Forschungsprojekt mit reformierten Akzenten: ''Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989''

Zwei Millionen Euro für interdisziplinäres Forschungsprojekt von Wissenschaftlern aus München und Göttingen - Der Reformierte Lehrstuhl in Göttingen ist mit dabei.

Welchen Einfluss hatte der Protestantismus auf die ethischen Debatten nach dem Zweiten Weltkrieg in der 'al­ten' Bun­desrepublik? Auf welche Weise hat sich dieser Einfluss ma­ni­festiert? Und wie hat sich der Protestantismus dadurch selbst verändert? Diese Fragen stehen am Anfang eines umfangreichen Forschungsprojekts, für das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Dezember 2012 zwei Millionen Euro bewilligt hat.

Die Forschergruppe ist orts- und fächerübergreifend aufgestellt: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus München und Göttingen bringen Fachperspektiven aus Theologie, Zeitgeschichte, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft in den Forschungsverbund ein. Die thematischen Schwerpunkte liegen in den Debattenfeldern „Recht, Verfassung, Demokratie, Innere Sicherheit“, „Westintegration, Wiederbewaffnung, Friedensethik“, „Geschlechterverhältnisse, Ehe, Familie“, „Eigentum, Wirtschaftsordnung, Sozialstaat“ sowie „Technik, Ökologie und Naturverständnis“.
Die bewilligten Forschungsgelder fließen dabei in die Finanzierung von Doktorandenstellen.

Reformierte Akzente in der Orientierungskrise der 50er und 60er Jahre

Im Rahmen dieser Forschergruppe untersucht Prof. Dr. Martin Laube, Inhaber des Lehrstuhls für Reformierte Theologie an der Universität Göttingen, die elementare gesellschaftliche Orientierungskrise im deutschen Protestantismus der 1950er und 1960er Jahre. „Benommen, geradezu traumatisiert von der überstandenen Ka­ta­stro­phe des Nationalsozialismus, kennt sich der Protestantismus in der neuen Zeit nicht aus. Die überkommenen Figuren zur Deutung von Welt und Gesellschaft sind diskreditiert oder greifen nicht mehr. Zudem vermag er die raschen und tiefgreifenden Ver­än­de­run­gen nicht zu fassen, welche sich mit dem Auf­bau und der Konsolidierung des neuen Staats­we­sens vollziehen", beschreibt Laube die Krise und betont: Bei dieser Orientierungskrise handle es sich um weit mehr als nur „eine reflexionsverliebte Ledersesseldebatte“.

Zwei exemplarische Themenfelder stehen dabei im Mittelpunkt. Das erste Teilprojekt widmet sich der theologischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus in den 1950er und 1960er Jahren, das zweite nimmt das evangelische Staatsverständnis im Spiegel ethischer Entwürfe der 1950er und 1960er Jahre in den Blick. Beide Forschungsfelder seien mit „reformierten Akzenten“ verbunden, so Laube im Gespräch mit reformiert-info. Einen Strang des theologischen Marxismus-Sozialismus-Diskurses vertrete der 'linksprotestanti­sche' Flügel der Schule Karl Barths. Die­sem Flügel gehörte neben Ernst Wolf, Hans-Joachim Iwand und Walter Kreck auch Hel­mut Goll­wit­zer an, der bereits in den 1950er Jah­ren – lange bevor er nach '1968' zum Dia­log­part­ner der 'Neuen Linken' wurde – intensiv die theo­lo­gi­sche Aus­ein­an­der­setzung mit dem Mar­xis­mus vorantrieb.
In seinem zweiten Teilprojekt konzentriert sich der Göttinger Systematiker auf drei Themenkreise: (a) 'Zwei-Reiche-Lehre' und 'Königsherrschaft Christi', (b) Kirche und Staat im An­schluss an Barmen II und V sowie (c) 'Obrigkeit' und Demokratie.
Die theologische Deutung des Politischen war in den 50er Jahren weitgehend bestimmt von den im Kirchenkampf geprägten Leitformeln 'Zwei-Reiche-Lehre' einerseits und 'Königsherrschaft Christi' andererseits, erläutert Laube. Bei aktuellen Streitfragen entluden sich kirchenpolitische und konfessionelle Spannungen – wie etwa bei den innerkirchlichen Kon­­tro­ver­sen um das Darm­städ­ter Wort des Bruderrats von 1947 oder bei der Debatte um die ato­ma­re Be­waff­nung der Bun­des­wehr En­­de der 1950er Jahre, als sich lutherische Kirchenleitungen und bar­thia­nisch ge­präg­te Bru­der­schaf­ten gegenseitig vorwarfen, den Boden der Barmer Theo­lo­gi­schen Er­klä­rung ver­lassen zu ha­ben.

Die theologisch-ethischen Auseinandersetzungen bieten genug Stoff, um zu erschließen, welche theologischen Denkformen in der jungen Bun­desrepublik aufgenommen und verarbeitet wur­den. Welche Denkfiguren traten in den Hintergrund, welche wurden 'umformatiert' oder viel­leicht gar neu ausgebildet? Bei seiner Forschung bleibt Laube mit seinem Doktorandenteam nicht in den 50er und 60er Jahren stehen, sondern untersucht auch, welche Entwicklungen aus den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik in den Debatten der 1970er und 1980er Jahre zum Austrag kamen.

Religionsgeschichtliche Lücke in der Geschichtsschreibung der BRD

Ziel des Forschungsprojekts insgesamt ist es, eine Lücke in der Geschichtsschreibung zu füllen. Denn obwohl der Beitrag des Protestantismus zu den ethischen Debatten in der 'alten' Bundesrepublik unumstritten ist, wird er in ein­schlägigen Darstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik kaum genannt, wie ein Blick auf den von Hans-Peter Schwarz herausgegebe­nen Sammel­band „Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren“ (Köln 2009) oder auf Hans-Ulrich Wehlers abschließenden Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ (Mün­chen 2008) zeigt.
Eine ge­sell­schaftspolitisch informierte Religionsgeschichte der Bundesrepublik muss noch geschrieben werden.

Weitere Informationen zum dem Forschungsprojekt FOR 1765: „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989“ auf der im Aufbau befindlichen Homepage www.for1765.de

 


bs, 4. Februar 2013