Hannas Lied

Osterpredigt am 1. April 2018


Von Kirchenpräsident Dr. Martin Heimbucher, Evangelisch-reformierte Kirche

Liebe Gemeinde,

zum Osterjubel anstiften soll uns heute ein Lied aus dem Alten Testament: Hannas Lobgesang aus dem ersten Buch Samuel im 2. Kapitel. Auch im jüdischen Gottesdienst erklingt Hannas Psalm an einem hohen Feiertag, nämlich am Rosch ha-Schana, dem Neujahrsfest. Hören wir zu Ostern drei Strophen aus Hannas Lied:

1 „Mein Herz ist fröhlich in GOTT,
erhoben ist mein Haupt in IHM.
Weit öffnet mein Mund sich
gegen meine Feinde;
denn ich freue mich über deine Hilfe.

4 Der Bogen der Starken wird zerbrochen
Wankende aber gürten sich mit Kraft.
5 Die Satten müssen um Brot dienen,
Hungernde aber können ausruhen.
Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder,
während die Kinderreiche dahinwelkt.

6 GOTT tötet und macht lebendig,
ER führt in das Reich des Todes
und wieder herauf.“

Amen.

I Hannas Weg: Vom Flüstern zum Singen

„Fröhlich ist mein Herz in GOTT,“ so hebt sie an,
„erhoben ist mein Haupt in IHM.
Weit öffnet mein Mund sich
gegen meine Feinde;
denn ich freue mich über deine Hilfe.“

Hanna hat einen weiten Weg hinter s ich,bis sie eines Tages so singen kann: Am Anfang des Samuel-Buches lernen wir sie kennen
als eine der zwei Frauen des Elkana, einem frommen Mann aus dem Stamm Ephraim. Über seine zwei Frauen wird uns mit einem kurzen Satz alles gesagt: „Peninna“, so hieß die eine, „Peninna hatte Kinder, Hanna aber hatte keine Kinder.“

„Hanna aber hatte keine Kinder.“ Diese dürren Worte benennen ein bitteres Frauenschicksal in der alten Zeit – ja, in archaisch geprägten Kulturen auch heute noch. Je länger Hanna verheiratet ist, und immer noch nicht schwanger, desto stärker lastet der Druck auf ihrer Seele. Hinter ihrem Rücken munkeln Verwandte und Nachbarn. „Gott hat ihren Leib verschlossen“, so sagten die Leute. Und schließlich wird Hanna das selber geglaubt haben. Und schutzlos ist sie vor allem den Sticheleien ihrer Nebenbuhlerin Peninna ausgesetzt.

Am schlimmsten ist es an den Feiertagen... Da wallfahrtet die Familie jährlich zum Heiligtum in der Stadt Silo. Und beim Festessen sitzen sie dann alle an einem Tisch: Peninna und ihre Söhne und Töchter beobachten frohgestimmt, wie der Vater Elkana das Fleisch anschneidet. Jeder bekommt ein Stück. Auf der anderen Seite sitzt Hanna, allein. „Was machst du denn schon wieder für ein Gesicht“, zischt Peninna zu ihr herüber. „Du verdirbst einem wieder das ganze Essen!“ Tränen laufen über Hannas Wangen. Nicht einmal die begütigenden Worte von Elkana erreichen ihr Herz. Den Teller mit dem besonders zarten Stück Fleisch, den er ihr gab, schiebt sie wortlos von sich. Sie steht auf und geht hinaus.

Liebe Gemeinde,

lang ist der Weg, bis ein bedrückter Mensch ein Osterlied singen lernt. Es dauert schon lang genug, bis Hanna aufhört, ihren Kummer in sich hineinzufressen; bis sie endlich ihr Schweigen bricht; bis sie damit anfängt, sich ihre Trauer von der Seele zu reden. „Da stand Hanna auf ...“ Allein geht Hanna noch einmal zurück in den Tempel. Mag ihre Kinderlosigkeit ein von Gott verhängtes Geschick sein, so will sie doch jetzt endlich reden mit diesem unheimlichen Gott. Ein Priester beobachtet sie, wie sie dort steht und betet. Sie bewegt ihre Lippen, aber es ist kein Laut zu hören. Hanna flüstert mit Gott. Wer so lange gelitten und geschwiegen hat, dessen Stimme ist nicht gleich in der Lage, Lieder zu singen.

Mit Gott flüstern über erfahrene Gemeinheit ist ein wichtiger Schritt. Ich flüstere manchmal mit Gott und sage: „Herr Jesus Christus, erbarme dich unser.“ In einer scheinbar ausweglosen Situation flüstere ich mit Gott und bitte: „Zeige und führe du einen Weg.“ Oder ich flüstere zu Gott und frage: „Musste das sein? Muss gerade diese Frau noch mehr aufgeladen kriegen?“ Oder: „Muss ausgerechnet der Erfolg haben, dieses Großmaul – und ein anderer, nicht so gewiefter, stolpert.“

Wie viele Menschen auf dieser Welt, Frauen, Männer, Kinder, werden Tag für Tag, Nacht für Nacht, so mit Gott flüstern. Gott sagt denen, die heimlich zu ihm flüstern: „Du kannst den Mund aufmachen. Sprich dich aus. Du kannst reden, laut und frei. Und du wirst singen! Ja. eines Tages wird die weinende und flüsternde Hanna eine Prophetin sein! Eines Tages wird sie wieder im Tempel stehen, aufrecht, erhobenen Hauptes. An der Hand führt sie ihren dreijährigen Sohn, Samuel. Und sie wird ihren Mund weit auftun und ein Lied singen, fröhlich, mit großer Kraft in der Stimme. Und wer könnte es nicht nachempfinden, dass sie dann auch triumphierend hinüberschaut zu Peninna, zu ihrer Widersacherin, die sie jahrelang gedemütigt hat.

II Hannas Erfahrung: So ist Gott

„4 Der Bogen der Starken wird zerbrochen
Wankende aber gürten sich mit Kraft.
5 Die Satten müssen um Brot dienen,
Hungernde aber können ausruhen.
Die Unfruchtbare bekommt sieben Kinder,
während die Kinderreiche dahinwelkt.“

Hanna hat es am eigenen Leib erfahren. Gott hat der Bedrückten geholfen. Er hat sie befreit von dem Schandmal, das andere ihr aufgedrückt hatten. „Hanna, die Unfruchtbare.“ Das neugierige, gehässige Geschwätz der anderen hatte sie abgestempelt. So neigen wir dazu, einander auf unsere Fehler und Schwächen festzunageln. Wie ein Fallbeil trennt das Urteil der anderen einen Menschen von seinen guten Seiten. Der Mensch reduziert auf seine Schwäche: Gesellschaftlich ist der schnell tot. Die anderen gehen auf Abstand.

"Gott hat ihren Leib verschlossen“, sagte man damals. Und heute heißt es vielleicht: „Er hat Krebs.“ Oder: „Sie ist geschieden.“ Oder: „Er hat Bankrott gemacht.“ Oder: „Sie war in der Psychatrie.“ Oder: „Er ist arbeitslos.“

Es scheint keinen Ausweg zu geben aus solcher Isolierung – es sei denn Gott selbst schafft Abhilfe. Trocknet die Tränen. Erhört die flüsternde Klage. Und wendet die Not. Hanna hat genau dies erfahren. Und in ihrem Jubel und in ihrem Dank wird sie sicher: So ist Gott. So handelt Gott an uns Menschen. Das ist Gottes Art.

So verallgemeinert Hanna. Sie stellt ihre persönliche Erfahrung in einen weiten Horizont. So hilft Gott nicht nur dieser unglücklichen Frau. So hilft er überhaupt: Wankende fassen wieder Tritt. Hungernde können feiern. Leute, die gesellschaftlich für tot erklärt wurden, bekommen neuen Mut. So wurde das Danklied der Hanna zu einem Ermutigungstext für das ganze Volk Gottes. Strauchelnd, hungrig, ausgestoßen: Das war die Erfahrung Israels auf langen Wegen durch die Wüste. Danklieder wie Hannas Psalm wurden zu Mutmach-Liedern für ein ganzes Volk. Mit ihrer persönlichen Erfahrung wird Hanna zur Prophetin, zur Zeugin Gottes und – zur Sängerin von der Auferstehung. Denn 1000 Jahre vor Christi Geburt singt Hanna, jawohl: ein Osterlied.

III Hannas Auferstehung

6 „GOTT tötet und macht lebendig,
ER führt in das Reich des Todes
und wieder herauf.“

Hanna hat Auferstehung erlebt, mitten in ihrem Leben, an ihrem eigenen Leib. Errettet wurde sie von dem Tod, der ihr drohte, solange sie kinderlos war: vom sozialen Tod. Kann nicht auch der eine oder die andere unter uns ein solches persönliches Osterlied singen, ein Lied über seine Auferstehung von den Toten?

„Ich war ängstlich und der Hals war mir wie zugeschnürt und jetzt kann ich frei reden über das, was mir zu schaffen macht und über das, was mich freut.“ Oder: „Ich war zum Sterben krank und jetzt kann ich wieder auf beiden Beinen stehen.“ Oder: „Ich war gefangen in Schwermut und Depression und jetzt kann ich wieder singen.“ Oder: „Unsere Liebe war abgekühlt und jetzt können wir einander wieder in die Augen schauen und haben uns etwas zu sagen.“

Ein vielstimmiger Chor von solchen persönlichen Auferstehungsliedern könnte heute mit Hanna singen – und wahrscheinlich singt dieser Chor längst, an vielen Orten dieser Welt, und bestimmt auch hier in Uttum! Hannas Psalm ist heute eingebettet in die Osterbotschaft, umgeben und getragen von dem Jubel: Auferstanden von den Toten ist Jesus Christus, der Herr, und hat den Tod für alle Welt besiegt. An Ostern wird es offenbar: Auch der Gekreuzigte, sogar der tote Jesus noch war geborgen in Gott. Und genauso erfährt es am Ende Hanna: Selbst mein langer Weg durch Demütigung und Erniedrigung war umfangen von der Güte Gottes. Hannas Lied besingt die österliche Erfahrung: Der Weg zum Leben geht durchs Sterben. Aber er führt hindurch. So lassen Sie uns heute auch unser persönliches Osterlied, unsere eigene Ostererfahrung hineinlegen in den großen Jubelruf dieses Tages: „Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden!“

Liebe Gemeinde,

ich könnte und sollte Amen sagen. Aber erlauben Sie mir noch ein Nachwort: Ich möchte diejenigen unter uns besonders ansprechen, denen heute vielleicht gar keine persönliche Oster-Erfahrung einfallen will. Vielleicht ist einfach die augenblickliche Last zu schwer, als dass Sie schon einstimmen könnten in den Lobgesang von der Auferstehung. Ich möchte Sie noch einmal an Hanna erinnern. Sie ist einen langen Weg gegangen, bis sie endlich singend im Tempel stand. Darum möchte ich auch Sie, die Sie heute noch nicht so fröhlich sein können, auffordern, dennoch mitzusingen das österliche Lob. Singen Sie Hannas Lied heute schon mit. Singen Sie es als ein Lied der Hoffnung: Gott hält mein Leben liebevoll umschlossen. Er lässt mich nicht los bei der Niederfahrt. Er führt mich hinaus bei der Auffahrt. Auch ich werde Auferstehung erfahren, die Errettung vom Tod – in Zeit und Ewigkeit. Singen wir also, schon heute:

O herrlicher Tag, o fröhliche Zeit,
da Jesus lebt ohn’ alles Leid!
Er ist erstanden von dem Tod –
wir sind erlöst aus aller Not!
O herrlicher Tag, o fröhliche Zeit!

Amen.


Martin Heimbucher