Zum Tag der Organspende: Zuwendung für den fernen Nächsten - das kann auch heißen: mein Organ!

Fritz Baarlink: ''Im Grab benötigen wir die Organe nicht mehr, aber andere können damit wieder leben!''

Das eigene Kind kann kaum noch atmen, seine Lunge ist in einem desolaten Zustand. Nur eine gespendete Lunge kann helfen. Und die Hilfe kommt. Fritz Baarlink, altreformierter Pastor in Veldhausen, dankt den Unbekannten, die seinem Kind neues Leben schenkten, und plädiert an alle potentiellen Organspenderinnen und -spender, den Protest nach dem Göttinger Skandal nicht auf Kosten der hilflosen Patienten auszutragen.

Vielen Dank für die Lunge!

Liebe Familie X!

Wir werden einander wohl nie kennen lernen, obwohl (oder gerade weil) uns seit einigen Wochen ein Ereignis zutiefst miteinander verbindet. Für Sie war es der tragische Verlust eines jungen Angehörigen, und für uns eine neue Lebensperspektive für unseren Sohn, einen lebensfrohen Teenager, der aufgrund enormer Probleme mit der Lunge seine Hoffnungen auf ein lebenswertes Leben nur noch mit einem neuen Organ verbinden konnte.

Es tat auch uns weh, mitzuerleben, dass er sich wegen Sauerstoffmangel kaum noch körperlich anstrengen konnte. Tapfer hat er seine Leukämie überwunden und dabei die Strapazen einer Knochenmarktransplantation auf sich genommen. Aber dann begann eine Immunreaktion, die zu chronischen Entzündungen führte, so dass schließlich das Lungengewebe vernarbte und brüchig wurde. Als dann Luft in den Brustraum entwich und die Lecks erst nach intensiver Behandlung geschlossen werden konnten, wussten wir, dass die Lunge in einem desolaten Zustand war. Somit reifte auch die Überzeugung, ihn auf die Transplantationsliste setzen zu lassen.

Kaum eine halbe Woche später kam dann der überraschende Anruf, dass eine („junge“!) Lunge so gut zu ihm passt, dass er von Eurotransplant bereits den Zuschlag erhielt. Dann ging alles ganz schnell und nun sind einige Wochen vergangen, die völlig komplikationslos verliefen. Unser Sohn atmet wieder richtig, er kann sich anstrengen und wird, sobald das Immunsystem stabilisiert ist, auch mit Freunden wieder das tun, was für 14- und 15-Jährige ansonsten selbstverständlich ist: sich treffen, etwas unternehmen, Spaß haben, ihr Leben aktiv in die Hand nehmen.

Diese überraschend plötzliche und in jeder Hinsicht für uns erfreuliche Situation, wieder (auch im wahrsten Sinne des Wortes) durchatmen zu können, haben wir Ihnen zu verdanken. Sie haben in einer äußerst tragischen Situation die menschliche Größe gehabt, in eine Organtransplantation einzuwilligen. Diese Haltung ist nicht selbstverständlich. Nur eine Minderheit hat einen Organspendeausweis ausgefüllt und damit den Willen bekundet, nach dem Tod bei entsprechender Eignung die Organe nicht mit ins Grab zu nehmen sondern damit Anderen wieder ein Stück Leben zu schenken.

Kürzlich las ich in unserer Lokalzeitung die Notiz, dass Angehörige in vielen Fällen nicht in eine Organtransplantation einwilligen. 40% der Befragten lehnen dies in dieser Situation plötzlicher Konfrontation mit dem Tod ab. Das kann ich gut nachvollziehen, denn wer soeben die Nachricht des Verlustes verarbeiten muss, steht unter Schock, und der Gedanke der Entnahme von Organen überfordert in dieser Situation viele. Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns „mitten im Leben“ damit auseinander setzen und unsere Einstellung über Organspendeausweise und über Gespräche in der Familie bekunden.

Ich weiß nicht, in welchem Land Sie wohnen, wahrscheinlich in einem der an Eurotransplant in Leiden/NL angeschlossenen Länder Benelux, Deutschland, Österreich, Slowenien und Kroatien. Aus Österreich, so sagte unser Arzt, kämen sehr viel Organe, denn dort wird die Bereitschaft zur Spende vorausgesetzt, es sei denn, es ist irgendwo eine ablehnende Haltung dokumentiert.

Bei uns in Deutschland wird wieder eifrig über dieses Thema diskutiert. Nach 15 Jahren – so lange reden und überlegen wir auch in überlebenswichtigen Angelegenheiten! – sind die Politiker jetzt so weit, dass Krankenkassen ihre Versicherten befragen und dokumentieren, ob sie als Spender in Frage kommen. Seltsam, die andere Frage wird nicht gleichzeitig gestellt, ob sie denn im Falle eines Organversagens eine Lunge, Niere, Leber oder ein Herz erhalten wollen…

Jesus sagte mal: alles, was euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch. Geben und Nehmen – nur in dieser Solidarität wird das Leben lebenswert. Sie haben jedenfalls einem Ihnen unbekannten Teenager mit seiner Familie sozusagen neues Leben geschenkt. Auf diesem Wege möchten wir Ihnen von Herzen danken und Ihnen in Ihrer Trauer – mit einem Stillen Gruß – Gottes Trost zu wünschen.

Im Namen meiner Familie: Ihr Fritz Baarlink

PS: Die betroffene Familie wird diese Zeilen wohl kaum lesen. Aber unser Sohn ist mit diesem „offenen Brief“ und dem Schritt in die Öffentlichkeit ausdrücklich einverstanden, denn wir möchten unseren Teil dazu beitragen, dass Patienten nicht so lange (und manchmal vergeblich) auf ein Überleben mit einem neuen Organ warten müssen.

Der "offene Brief" erschien zuerst als „Wort zum Sonntag“ von Pastor Fritz Baarlink, evang.-altref. Kirchengemeinde Veldhausen für die Grafschafter Nachrichten.

Bärendienst für Organspende

Auf Göttinger Skandal folgte fragwürdiger Protest

Das ohnehin sensible Thema „Organspende“ wurde vor einigen Wochen empfindlich belastet durch den Skandal, dass ein Oberarzt der Uniklinik Göttingen (vorher: Regensburg) Daten seiner Patienten zu ihren Gunsten manipulierte, damit sie eher an eine neue Leber kamen. Und plötzlich kochte die Volksseele über, die Bereitschaft, eine Einwilligung zur potentiellen Organspende zu unterschreiben, nahm kurzfristig rapide ab und im Eifer des Protestes schickten einige ihre zerrissenen Ausweise an die zuständigen Adressen. Mit einem Mal ist der erhoffte Erfolg der im Herbst zu erwartenden Aktion der Krankenkassen in Frage gestellt, die nach dem neuen Gesetz ihre Versicherten befragen, wie sie zur Organspende stehen. (Leider werden diese übrigens nicht gleichzeitig befragt, ob sie im Fall eines Organsversagens denn ein Spendeorgan annehmen würde... )

Die schnelle Vermittlung von Organen gegen entsprechende Honorarzahlungen ist natürlich in jeder Hinsicht ein Skandal. Es ist zwar noch verständlich, wenn ein Patient alle Hebel in Bewegung setzt, an diese lebenserhaltende Spende zu gelangen. Völlig unverständlich und niederträchtig ist dagegen die Rolle jenes Arztes, der dafür die Hand auf hielt und den Patienten entgegen seines Eides nicht gleiche Chancen einräumte. Über die Vergabe entscheidet unabhängig von der Person (und seinem Bankkonto) allein Eurotransplant in Leiden/NL und berücksichtigt dabei die Dringlichkeit, die Wartezeit, die Erfolgsprognose und die regionale Verteilung. Lediglich die Auslagen der Kliniken werden vergütet, weitere Geldzahlungen – auch z.B. an die Angehörigen des Spenders – sind ausdrücklich zu unterbinden.

Nun der Skandal aufgeflogen ist, sind alle zuständigen Stellen bemüht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und das System zu verbessern. Und das ist auch gut so. Da erscheint das Zerreißen von ausgefüllten Spendeausweisen ausgesprochen primitiv, darin äußert sich eher eine Stammtischmentalität als ein hilfreicher und wegweisender Protest zur Sache. Denn alle, die wegen dieses einen(!) Falles das ansonsten funktionierende System der Organspende in Frage stellen, verweigern im Fall eines Falles möglichen Empfängern die ersehnte Hilfe. Bereits heute stehen allein in Deutschland 12.000 Patienten auf der Warteliste und täglich sterben drei von ihnen, denn es gibt viel zu wenige Organe, immer noch werden zu viele mit ins Grab genommen.

Wenn sich daran nichts ändert und das neue Gesetz und die Befragung durch die Krankenkassen nicht zu einer deutlich höheren Spendebereitschaft führen, wenn sogar durch die Ereignisse in Göttingen und Regensburg diese Bereitschaft abnimmt, dann müssen mehr unheilbar Kranke als ohnehin noch länger leiden und eher sterben. Und dieser Mangel an Hilfe schmerzt jeden, dem die Not des Nächsten zu Herzen geht, wobei mit dem Gleichnis Jesu vom „Barmherzigen Samariter“ deutlich sein dürfte, dass es auch der ferne Nächste sein kann, der meine Zuwendung – und das kann auch heißen: mein Organ! – gebrauchen kann.

Ich schreibe diese Zeilen, weil ich als Betroffener täglich erlebe, welch ein Gewinn an Lebensqualität mit einer Organspende erreicht werden kann. Seit einem halben Jahr hat mein Sohn eine neue Lunge. Nach Leukämie und Knochenmarktransplantation und einem Angriff des neuen Immunsystems auf die Organe litt er u.a. an einer chronischen Entzündung der Lunge. Weniger als ein Liter Atemluft musste den erforderlichen Gas-Austausch versorgen. Schon der Weg in die obere Etage unseres Hauses brachte ihn außer Atem. Das zwischenzeitliche Entweichen von Luft in den Brustkorb machte schließlich deutlich, wie porös das Gewebe geworden ist. Dann die überraschende Nachricht, dass ein Organ für ihn  zur Verfügung stand, es folgte die erfolgreiche Transplantation und seitdem atmet der Junge mit mehr als vier Liter Atemluft! Den Körper kann er wieder belasten, er spielt Fußball und wollte es im Urlaub sich selbst und allen beweisen: in Köln bestiegen wir den Turm des Domes, 533 Treppenstufen, 100 Höhenmeter, er hat sie genau so bewältigt wie andere auch.

Nicht erst in solchen Momenten, auch in den alltäglichen Abläufen, die nach dreieinhalb Jahren schwerer Krankheit nun ohne Einschränkungen gestaltet werden, vergeht kein Tag, an dem ich nicht dankbar bin für das neue Leben. Der Dank gilt den Teams in den Kliniken, dass sie sich zu dieser Kunst der Transplantation haben ausbilden lassen, der Dank gilt in ganz besonderer Weise der Spenderfamilie, die in einem tragischen und zutiefst traurigen Moment in eine Organspende einwilligte, der Dank gilt Gott, dass wir in einer Zeit und in einer Region wohnen dürfen, die uns solche Höchstleitungen der Medizin (Klinik) und der Solidarität (Spenderfamilie) vorhalten.

Und für das gesamte System „Organspende“ ist es nur zu wünschen, dass viele diese Erfahrungen neuen Lebens teilen dürfen, weil die Spendebereitschaft mit der anstehenden Befragung durch die Krankenkassen deutlich zunimmt und weil Proteste gegen Skandale nicht auf Kosten der hilflosen Patienten ausgetragen werden.

Fritz Baarlink, Veldhausen

Der Beitrag erschien zuerst im Grenzboten vom 2. September 2012, online: www.altreformiert.de/2012/120902-grenzbote.pdf

weitere Infos zur Organspende:

www.organspende-info.de

Das "geistliche Wort" vom EKD-Ratsvorsitzenden Präses Nikolaus Schneider zur Organspende

 

 


Dezember 2012; ©Foto unten: BZgA