''Wünscht Jerusalem Glück!''

Predigt zum 9. November


Jerusalem - Bahnhof © Reinhard Dietrich / Wikipedia Commons

Gedanken zu Antisemitismus, dem Staat Israel und Konflikten im Nahen Osten.

Gebet nach Psalm 94,1.14

Du Gott Israels,
Richter der Welt:
Wir erinnern uns heute an die Nacht,
die das Fanal gab
zum gewalttätigen Aufruhr
gegen dich
und das jüdische Volk,
das du dir erwählt hast.
Wir können nicht ermessen,
was schon in jener Nacht zerstört worden ist,
als die Synagogen brannten,
als deine Tora in den Schmutz getreten wurde,
als Menschen, die in Deutschland heimisch waren
Besitz, Schutz und ihre Gewissheiten verloren,
und die Gewalttäter und Beisteherinnen ihr Gewissen.
Die Berichte der Opfer beschämen uns,
die Unbußfertigkeit vieler Täter empört uns,
und eine wachsende Judenfeindschaft
in der Völkergemeinschaft
fordert von uns Wachsamkeit und Widerstand.
Gott, du hältst deinem Volk die Treue.
Fall allen in den Arm,
die es erneut mit Vernichtung bedrohen,
und festige den Zusammenhalt von Christen und Juden
in unserem Land und überall auf der Erde.

Liebe Gemeinde!

Sie sind heute hierher gekommen, um der Pogrome des 9.11.1938 zu gedenken und ein Zeichen zu setzen: Nie wieder darf so etwas geschehen, nie wieder darf in unserem Land Hass Menschen bedrohen, die anders glauben, denken und leben.

Einige von Ihnen haben vielleicht als Kinder jene Nacht miterlebt und mit eigenen Augen gesehen, wovon wir Jüngeren nur gehört haben: wie die Synagogen brannten, wie die Scheiben jüdischer Geschäfte zerschlagen wurden, und wie gröhlende SA Trupps durch die Straßen marschierten. Vielleicht haben Sie auch die Gesichter verängstigter Menschen gesehen und das fassungslose Weinen der Betroffenen.

Der langjährige Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde in Wuppertal, Heinz Bleicher, ist in jener Nacht verhaftet worden. Er war damals ein junger, erfolgreicher Geschäftsmann. Auf einen Schlag wurde er aus seinen komfortablen Lebensverhältnissen herausgerissen und in dem KZ Dachau interniert. Dort wurde er wochenlang gedemütigt, misshandelt und eingeschüchtert. Als er zurückkehrte war er ein gebrochener Mensch. 5 Jahre später erfolgte seine Deportation nach Auschwitz.

Wenn er später von seinen Erlebnissen im November 38 erzählte, wurde nicht nur spürbar, wie stark ihm die erlittenen körperlichen Qualen zugesetzt haben. Alles wurde für ihn noch viel schlimmer durch die Gleichgültigkeit seiner Nachbarn und Kollegen, von der Häme und Schadenfreude seiner Konkurrenten ganz zu schweigen. Selbst seine Freunde haben es nicht gewagt, offen zu ihm zu stehen, sondern haben ihm ihr Bedauern über sein Schicksal nur heimlich ausgedrückt.

Das Gefühl völliger Verlassenheit angesichts einer mörderischen Gefahr für Leib und Seele hat Heinz Bleicher bis zu seinem Tod in seinen Träumen heimgesucht. Er, der tagsüber eine humorvolle, starke Persönlichkeit war, wachte nachts oft schreiend auf. Seine Frau fürchtete deshalb immer besonders den November.

Das Trauma dieses einzelnen jüdischen Überlebenden ist zugleich ein kollektives Trauma Israels. Heute mehr denn je fühlt sich der jüdische Staat in der Weltgemeinschaft isoliert und alleingelassen angesichts wiederholter und durchaus ernst zu nehmender Drohungen, ihn aus der Landkarte zu löschen. (Schals mit einem Nahen Osten ohne Israel wurden auf dem Palästinenserkongress in Wuppertal in diesem Jahr schon verteilt und auch von Bundestagsabgeordneten der Linken getragen)

Es gibt Stimmen, die mit höchst moralischem Unterton behaupten: Israel bringe sich mit seiner verfehlten Politik ja selbst in diese gefährliche Lage. Aber merken Sie, wie das die alte antisemitische Regel spiegelt, die da lautet: die Juden sind selbst schuld an ihrem Unglück?

Ich stimme zu: Israels Politik ist in der Tat in mancher Hinsicht fragwürdig. So fragwürdig wie die Politik vieler anderer Staaten auch, von den arabischen Despoten ganz zu schweigen. Aber welchem anderen Staat wird wegen schlechter Politik das Existenzrecht abgesprochen?

„Wünscht Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben! Es möge Frieden sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen! Um meiner Brüder und Freunde willen, will ich dir Frieden wünschen! Um des Hauses des Herrn willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen!“ (Psalm 122,6-9)

Diese guten Wünsche des Psalms gelten nicht einem Jerusalem, das einmal besser war als es heute ist. Immer schon war Jerusalem eine Stadt voller Spannungen: die Stadt Davids und der Heimatort vieler Nichtjuden, die heilige Stadt Gottes und Schauplatz himmelschreiender sozialer Ungerechtigkeit, die Gottes Gegenwart Hohn spricht; die Stadt, die Schalom in ihrem Namen trägt und sich immer wieder in Kriege verstrickt hat.

Aber selbst wenn Gott die Stadt im Zorn bestraft, bleibt sie seine geliebte Stadt. In der mündlichen Tora ist man sich sicher: Gott hat die Verbannten in jedes Exil begleitet, und die göttliche Botschaft „tröstet, tröstet mein Volk“ die Jesaja in Babylon verkündet, ist nach Auffassung der Rabbinen zugleich als Bitte Gottes zu verstehen: tröstet mich, tröstet mich, mein Volk. Denn wie ein Hirte, dessen Herde zerrissen ist von wilden Tieren klage Gott über die Zerrissenheit seines Volkes und brauche dessen Trost. (Ein Gedanke, den Dietrich Bonhoeffer aufgenommen hat, vgl. sein Gedicht „Christen und Heiden“.)

Auch Jesus ist in Liebe mit Jerusalem verbunden. Wie jeder fromme Jude pilgert er zu allen Festen dorthin, im Tempel betet und lehrt er, und als er kurz vor seinem Tod die erneute Zerstörung Jerusalems kommen sieht, weint er, weil ihm das Schicksal der Stadt wirklich zu Herzen geht und weh tut.

Aber Sie wissen: Seine Anhänger haben diese Liebe zu Jerusalem und dem jüdischen Volk später nicht mehr geteilt. Ins Rampenlicht ist Jerusalem erst wieder in der Zeit der Kreuzzüge getreten. Christliche Ritter sollten die Stadt aus den Händen der Heiden befreien. Damit waren allerdings auch die Juden gemeint, mit deren Ermordung man schon in Europa begann. Die Bilanz der Kreuzzüge waren mehr als 20 Mio. Tote, ohne dass das Ziel erreicht wurde: Das irdische Jerusalem blieb den Sarrazenen. In der Folge konzentrierten sich die Christen mehr und mehr auf das himmlische Jerusalem. Das Lied „Jerusalem, du hoch gebaute Stadt,“ das auch wir am Ende des Kirchenjahres oft noch singen, beschreibt die christliche Sehnsucht nach dem jenseitigen Ort sehr anschaulich. Immerhin haben in diesem Lied die toten Patriarchen und Propheten Israels noch einen Platz. Eine Wertschätzung des lebendigen jüdischen Volkes war indessen jahrhunderte lang verloren gegangen. Man neidete Israel seine Erwählung und machte ihm die Treue Gottes streitig. Eine oftmals tödliche Eifersucht, die schließlich gepaart mit dem sozialen Neid auf die Juden dazu beitrug, dass der Massenmord der Shoa mitten im christlichen Abendland möglich wurde. Was den Juden geschah, geschah ihnen Recht – diese Meinung hegten viele Christen, sogar manche prominente Vertreter der Bekennenden Kirche.

Ich zitiere aus einer Predigt von Hans Asmussen, den lutherischen Hauptpromotor der Barmer Theologischen Erklärung, der behauptet:

„Die Zeit des Judentums ist vergangen. Israel hat die große Stunde Gottes nicht erkannt. Darum ist es als politisches Gebilde untergegangen. Das Recht Israels auf den Gottesstaat ist nach Gottes Willen erloschen, seitdem es seinen Erlöser ans Kreuz geschlagen hat. Die Juden haben das Haus, welches Gottes Haus war, zu einem Tempel gemacht, in dem sie dem Geld dienten. Darum war ihnen auch das Kommen Jesu im Fleisch etwas Fremdes. Sie hassten ihn mit Notwenigkeit, weil er ihr Ende offenbar machte. Das neue Wesen kennt keinen Frieden mit Juden und Heiden. Beiden steht die Kirche in unverbrüchlichem Gegensatz gegenüber, solange sie überhaupt Kirche ist.“

Nach dem Krieg wuchs langsam die Einsicht in die ungeheure Mitschuld der Kirche an dem jüdischen Leid, das der NS Staat über ganz Europa gebracht hat. Viele Christinnen und Christen begannen, ein starkes Mitgefühl für die Opfer der Shoa zu empfinden. Aber was ist, wenn Juden nicht auf ihre Opferrolle festgeschrieben sein wollen, wenn sie sich dem christlich jüdischen Dialog verweigern, weil sie ihrerseits Christen für ihr Judesein nicht brauchen, oder wenn sie nach dem Motto: nie wieder Auschwitz! den Staat Israel als Zufluchtsort für alle Juden mit allen Mitteln militärischer Stärke sichern? Wo bleibt dann die christliche Sympathie für die Juden?

Für mich ist es besonders erschreckend, dass selbst fortschrittliche Bewegungen, deren Anliegen ich teile und die sich selbst nie mit Antisemitismus in Verbindung bringen würden, nicht frei sind von antijüdischen Denkmustern. Während sich die feministische Theologie jedoch inzwischen davon in einem selbstkritischen Prozess gelöst hat, geben in der Friedensbewegung nach wie vor viele völlig unreflektiert Israel die Alleinschuld am Nahostkonflikt, und bei den jüngsten Occupy Demonstrationen gab es Transparente gegen das „jüdische Kapital“. Von guten Wünschen für Jerusalem und das Land Israel ist gegenwärtig in der Welt und auch in vielen Weltkirchen wenig zu merken.

Aber Jerusalem existiert und ist nach Jahren der Zerstreuung des jüdischen Volkes wieder Hauptstadt eines Staates Israel. Juden aus aller Welt können wieder nach Jerusalem aufsteigen wie die Pilger in dem Psalm. (Alija, Aufstieg, ist gleichzeitig der neuhebräische Begriff für die Einwanderung nach Israel geworden). Ich finde, nach den jahrhunderte langen Anfeindungen und blutigen Verfolgungen der Juden ist das wirklich ein Wunder, und unsere rheinische Kirche sieht zu Recht in der fortdauernden Existenz des jüdischen Volkes, in der Heimkehr in das Land der Verheißung, und auch in der Errichtung des Staates Israel ein Zeichen der Treue Gottes.

Aber es wäre falsch, jetzt nicht auch von dem andauernden Konflikt um Jerusalem zu reden. Denn auch für Muslime hat El Quds, die heilige Stadt, eine hohe Bedeutung und die Palästinenser fordern, dass sie künftig die Hauptstadt eines eigenen Staates wird. Die Vertriebenen möchten zurückkehren in ihre Häuser, sie möchten neue bauen, wenn ihre alten bei militärischen Strafaktionen zerstört worden sind, sie möchten die Mauer niederreißen, die die Stadt zerschneidet: auch die Palästinenser beanspruchen Jerusalem als Heimat.

Sie kennen vielleicht das sogenannte kairos Papier. In ihm beklagen palästinensische Christen ergreifend das Elend der israelischen Besatzung. Diesen Aufschrei dürfen wir nicht überhören, am Leid der palästinensischen Bevölkerung nicht vorbeisehen. Und es ist gut, dass es in unseren Gemeinden Menschen gibt, die sich leidenschaftlich für eine Verbesserung der Lage im Westjordanland und in Gaza engagieren. Aber theologisch dürfen wir nicht von der Erkenntnis der besonderen Rolle Israels in Gottes Heilsgeschichte und unserer in Jesus begründeten Verbundenheit mit dem jüdischen Volk abbringen lassen. Und politisch müssen wir vehement allen widersprechen, die in ihrer einseitigen Parteinahme die palästinensische Gewalt und die Angriffe extremer Islamisten wie der Hisbollah auf Israel verharmlosen und so weit gehen, Israel bisweilen mit den Nazis gleichsetzen. 

„Wünscht Jerusalem Glück! Es möge Friede sein in deinen Mauern. Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen. Um des Hauses des Herrn willen will ich dein Bestes suchen..."

Unsere Kirchen können weiter dazu beitragen, dass Palästinenser und Juden einander zuhören und den jeweils anderen besser in seinem Schmerz und in seinen Ängsten verstehen lernen. Wir alle können in der Gemeinde die Friedensaktivisten in Israel und Palästina unterstützen (und davon gibt es gerade auf israelischer Seite sehr viele, die Ruf und Gesundheit riskieren, um Menschen, Olivenhaine und Häuser vor Angriffen ihrer Landsleute zu schützen). Aber jedem einzelnen von uns legt der Psalm das Gebet für die Bewohner Jerusalems nahe, so verschieden wie sie immer schon waren und immer noch sind. Vielleicht weil die Unterschiede immer schon zu Spannungen geführt haben, wird die Bitte um Frieden mehrfach (im Hebräischen 5 mal) wiederholt. Und die Dringlichkeit dieser Bitte besteht weiter!

Im Kontext des heutigen Tages möchte ich zum Schluss noch anfügen: Wir sind wahrlich nicht berufen, Richter über Israel zu sein. Besser steht uns an, Juden, wo immer wir ihnen begegnen merken zu lassen: sie sind nicht alleingelassen in Anfeindung und Bedrohung. Auch im Streit um die richtige Politik bleiben wir ihnen geschwisterlich verbunden und verfolgen verlässlich das Ziel: „Am Jisrael chai!“ das Volk Israel lebe, und Jerusalem finde heraus aus seiner Zerrissenheit zu Schalom.


Sylvia Bukowski, Pfarrerin, Wuppertal, November 2011