, ob das normal war oder ob etwas mit ihr nicht stimmte. Da war sie wieder, diese Frage, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet hatte. Wie eine Freundin, die man eigentlich gar nicht mochte, aber auch nicht loswurde. Stimmte etwas mit ihr nicht? War sie nicht ganz normal?

Endlich fiel der Tropfen. Seit 20 Minuten wartete sie auf ihn. Eigentlich wartete sie schon tage- wochenlang auf ihn. Im Grund ihr ganzes Leben. Sie hatte nie weinen können. Andere konnten weinen und dann ging es ihnen besser. Sie sah das schon bei ihren ersten Freundinnen im Kindergarten. Die weinten und dann lachten sie wieder. Sie lachte selten und sie weinte nie. Sie wusste nicht, aus welchem Grund es ihr besser gehen sollte. Also ging es ihr auch nie besser. Ihr fehlte jeder Grund für eine Hoffnung. Deswegen war hinter den Augen alles trocken, ein Gemüt aus trocken Stroh.

Nach 20 Minuten aber fiel der Tropfen, auf den sie ihr ganzes Leben gewartet hatte. Der Tropfen fiel auf die kalte Hand ihrer Mutter. Sie prüfte, ob Mutter ihn spürte. Sie starrte auf ihren offenen Mund und wartete darauf, dass Mutter wieder zu atmen anfing. Beruhigt stellte sie fest, dass es ihre Mutter bleiben ließ. Weil der Tropfen Mutter nicht wieder lebendig machte, fragte sie sich, ob es überhaupt eine Träne war. Vielleicht war es gar keine Träne. Vielleicht überdauerte ihre Unfähigkeit zu weinen selbst den Tod der Mutter. Sie schwitzte stark. Vielleicht war der Tropfen gar keine Träne. Sie wusste es nicht. Weil sie nicht wusste, wie sich Tränen anfühlen. Sie merkte nur, dass sie schwitzte. Und sie wusste genau, warum. Weil sie Angst davor hatte, dass die Schwester es merkt, wenn sie gleich ins Zimmer kommt. Sie schwitzte, weil sie sich vor dem Moment fürchtete, dass die Tür aufgeht und die Schwester ins Zimmer kommt und sie von unter herauf ansieht oder von oben herab und sagt: „Warum weinen Sie nicht? Ihre Mutter ist doch gerade gestorben.“

Warum weinen nicht alles Menschen am Karfreitag? Der Sohn Gottes ist doch gestorben.

 

Coda:

Von der sechsten Stunde an verfinsterte sich der Himmel über dem ganzen Land bis zur neunten Stunde. Aus der Wolke, so schwarz wie man sie noch nie gesehen hatte, fiel nur ein einziger Tropfen. Er fiel auf einen Felsen nahe Jerusalem, den der Volksmund Golgatha nannte, und traf auf einen an der einen Seite wässrig ausgefransten Blutstropfen.

Das Matthäusevangelium berichtet von einer Finsternis. Auch habe die Erde gebebt. Gräber hätten sich geöffnet. Im Tempel sei ein Vorhang zerrissen, von oben bis unten, wie das Evangelium betont. Von einem Tropfen aus dem finsteren Himmel ist uns indes nichts überliefert.

Daher wissen wir auch nicht, ob der eine Tropfen aus der Wolke kam, die den Himmel verfinsterte, oder aus einer Ewigkeit über dem Himmel. Hatte der Tropfen den pH-Wert von unbelastetem Regen von 5,6, oder hatte der Tropfen den pH-Wert einer schwer belasteten Träne von 7,35? Es war an jenem Nachmittag kein Wissenschaftler da, der den Lakmustest machte.

Es war auch keiner da, der das Beben auf der Richterskala hätte einordnen können. Und kein Arzt, der den Auferstandenen, die man nach drei Tagen in der heiligen Stadt gesehen habe, einen Lebendenschein hätte ausstellen können. Der Karfreitag entbehrt jeder wissenschaftlichen Expertise. Wissenschaftlich betrachtet bleibt er vage. Daher wissen wir nicht, ob der Lackmusstreifen sich an jenem Tage blutrot eingefärbt hätte. Wir wissen weiterhin nicht, ob das Beben von der Skala als ein Zittern des Bösen vor seinem Richter eingestuft worden wäre. Und da auch kein Arzt zur Stelle war, der das Leben der Auferstandenen hätte wissenschaftlich untersuchen und damit auch den Tod des Todes hätte amtlich feststellen können, bleibt auch das nur ein Gerücht.

Es geschah an jenem Tag Weltbewegendes. Jede Faser der Schöpfung, jedes Molekül, jedes Atom, jedes Elementarteilchen nahm’s zur Kenntnis. Jede Erde, jeder Mond, jeder Stern und Milliarden Galaxien merkten, was geschah. Die Sonne verfinsterte sich, die Erde bebte und im Tempel riss der Vorhang. Die ganze unendliche Schöpfung hielt den Atem an. Nur die Menschen atmeten weiter. Sie merkten nichts. Am Abend gingen sie nach Hause und suchten Ruhe.

Karfreitag, liebe Gemeinde! Vieles bleibt vage: Ob es eine Träne war oder doch nur Schweiß. Ob es ein Opfer war oder doch nur eine Hinrichtung. Ob er Gottes Sohn war oder doch nur ein Hochstapler. Ob er für die ganze Welt gestorben ist oder doch nur für sich allein.

Was die Wissenschaft nicht klären kann, klärt der Glaube? Mag sein! Aber nicht heute! Nicht zu früh. So schnell wie der römische Hauptmann muss man nicht sein. Ein Glaube darf nicht zu schnell wachsen, sonst schießt er nur ins Kraut. Er muss sich Zeit nehmen, um gründliche Wurzeln zu schlagen, fest zu werden und gut zu reifen.

Für heute haben wir genug. Es ist vorbei, der Mensch ist tot, seine Passionen sind gesungen.

„Wir setzen uns mit Tränen nieder
Und rufen dir im Grabe zu:
Ruhe sanfte, sanfte ruf!“

Stille. Dann fiel ein Tropfen auf das Blatt und verwischt das c des Basses und einen Teil des Wortes „ruh“. Das war am 15. April 1729, ungefähr um fünf am Nachmittag. Bach zog ein Taschentuch aus dem Rock und ging nach Hause. Feierabend.

Amen.


Jürgen Kaiser