Christliches Menschenbild

von Paul Kluge, Detmold

Ausgehend von der ''Gottesebenbildlichkeit'' des Menschen entfaltet Pfr. Kluge, was aus christlich- biblischer Sicht das Wesen des Menschen ausmacht.

Der Text ist konzipiert als Arbeitsblatt für das Gemeindeseminar ''Mit der Kirche durch das Jahr'', ursprünglich eine Fortbildungsveranstaltung für der Kirche fernstehende Mitarbeitende der Diakonie.

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Überlegungen zum christlichen Menschenbild

Die beliebteste Bibelstelle bei Überlegungen zum christlichen Menschenbild ist 1. Mose 1, 26f: „Gott sprach: Laßt uns Menschen machen nach unserem Bilde, uns ähnlich; die sollen herrschen über alles ... das auf der Erde sich regt. Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde ... als Mann und Frau ...“

Aus dem „uns ähnlich“ wird die sog. „Gottesebenbildlichkeit“ abgeleitet, doch „Bild“ kann ebenso als Vor-Bild für eine „Kopie“ verstanden werden wie als Vorstellung, Idee, Entwurf, Plan. Verstehen wir „Bild“ im Sinne von Entwurf, Plan, müssen wir uns allerdings von unserem Bild von Gott als altem Opa auf einer Wolke verabschieden – dieser Rückschluss ist dann nicht mehr möglich. Dem entspricht die biblische Vorstellung, dass Gott nicht abgebildet werden kann und darf.

Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen kommt auch dadurch ins Wanken, das der Mensch – wie die ganze Schöpfung – geschaffen wurde, Geschöpf unter Geschöpfen ist. Allerdings soll er „herrschen,“ was Hegen und Pflegen, Verantwortung also, umschließt.

Ob die alte Behauptung, der Mensch sei die einzige zur Kreativität fähige Kreatur, aufrecht erhalten werden kann, ist von manchen Tierverhaltensforschern in Frage gestellt (z. B. Gebrauch von Werkzeugen bei etlichen Tieren). Gleiches gilt für die Behauptung, nur der Mensch sei zur (Nächsten-) Liebe fähig; auch manche Tiere helfen ihren Artgenossen, wenn diese in Gefahr sind.

Bemerkenswert ist, dass der Mensch als „Mann und Frau“ bezeichnet wird. Darüber kann man viel nachdenken, reden und diskutieren, es besagt zumindest, dass der Mensch als Gemeinschaftswesen geschaffen ist, als Wesen, dass zur Gemeinschaft fähig und auf Gemeinschaft angewiesen ist. Entsprechend heißt es ein paar Verse weiter: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“

Jedenfalls sieht die Bibel den Menschen als ein Wesen, das zwischen gut und böse, falsch und richtig unterscheiden, sich für gut oder böse, für falsch oder richtig entscheiden kann, das für sein Verhalten, sein Tun und Lassen selbst verantwortlich ist und das die Konsequenzen aus seiner Entscheidung zu tragen hat.

Diese Entscheidung allerdings ist in jeder neuen Situation neu zu fällen, was Irrtümer wahrscheinlich macht. Außerdem kann eine Entscheidung zum Guten eines anderen gleichzeitig für einen Dritten vom Nachteil, also schlecht sein. Insofern läßt sich nicht leben, ohne (an anderen) schuldig zu werden. Das wird noch dadurch verstärkt, dass der Mensch ja auf Gemeinschaft mit seines Gleichen angewiesen ist; Gemeinschaftsfähigkeit aber erfordert Schuldfahigkeit in dem Sinne, dass der Mensch trotz und mit seiner Schuldhaftigkeit in Gemeinschaft mit anderen leben können muss.

Dem dient die neutestamentliche Interpretation des Kreuzestodes Jesu von Nazareth, durch den der Mensch mit Gott (und also mit sich selbst und seinen Mitmenschen) versöhnt ist.

Die christlichen Konfessionen setzten hier unterschiedliche Akzente: Der Katholizismus geht vom erlösungsbedürftigen Menschen aus, der auf die „Gnadenmittel“ der Kirche angewiesen ist; Luther versteht den Menschen als „simul iustus et peccator,“ als jemanden, der gleichzeitig erlöst und erlösungsbedürftig ist und stets aufs Neue der Gnade Gottes bedarf, während das Menschenbild evangelisch-reformierter Christen das des erlösten und dafür dankbaren Menschen ist – der aber immer wieder an Erlösung und Dankbarkeit erinnert werden muß. Diese unterschiedlichen Akzente führen zu ihnen entsprechenden Verhaltensweisen der durch sie geprägten Menschen.

Die konfessionell geprägten Menschenbilder heben einzelne Aspekte biblischer Vorstellungen vom Menschen besonders hervor und bleiben dadurch hinter der Komplexität des biblischen Menschenbildes zurück; Übereinstimung besteht darin, dass alle christlichen Kirchen den Menschen nicht idealisieren, sondern auch seine Schwäche und Fehlbarkeit im Blick haben.

Einige Grundlinien möchte ich etwas stärker zeichnen:

1.  Gleichheit aller Menschen

Weil vor Gott alle Menschen gleich sind, sind sie es auch untereinander - unabhängig von Alter, Geschlecht oder Hautfarbe, von Weltanschauung oder Vergangenheit. Der Apostel Paulus bringt das auf die Formel: „Da ist weder Jude noch Grieche, weder Freier noch Sklave, weder Mann noch Frau.“ Die Apostelgeschichte berichtet, dass unter den sieben Diakonen (die Zahl entspricht den sieben Werken der Barmherzigkeit) ein Ausländer war, und einer der ersten, die sich nach Ostern Taufen ließen, war der damalige äthiopische Finanzminister. Die Purpurhändlerin Lydia war Vorsteherin der von Paulus gegründeten Gemeinde in Philippi, und in seinem Brief an Philemon weist Paulus den Empfänger an, in seinem Sklaven Onesimus vor allem den Bruder in Christus zu sehen und ihn entsprechend zu behandeln. Jesus selbst hat sich um Nöte römischer Besatzungssoldaten genau so gekümmert wie um die seiner Landsleute und hat im Gleichnis vom ‚Barmherzigen Samariter‘ einen Nichtjuden zum Vorbild erhoben. Die Evangelien berichten übereinstimmend, das Frauen als erste die Osterbotschaft vernahmen.

Im Hospital zum heiligen Johannes in Jerusalem hatten die pflegenden Johanniter-Ritter strikte Anweisung, die – zumeist männlichen – Patienten mit „Herr Kranker“ anzureden und zu Beginn einer Behandlung vor den Patienten niederzuknien. Dem liegt Mt 25 zugrunde.

Dass die evangelische Kirche heute mit ‚Brot für die Welt‘ und dem ‚Evangelischen Entwicklungsdienst‘ in der Armen Welt tätig ist, mit ‚Hoffnung für Osteuropa‘ in den Ländern der ehemaligen SU und mit der ‚Diakonie-Katastrophenhilfe‘ überall auf der Welt, wo Naturkatastrophen oder bewaffnete Gewalt Not und Elend erzeugen, ist ein konkreter Ausdruck dieser Haltung..

In den evangelischen Landeskirchen sind aktives und passives Wahlrecht nicht an Geschlecht, Nationalität oder Rasse gebunden: Wer Mitglied einer Gemeinde ist, darf wählen und – nach einer bestimmten Zeit der Zugehörigkeit – sich auch wählen lassen; er oder sie braucht dazu nicht die deutsche Staatsangehörigkeit.

2. Schuld und Vergebung

Diese prinzipielle Gleichheit aller Menschen beruht nach biblischem Verständnis auf der schon erwähnten Unmöglichkeit, ein Leben in Unschuld zu führen; Leben heißt immer auch: schuldig werden. Setze ich mich zu A an den Tisch, setze ich B zurück, der oder die vielleicht auf meine Gesellschaft gehofft hat. Versorge ich ein Unfallopfer, lasse ich gleichzeitig das zweite warten. Jedes Dilemma bringt mich in Schuld – oder es lähmt mich, und dann werde ich doppelt schuldig. Nach biblischem Verständnis beruht die prinzipielle Gleichheit aller Menschen also einerseits auf ihrer Schuldfähigkeit – und andererseits auf ihrer Vergebungsfähigkeit.

„Wie du mir, so ich dir,“ sagt der Volksmund, und umgekehrt heißt das: Wie ich dir, so du mir.  M. a. W.: Als Menschen rechnen wir bei Schuld mit Vergeltung. Das erscheint uns recht und gerecht. Gleiches gilt zumeist sogar dann, wenn uns ein subjektives Schuldgefühl plagt – sei es objektiv auch völlig unbegründet. Dann warten wir auf Vergeltung, auf Strafe. Wenn sie ausbleibt, bringen wir es fertig, uns selbst zu bestrafen – nur, damit unsere Rechnung stimmt.  Das nimmt zuweilen skurrile Formen an, wenn etwa das „Opfer“ die „Tat“ längst vergessen oder gar nicht als Untat wahrgenommen hat, der Täter aber über Jahre eine Last mit sich herum schleppt und darunter leidet – was ihm als gerechte Strafe erscheint, mit der dann seine Schuld vergolten wird. Das kann bis zum Suizid gehen.

Die Bibel aber stellt ganz nüchtern fest: Leben ist ohne Schuldigwerden nicht möglich. Sie sagt aber auch: Wir brauchen an unserer Schuld nicht zu verzweifeln, dürfen trotz und mit aller Schuld leben. Denn – so die Botschaft – alle Schuld ist bzw. wird vergeben. Das Motiv der Vergebung zieht sich durch die ganze Bibel, und zwar in Form menschlicher Schuldbekenntnisse wie in Form von Gnadenzusagen Gottes. Das – aus therapeutischer Sicht - geradezu Geniale am Neuen Testament ist, dass es die Vergebung als „ein für alle mal“ geschehen verkündet.

Martin Luther hat das mit dem gern zitierten „pecca fortiter“ auf die Spitze getrieben: Sündiger munter drauf los. Ebenso gern wird allerdings der zweite Teil des Zitats vergessen: „Et crede fortior,“ und glaube um so heftiger. Das Glauben aber fällt uns Menschen, die wir so gern rechnen und rechten, nicht ganz leicht. Denn unsere Lebenserfahrungen sind von frühester Kindheit an eher die von Strafe und Vergeltung als solche von Gnade und Vergebung. Ge- und Verbote begleiten die Kindheit, und wer sich als Kind einmal die Finger an einer heißen Herdplatte verbrannt hat, weiß auch, dass Ge- und Verbote durchaus sinnvoll sind und nützlich fürs Überleben. Weil wir aber diese Erfahrungen von „du musst“ und „du darfst nicht“ so früh machen, setzen sie sich fest, sitzen tief und treiben ihre Spiele mit uns.

Siegmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, hat ein Modell entwickelt, wonach in unserem Inneren ein ständiger Kampf stattfindet: Da gibt es einen Teil in uns, der immer „ich will“ oder „ich will nicht“ ruft; es sind unsere triebgesteuerten Anteile, die Freud als das „Es“ bezeichnet, biblisch können wir von „Sünde“ sprechen. Ein anderer Teil in uns, durch Ge- und Verbote geprägt, ruft uns stets sein „du musst“ oder „du darfst nicht“ zu, was Freud als Über-Ich bezeichnet, biblisch gesehen das „Gesetz.“ Dazwischen steht ein armes Ich, soll entscheiden, was es tut und nicht tut – und das in jeder noch so banalen Entscheidungssituation aufs Neue. Ein Schlager aus den fünfziger Jahren hat das auf die Formel gebracht „Mögen hätten wir wohl wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“

Nun sagt uns die Bibel im Neuen Testament: Du bist von Gesetz und Sünde befreit, unterliegst weder dem Diktat deiner Triebe, noch dem Diktat all der Ge- und Verbote, die andere Menschen sich ausgedacht haben. Du kannst dich frei und eigenverantwortlich entscheiden. Eigenverantwortlichkeit heißt allerdings auch: Ich bin für meine Entscheidungen selber verantwortlich; ich kann die Verantwortung nicht darauf abwälzen, dass mich etwas getrieben hätte, und auch nicht darauf, dass ich ja musste oder nicht durfte; es gibt keinen Befehlsnotstand und keinen unkontrollierbaren Impuls als Ausrede.

Da ist es manchmal schon bequemer, auf das zu hören, was andere vorschreiben und regeln, da brauche ich nicht groß nachzudenken und zu entscheiden, da bin ich abgesichert. „Wir haben die Freiheit bekommen, und die Sicherheit verloren,“ habe ich seit der Wende oft gehört, und es klang eher nach Klage als nach einem guten Tausch. Mir scheint es logisch und konsequent, dass eine - zudem atheistische - Diktatur alles bis ins Detail regelt und den Menschen damit zwar ein Gefühl der Sicherheit vermittelt, sie aber gleichzeitig abhängig und unselbständig macht und hält

Die Verfassungen der evangelischen Kirchen, besonders der reformierten, gehen von dem sog. „Subsidiaritätsprinzip“ aus: Zunächst und vor allem ist jedes Gemeindeglied für sich selbst verantwortlich. Braucht es Hilfe, ist die nächst größere Einheit zuständig. Auf „höherer“ Ebene wird also nur das geregelt, was auf einer „unteren“ nicht zu regeln ist. Das „Gehorsamsprinzip“ des Johanniter-Ordens stammt aus vorreformatorischer Zeit und erscheint mir überholungsbedürftig, ist aber hinnehmbar, solange die Hierarchie  sich auf Funktionen beschränkt und nicht als persönliches Machtmittel ge- und damit mißbraucht wird. Auf der Emder Synode 1571, der Gründungssynode der Niederländisch-Reformierten Kirche, wurde in der Präambel festgehalten: „Kein Mensch soll über andere Menschen, keine Gemeinde über andere Gemeinden herrschen oder den Anschein erwecken, herrschen zu wollen.“ Hier ist ein Versuch gelungen, die Gleichheit von Menschen und ihre Eigenverantwortlichkeit mit dem Angewiesensein des Menschen auf Gemeinschaft zu verbinden.

3. Leben in Gemeinschaft

„Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei,“ stellt die Bibel ganz zu Anfang fest – und ebenso früh beschreibt sie Probleme, die die Gemeinschaft mit sich bringt – das geht bis zum Brudermord. So ziehen sich zwei parallele Stränge durch die Bibel: Hilfen zur Gestaltung des individuellen Lebens und Hilfen zur Gestaltung des Lebens in Gemeinschaft.

Für das Miteinander stellt die Bibel eine Leitlinie auf: „Du sollst Gott, den Herrn lieben, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Dieses Wort wird in der Bibel mehrfach wiederholt, und an einer Stelle im Neuen Testament wird kommentiert, in diesem Gebot seien „das ganze Gesetz und alle Propheten“ zusammengefasst. In der ‚Bergpredigt‘ heißt dies, noch vereinfacht: „Wie ihr wollt, dass die Leute euch tun, so tut auch ihr ihnen.“ Dieser Satz ist als die „Goldene Regel“ bekannt. Der Volksmund hat daraus gemacht: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

So simpel dieser Satz auch klingt: Ihn in unserem Leben und durch unser Leben umzusetzen,  ist alles andere als simpel. Das liegt wohl daran, dass wir von Natur aus uns selbst die Nächsten sind. Auch das hat wieder mit unseren frühesten Erfahrungen zu tun, mit der überlebenswichtigen Rücksichtslosigkeit der Säuglinge, die bei jedem Unwohlsein gnadenlos zu schreien anfangen. Doch was für den Säugling überlebenswichtig ist, braucht ein Erwachsener nicht mehr, es kann sogar zum Nachteil für ihn sein: Wer als Erwachsener z. B. ohne jede Rücksicht seine ganz persönlichen Interessen verfolgt, ist bald sehr einsam, ist nicht nur unbe-, sondern auch ungeliebt. Doch, wie schon gesagt, frühkindliche Überlebensstrategien sitzen tief und fest, und es erfordert Arbeit an uns selbst, uns davon zu lösen.

Bei dieser Arbeit hilft die Bibel mit ihrer Vorstellung von der Gemeinschaft, die den Einzelnen trägt, die ihm Schutz und Geborgenheit bietet – und wofür jeder Einzelne mitverantwortlich ist. So heißt es im 5. Buch Mose etwa: "Arme soll es unter euch überhaupt nicht geben;" eine Forderung, die gerade in heutiger Zeit eine provozierende Aktualität hat. Dahinter steht der Gedanke, dass es einer Gemeinschaft dann gut geht, wenn es allen ihren Mitgliedern gut geht – so wie es dem Menschen nur dann gut geht, wenn Körper, Geist und Seele zu ihrem Recht kommen. Der Apostel Paulus verwendet mehrfach das Bild eines einzelnen Menschen für die christliche Gemeinschaft  und sagt sinngemäß: Wenn ein Organ leidet, leidet der ganze Mensch. So sollen wir uns – was mühsam genug ist – in lebenslangem Lernen so zu verhalten lernen, dass es der Gemeinschaft, in der wir leben, und damit uns selbst möglichst gut geht. Die Bibel spricht hier in einem sehr allgemeinen und weiten Sinn von „Liebe,“ und sie spricht immer davon,  dass solche Liebe zu ‚üben‘ ist – Liebe zu sich selbst, Liebe zu den anderen, Liebe zu Gott. Die Persönlichkeit wert zu schätzen, Eigenverantwortung und Selbständigkeit zu achten, Individualität zu respektieren, sind einige Konsequenzen.


©Paul Kluge, Pfr. i.R., Detmold