Weltethos – gleiche Verpflichtungen in allen Religionen!?

Das „Projekt Weltethos“ – Darstellung, Würdigung, Kritik

Reformierte Stimmen zum „Projekt Weltethos“ – aus einem Positionspapier des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), verfasst von Prof. Dr. Reinhold Bernhardt und von Prof. Dr. Sung-Hee Lee-Linke, Studienleiterin an der Evangelischen Akademie im Rheinland.

Hans Küng, Professor für ökumenische Theologie, legte bereits 1990 eine Programmschrift für den „Weltethos der Religionen“ vor. Nur in einer Verständigung über das Gemeinsame im Ethos können die verschiedenen Religionen eine Beitrag zum Weltfrieden leisten, ist Küng überzeugt. 1993 verabschiedete das Parlament der Weltreligionen in Chicago Prinzipien und Weisungen bzw. Selbstverpflichtungen als einen Beitrag der Religionen auf dem Weg zum Weltfrieden.
1995 entschloss sich Graf K. K. von der Groeben, beeindruckt von Küngs Buch „Projekt Weltethos“, zur Verbreitung des Gedankens eines „Weltethos“ eine namhafte Summe bereitzustellen. Die Stiftung Weltethos wurde gegründet. Die Zinserträge des Stiftungskapitals finanzieren die Arbeit eines Forschungsteams unter der Leitung von Hans Küng.

Logo Parlament der WeltreligionenStiftung Weltethos: http://www.weltethos.org 
Erklärung zum Weltethos vom Parlament der Weltreligionen
4. September 1993, Chicago, U.S.A.: Einleitung und Text; Der Text auf Deutsch. PDF

Darstellung, Würdigung und Kritik des „Projekts Weltethos“ aus reformierter Sicht

Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund (SEK): Gemeinsame Handlungsziele statt allgemeine Normen
Sung-Hee Lee-Linke: „Es gibt kein Weltgewissen!“ – Gemeinsam für die Vielfalt des Leben einstehen

Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund (SEK): Gemeinsame Handlungsziele statt allgemeine Normen
„Projekt Weltethos“ – Auszug aus einem Kapitel der SEK-Position 8 (2007), verfasst von Reinhold Bernhardt, Professor für Systematische Theologie in Basel:
„Ausgangspunkt für die interreligiöse Verständigung ist nach Hans Küng und den anderen Vertretern dieses Ansatzes das Bewusstsein der gemeinsamen globalen Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht – Armut, Ungerechtigkeit, Hochrüstung, gewaltsame Auseinandersetzungen, ökologische Katastrophen usw. Vor diesem Hintergrund suchen sie nach gemeinsamen ethischen Grundlagen in den Religionen, aus denen sich Handlungsimpulse für die Verwirklichung humaner Lebensverhältnisse ergeben. So hat die «Erklärung zum Weltethos» des Parlaments der Weltreligionen in Chicago 1993 zwei Prinzipien und vier Weisungen oder Selbstverpflichtungen formuliert, zu denen sich alle der dort vertretenen Religionen bekennen: Das Humanitätsprinzip: «Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden» und die «Goldene Regel»: «Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu.» Oder positiv: «Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen.» Aus diesen elementaren Prinzipen ergeben sich die folgenden Weisungen bzw. Verpflichtungen, die sich in allen Religionen (so etwa in den 10 Geboten) wiederfinden:

-          die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben (das entspricht dem Gebot «Du sollst nicht töten!»)

-          die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung mit fairem Handel (das entspricht dem Gebot «Du sollst nicht stehlen!»)

-          die Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit (das entspricht dem Gebot «Du sollst nicht lügen»)

-          die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung, Achtung und der partnerschaftlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern (das entspricht dem Gebot «Du sollst Sexualität nicht missbrauchen!»)

Mit der Einigung auf diese Verpflichtungen, vor allem aber mit ihrer Einhaltung wäre ohne Frage ein grosser Humanisierungsfortschritt zu erzielen.
Doch darf diese Hoffnung nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Gebote (und die Ethik überhaupt) in den Religionen einen unterschiedlichen Stellenwert haben. Im Buddhismus etwa stehen die ethischen Mahnungen am Anfang des Achtfachen Pfades, wo sie der Lösung von aller ‹Anhaftung› an das Vergängliche und damit Leidschaffende dienen. Doch schreitet dieser ‹Heilsweg› über die Stufe der ethisch-asketischen Zucht hinaus auf die Stufe der meditativen Versenkung, um schliesslich zur Stufe der der erlösenden Erkenntnis (Erleuchtung) zu führen. Zudem handelt es sich beim Achtfachen Pfad der Buddhisten um die vierte der Edlen Wahrheiten, die niemals von den ersten drei gelöst werden darf. Nicht die Praxis von «Weltverantwortung», sondern des Streben nach Erlösung steht also im Vordergrund. In der Schule des sogenannten «Engaged Buddhism» wird allerdings das Streben nach Erleuchtung mit sozialem und politischem Handeln verbunden.

Ein zweites Problem der Verpflichtungen besteht in ihren unterschiedlichen Auslegungen. Fällt Notwehr unter das Tötungsverbot? Gibt es gerechte Kriege? Haben Hungernde und Ausgebeutete das Recht, sich durch Diebstahl am Leben zu erhalten? Gibt es Situationen, in denen es ethisch geboten ist, die Wahrheit nicht zu sagen? Wo beginnt der Missbrauch der Sexualität usw. Verschiedene Vorstellungen herrschen in den Religionen auch darüber, wie Verstösse gegen diese Verpflichtungen zu ahnden sind.

Damit hängt ein drittes Problem zusammen: Die Verpflichtungen beziehen sich zunächst auf das Handeln einzelner (d.h. auf die Individualethik). Die globalen Herausforderungen, vor denen die Menschheit heute aber steht, sind mit solch individualethischen Normen, die das Handeln des einzelnen regulieren, nur schwer zu bewältigen. Für die Arbeit an diesen globalen Problemen braucht es eine breit angelegte – weit über die Religionen hinausreichende – nationale und internationale Willensbildung. Wichtiger als die Verständigung über Normen, ist die Bestimmung gemeinsamer Handlungsziele. Die Normen und ihre Begründungen können verschieden sein, auf die gemeinsamen Ziele und den Willen, sie zu erreichen, kommt es an. Wo sich Religionen begegnen, treffen unterschiedliche Ethiken aufeinander mit unterschiedlichen Normen, die in ganz unterschiedliche Kontexte eingeordnet sind.“

Sung-Hee Lee-Linke„Es gibt kein Weltgewissen!“ – Sung-Hee Lee-Linke im Gespräch über Weltethos und Frieden
In einem Streitgespräch mit Karl-Josef Kuschel und Hamed Abdel-Samad nimmt Sung-Hee Lee-Linke, Studienleiterin an der Evangelischen Akademie im Rheinland und außerordentliche Professorin in Marburg, kritisch Stellung zum „Projekt Weltethos. Das Gespräch fand Anfang des Jahres 2008 statt unter Moderation von Publik-Forum.
Lee-Linke stammt aus einer in der dritten Generation calvinistisch geprägten Familie in Südkorea.

„Mit einem gemeinsamen Ethos allein – also mit einem verkopften Versuch, auf einen Nenner zu kommen – kommen wir nicht weiter. Denn das berührt den Kern des Menschen nicht“, so Lee-Linke kritisch zu dem Streben nach einem „Mehr an Weltethos“. Sie selbst fordert mehr „Weltpathos“, d.h. „die Bereitschaft, sich in den anderen einzufühlen, einen Dialog des Herzens zu führen“. Dabei müsse man begreifen, „dass die Gefühle des anderen oft auf ganz anderen Erfahrungen beruhen und auf ganz anderen Traditionen, als man sie selbst hat“. Dies erläutert die aus Korea stammende und in Deutschland lebende Theologin an konkreten Beispielen: „Religion ist in Europa mit Institutionen verbunden; man ist Christ und in einer bestimmten Kirche zusammen mit anderen Christen. Aber: In vielen anderen Kulturen bedeutet die Religion so etwas wie die Luft zum Ein- und Ausatmen. Niemand fragt einen, welcher Gruppe man angehört, ob man in einer Kirche ist. Religiös zu sein ist da einfach Teil des Lebens. Ein gemeinsames Weltpathos zu finden würde heißen: zu üben, gemeinsam für das Leben in Vielfalt einzustehen. Dieses Pathos gibt es bisher nicht. Auch dafür ein Beispiel: In der konfuzianischen Tradition Koreas ist die Liebe zu den Eltern ein sehr hoher Wert. In Deutschland merke ich: Eltern sind oft in erster Linie eine Belastung; es ist hier keine Selbstverständlichkeit, die Eltern zu lieben. In Korea ist diese Liebe dagegen ritualisierte Pietät. Sie ist Teil des Pathos, aus dem die Menschen leben. Selbst wenn man in einer wichtigen Sache mit seinen Eltern uneinig ist, steht diese Liebe über jedem Konflikt.“ Fazit: Globale Verständigung sei nur möglich, wenn Ethos und Pathos im Dialog seien.

Ganz entschieden wendet sich Lee-Linke gegen die Annahme, es gäbe ein „Weltgewissen“. Das Gewissen eines Menschen sei immer auch Produkt der jeweiligen Kultur und Tradition einer Gesellschaft. Es gebe auch Kulturen, in denen die Pflicht den Vorrang vor dem Gewissen habe: „In der konfuzianischen Tradition, die nach wie vor die Lebenswelt in Ostasien – also in Ländern wie China, Japan, Singapur – beherrscht, steht die Pflicht über dem individuellen Gewissen.“

Ein Schritt auf dem Weg zum Weltfrieden ist für Lee-Linke nicht das Streben nach der „Einen-Welt-Gesellschaft“, sondern die Akzeptanz der vielen verschiedenen Subkulturen: „Wenn wir den Weltfrieden wollen, brauchen wir nicht die eine Welt. Wir brauchen mehrere Welten, die nebeneinander existieren und miteinander kommunizieren. Schon in Deutschland gibt es nicht die eine Welt. Es gibt viele Subkulturen.

Quelle: „Eine gefährliche Kraft“. Besitzen die Religionen den Schlüssel zum Frieden? Oder öffnen sie das Tor zum Abgrund? Ein Streitgespräch zwischen Sung-Hee Lee-Linke, Karl-Josef Kuschel und Hamed Abdel-Samad, in: Publik-Forum, 2/2008, S. 12-15.


Barbara Schenck