Teil II: Calvin - der fremde Reformator
Von Walter Schöpsdau, Lorsch
I. Calvin und sein Werk in Genf
1. Der erste Genfer Aufenthalt
2. Vollendung des Lebenswerkes in Genf
II. Reformierter Protestantismus
1. Calvinismus als Kulturphänomen
3. Geistliches Profil
II. Reformierter Protestantismus
Calvin verstand die Reformation als Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden. Das macht den reformierten Protestantismus aktivistischer als das Luthertum. Wir fragen abschließend nach seiner kulturellen Bedeutung, seiner Auffassung von Staat und Kirche und seinem geistlichen Profil.
1. Calvinismus als Kulturphänomen
Der Calvinismus ist kulturell deutlicher ausgeprägt als das Luthertum[1]. Man kennt seine kahlen Kirchen oder denkt an große Fenster der Wohnhäuser ohne Vorhänge in Holland, die jedem Einblick gewähren. Calvin sorgt sich um den rechten Gebrauch der evangelischen Freiheit. Er hat eine französische Vorliebe für Klarheit und Konsequenz, die durch seine Ausbildung als Jurist noch verstärkt wird. Luther hielt die Juristen für lebensfremde Theoretiker[2]. Calvin glaubt an Pädagogik und Kontrolle. Luther konnte sagen: Predigen und schreiben will ich’s. Aber zwingen, dringen mit Gewalt will ich niemand. Gottes Wort hat, wenn ich geschlafen oder wittenbergisch Bier getrunken habe, das Papsttum mehr geschwächt als je ein Fürst oder Kaiser vermochte. „Ich hab nichts getan, das Wort hat es alles abgehandelt und ausgerichtet“[3]. Man hat den Gegensatz auf die Formel gebracht: „Evangelismus“ gegen „Systematismus“[4]. Für Luther ist das Evangelium befreiender Zuspruch, für Calvin ist es auch eine Lehre, die konsequent umgesetzt werden muss.
Calvin war nie im Kloster. Er musste sich nicht wie Luther vorsagen, dass man auch in der Welt ein gottgefälliges Leben führen, dass Heiraten oder politische Verantwortung ein Werk der Liebe sein könne. Für ihn stand nie in Zweifel, dass Glaube und Gehorsam gegen Gott den Christen mitten in die Welt stellen. Die Politik ist für Calvin so sehr eine Notwendigkeit, die Prinzipien der bürgerlichen Ordnung werden durch das göttliche Gesetz so eindeutig bestätigt[5], dass er nie gezögert hat, sich auch als Staatsmann zu betätigen[6]. Er war kein glücklich befreiter Mönch, sondern ein zu Gott bekehrter Renaissancemensch, der in enger Fühlung mit dem zeitgenössischen Humanismus groß geworden war. Er wusste um die Versuchung eines humanistischen Glaubens an den Menschen und musste deshalb den rebellischen Menschen umso entschiedner zur Unterwerfung unter die Souveränität Gottes rufen[7].
Man hat im Calvinismus eine Wurzel des Kapitalismus sehen wollen. In ihrer Sorge um die Prädestination hätten die Frommen irdischen Erfolg als Ausweis der Erwählung gedeutet. Das hat Calvin nie gelehrt. Der Christ darf höchstens sein Wachstum im Glauben, in der Gemeinschaft mit Christus[8] als Zeugnis der Erwählung glauben. Richtig ist an der soziologischen These nur, dass die asketische Strenge des Lebenswandels eine Disziplinierung und Rationalisierung entfaltete, die dem kapitalistischen Erwerbstreben entgegenkam.
2. Kirche und Staat
War Calvin ein Ayatollah, der in Genf einen Gottesstaat errichten wollte? Die reformierte Idee der „Königsherrschaft Christi“ hat in der Tat eine andere Stoßrichtung als die lutherische „Zwei-Reiche-Lehre“. Aber auch Calvin lehrt, „dass Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind“. Wenn er fordert, die in Christus geschenkte Freiheit „innerhalb ihrer Grenzen zu halten“[9], scheint er sogar die Freiheit in die Innerlichkeit einzusperren unter Inkaufnahme äußerer Unfreiheit[10]. Die Unterscheidung zwischen Reich Christi und weltlichem Regiment schließt aber nicht aus, dass religiöse und politische Gemeinde in einer letzten Fluchtlinie beide auf das Endziel des Reiches Gottes hingeordnet sind. Während Luther dem Staat die Abwehr des Bösen und daher das Schwertrecht zuschreibt, erkennt Calvin dem Staat eine positive Funktion für den Menschen als von Natur soziales Wesen[11] zu: „Das bürgerliche Regiment hat, solange wir unter den Menschen leben, die äußere Verehrung Gottes zu fördern und zu schützen, die gesunde Lehre der Frömmigkeit und den guten Stand der Kirche zu verteidigen, unser Leben auf die Gemeinschaft der Menschen hin zu gestalten, unsere Sitten zu bürgerlichen Gerechtigkeit heranzubilden, uns miteinander zusammenzubringen und den gemeinsamen Frieden wie die öffentliche Ruhe zu erhalten“[12].
Die Obrigkeit hat also für beide Tafeln der zehn Gebote zu sorgen. Das ist noch mittelalterlich und dennoch von Aktualität für heute. Mittelalterlich ist die Auffassung, dass der Staat die Gottesverehrung schützen und darum schwere Fälle von Ketzerei wie Gottes- und Trinitätsleugnung bestrafen müsse. Calvin liegt hier nicht weit von der römischen Inquisition entfernt: Die Kirche selbst straft und tötet nicht, sie spricht das geistliche Urteil, den Rest besorgt die Obrigkeit. Das führt im Endeffekt zu einem Messen mit zweierlei Maß um der Wahrheit willen: Calvin befiehlt europäischen Fürsten im Namen Gottes, den Katholizismus abzuschaffen, klagt aber zugleich katholische Obrigkeiten der Glaubensverfolgung an. Luther war an diesem Punkt moderner und riet, „die Geister aufeinander platzen“ zu lassen[13]. Die Obrigkeit ist nur für die äußere Ordnung zuständig und „soll nicht wehren, was jedermann lehren und gläuben will, es sei Evangelion oder Lügen“[14]. Ein Einschreiten gegen Ketzerei kommt für Luther nur in Frage, wenn sie den öffentlichen Frieden gefährdet, indem sie z. B. den Staat überhaupt oder das kirchliche Predigtamt ablehnt.
Aktuell erscheint Calvins Konzept aber darin, dass der Staat nicht bloß einen äußeren Rahmen sichern soll, innerhalb dessen sich der Egoismus des einzelnen oder die Marktkräfte austoben dürfen, sondern dem Gebot Gottes in Gestalt sozialer Gerechtigkeit zu dienen habe. Dass man mit der Bergpredigt nicht die Welt regieren könne, würden Reformierte nie unterschreiben. Das Evangelium mutet der weltlichen Vernunft zu, dass sie Verhältnisse schafft, in denen der Glaube so etwas wie Gleichnisse des Himmelreiches erkennen kann. Das Reich Gottes soll nicht vertrösten oder lähmen, sondern Antrieb zur Veränderung sein.
Die Kehrseite ist eine Neigung, ethische Sachfragen theologisch aufzuladen. Als der erste Golfkrieg ausbrach, reichte es den Reformierten nicht, dass die Vernunft dagegen sprach. Sie erklären feierlich, „dass wir uns jeglicher Beteiligung an diesem Krieg und jeglicher Billigung der kriegerischen Aktionen um unseres alleinigen Herrn Jesus Christus willen verweigern“[15]. Dahinter lauert die Gefahr frommer Besserwisserei, welche der Sachdiskussion nicht förderlich ist, oder einer Instrumentalisierung der Religion als emotionaler Verstärker.
Calvin hielt „eine Aristokratie, die an die bürgerliche Regierungsform angrenzte“, für die beste Staatsform, wie er sie im Volk Israel verwirklicht sah[16]. Aus dem Gedanken des alttestamentlichen Stämmebundes entwickelten die Reformierten die Idee des Gesellschaftsvertrags. In der Hohen Schule von Herborn, die von 1584 bis 1817 eine der wichtigsten reformierten Bildungsstätten in Europa war, wurde gelehrt, dass die staatliche Souveränität vom Volk unter Bedingungen verliehen werde und darum wieder gekündigt werden könne; damit war auch ein Widerstandsrecht gegen tyrannische Herrschaft gegeben. Auch das sog. Subsidiaritätsprinzip wurde in Herborn formuliert. Danach sollte auf höherer Ebene nur verhandelt werden, was sich in örtlichen Gremien nicht erledigen ließ oder was sich auf die ganze Kirche bezieht[17]. Auch die amerikanische Verfassung mit der Formulierung der demokratischen Prinzipien ist nicht ohne den Einfluss der calvinistischen Pilgerväter und ihres Gemeindeideals denkbar.
3. Geistliches Profil
Zum Katholizismus weiß sich der Calvinismus in schärfstem Gegensatz. Es gibt aber auch Berührungspunkte:
Wie der Katholizismus betont er die Gemeinschaft des Gottesvolkes gegenüber dem einzelnen Gläubigen. Das Evangelium ist nicht nur Heilsbotschaft, sondern auch Gesetz für das Gottesvolk; entsprechend wird die Heiligung stärker herausgestellt als im Luthertum. Der Zentralgedanke ist nicht die Rechtfertigung, sondern der Gnadenbund Gottes mit seinem Volk, der Israel und die Kirche umschließt; schon im ersten Bund galt allein die Gnade Gottes und wurde Christus als Mittler geglaubt[18]. Das ergibt einen positiveren Blick auf das Alte Testament und das Judentum. Calvins Genfer Experiment atmet auch die katholischen Ideen von Universalität und Autorität[19]; in Genf etabliert sich ein Lehramt, das etwa die Prädestinationslehre 1552 zur verbindlichen Lehre erklärt. Auch später treffen reformierte Synoden Lehrentscheidungen. So hat die Synode von Dordrecht (1618/19) die calvinische Prädestinationslehre mit gewissen Modifikationen[20] zur Lehrgrundlage erhoben. Auch die Bekenntnissynode von Barmen 1934 stand stark unter reformiertem Einfluss.
Allerdings haben die reformierten Bekenntnisse nicht den Ehrgeiz, für alle Zeiten Gültigkeit zu besitzen. Wichtiger erscheint das je neue aktuelle Bekennen. Der reformierte Theologe Karl Barth spricht von einer für Außenstehende „unübersichtliche[n] Krähwinkelei“ der vielen reformierten Bekenntnisse, die gar nicht den Drang haben, irgendwann einmal in einem allgemeinen Bekenntnis der reformierten Kirche aufzugehen[21]. Eben darum gab es aber auch in keiner christlichen Konfession so viele Abspaltungen wie in der reformierten, obwohl Calvin einschärft, es müsse „unter den Christen solchen Abscheu vor der Spaltung haben, dass sie sie vermeiden, wo sie nur können. Es muss eine solche Achtung vor dem Amt und den Sakramenten geben, dass sie überall, wo sie ihr Vorhandensein erkennen, von der Existenz von Kirche überzeugt sind“[22].
In den Synoden entscheiden auch Laien über Lehrfragen. Calvin selbst hat weder Priesterweihe noch die Ordination zum Pfarrer empfangen. Seine Schriften legt er dem Rat zur Zensur vor. Weihepriestertum und hierarchisches Bischofsamt werden strikt abgelehnt, auch wenn manche reformierte Kirchen der Bischofstitel verwenden. In Deutschland heißen die kirchenleitenden Personen Präses, Moderator oder Schriftführer. Allerdings ist damit die Gefahr eines evangelischen Klerikalismus nicht gebannt. Sind die heutigen evangelischen Gemeinden nicht viel mehr Pastorenkirchen als die katholischen, die ganz vom Engagement der Gemeindeglieder getragen werden? Schon bei Calvin ist ein neues Amtsbewusstsein zu beobachten: Der Pastor wird zum Spezialisten. Er weiß, dass seine Autorität nicht auf einer Weihe beruht, sondern auf Sachkunde, die er jeden Tag unter Beweis stellen muss[23]. Er entdeckt sein Amt, wenn man ihm widerspricht, ähnlich wie der Apostel Paulus im 2. Korintherbrief seine persönliche Autorität angegriffen sieht, wenn sein Evangelium in Zweifel gezogen wird.
Man hat den Unterschied von Luthertum und Reformiertentum so ausgedrückt, dass für Luther das Endliche fähig sei, das Unendliche aufzunehmen, während für den Calvinismus zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen Distanz walte. Gott ist immer größer und gibt sich nie unsere Hände: Christus ist beim Abendmahl gegenwärtig, gibt sich aber nicht in die Elemente Brot und Wein. Was uns bei der Lektüre der Heiligen Schrift als Wort erwartet, können wir nicht vorwegnehmen; die Einteilung in Gesetz und Evangelium ist schon ein Übergriff. Das Bilderverbot wird als ein selbständiges Gebot unter den zehn Geboten gezählt; es sichert die Transzendenz Gottes, der sich in keiner Darstellung dingfest machen lässt. „Magische“ Zeremonien und Weihen haben im Gottesdienst nichts zu suchen. Das alles bedeutet eine ungeheuere Entzauberung der Welt, eine fast gnadenlose Rationalisierung.
Aber zeugt es nicht auch von einem großen Vertrauen? Gott ist nicht auf irdische Dinge angewiesen. Er bezeugt sich selbst zwar nicht, ohne uns als Kirche dabei haben zu wollen, aber er tut es nicht durch die Kirche. Vielmehr ist die Kirche auf ihn angewiesen: „Obwohl die Kirche zur Zeit kaum zu unterscheiden ist von einem toten oder doch kranken Mann, so darf man doch nicht verzweifeln: denn auf einmal richtet der Herr die Seinigen auf, wie wenn er Tote aus dem Grab erweckt. […] Wenn die Kirche nicht leuchtet, halten wir sie schnell für erloschen und erledigt. Aber so wird die Kirche in der Welt erhalten, dass sie auf einmal vom Tode aufsteht, ja, am Ende geschieht diese ihre Erhaltung jeden Tag unter vielen solchen Wundern. Halten wir fest: das Leben der Kirche ist nicht ohne Auferstehung, noch mehr: nicht ohne viele Auferstehungen“[24].
Dr. Walter Schöpsdau, 64653 Lorsch
Der Text wurde verfasst für einen Gemeindevortrag am 31. Oktober 2008.
Deshalb konnte die Ende 2008 und Anfang 2009 erschienene Literatur zu Calvin und sein Wirken noch nicht eingearbeitet werden.
[1] Cottret, aaO. 225.
[2] Luther, Tischreden aus Lauterbachs Tagebuch 1538, Nr. 3690. 3872.
[3] Luther, Invokavitpredigten 1522, WA 10 III, 18f. Als der Franzose Franz Lambert von Avignon für Philipp von Hessen die erste Reformationsordnung in der Geschichte verfasst, warnt Luther vor einer Reformation von oben. „Vorschreiben und nachtun ist weit voneinander“ (Brief an Landgraf Philipp von Hessen vom 7. 1. 1527, WA Br 4, 158).
[4] Ebd. 84.
[5] Calvin, Inst. IV 20, 16.
[6] Karl Barth, Die Theologie Calvins (1922). GA II. Akad. Werke, 1993, 113f.
[7] Ebd. 105f. 109; ders., Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften (1923), GA II. Akad. Werke, 1998, 325f.
[8] Calvin, Inst. III 24, 5.
[9] Ebd. IV 20, 1.
[10] Über Calvins konservative Einstellung zu Hierarchien in Gesellschaft und Kirche und seine Angst vor einer die Kompetenzen verwischenden Gleichmacherei vgl. Cottret, aaO. 390f.
[11] Calvin, aaO. II 2, 13.
[12] Ebd. IV 20, 2.
[13] WA 15, 213. 218.
[14]Ermahnung zum Frieden (1525), WA 18, 298.
[15] epd-Dok. 8a/91, 11. Febr. 1991, 23.
[16] Calvin, aaO. IV 20, 8.
[17] Ordnung der Synode von Herborn 1586.
[18] Calvin, aaO. II 10, 2.
[19] Cottret, aaO. 266.
[20] Christus erscheint in den Dordrechter Beschlüssen nur noch als Ausführungsorgan, nicht als Fundament der Erwählung. Den Verworfenen widerfährt lediglich, was eigentlich allen Menschen nach dem Sündenfall widerfahren müsste, wenn Gottes Gnade nicht einige aus ihnen zum Heil erwählt hätte (I 7). Die Synode entschied somit „infralapsarisch“, während Calvin eher „supralapsarisch“ dachte (Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2, Neukirchen 1962, 514.
[21] Barth, aaO. 19f.
[22] Calvin, Brief an Farel vom 24. 10. 1538. CR 10, 275, zit. bei Perrot, aaO. 119.
[23] Cottret, aaO. 391.
[24] CR 71, 353
©Dr. Walter Schöpsdau, Lorsch
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