Ich brauch‘ das - Predigt zu 1. Kor 12,21-27

von Kathrin Oxen, Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur, Wittenberg

auf dem 34. Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT) in Hamburg, während des Feierabendmahls im Zentrum Ferdinandstraße

Predigt von Kathrin Oxen

Ich dreh' den Kopf und seh' mich um. Die sind alle gar nicht hier. Die sind schon in den Stadtpark gegangen. Die stehen sich jetzt die Beine in den Bauch. Denn da gibt’s nicht mal Papphocker. Die klatschen sich jetzt schon mal ein bisschen warm. Denn in Hamburg fühlt sich Sommernacht eben ein bisschen anders an.
Gleich geht es los da. Gospel und Wise Guys, Tanzen und Klatschen, eine wogende Masse Mensch vor der Bühne. Ich ertrag‘ das nicht. Mir tun immer die Füße so weh und ich klatsch‘ nicht gerne im Takt. Das ist was für die. Konfis. Jugendlichen. Berufsjugendlichen. Für die, die sich nicht eingestehen wollen, dass sie aus dem Alter raus sind.
Ich brauch‘ das nicht mehr. Ich hab‘ das auch noch nie gebraucht. Ich bin schon immer lieber zu den Podiumsdiskussionen gegangen auf dem Kirchentag.
Und da wo ich hingehe, gehen die anderen nicht hin. Zum Glück. Man kann es schaffen, unter sich zu bleiben, auch bei fast 116 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Und sich sagen: Ich brauch das nicht. Ich sehe, ich erkenne, ich weiß dann schon. Ich will nichts zu tun haben mit Leuten ohne Verstand und Durchblick und mit Aktivisten und Aktionisten auch nicht.

Das Auge sagt zur Hand: Ich brauche dich nicht. Ich sehe doch. Ich erkenne.
Ich weiß.
Und der Kopf sagt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Ich bin doch oben. Ich erkenne. Ich weiß.
Und die Hand sagt zum Auge: Ich brauche dich nicht. Ich fass die Sachen einfach an.
Und die Füße sagen zum Kopf: Wir brauchen dich nicht. Wir gehen einfach los.

Ich dreh' den Kopf und seh' mich um. Jeder macht, was er will. Hält sich für einzigartig und ist überhaupt nicht angewiesen auf die anderen. So kann man den Kirchentag erleben und durch die Stadt und die Messehallen gehen. Immer aneinander vorbei. Das eigene Programm im Kopf und die Kirche, wie sie sein soll vor Augen.
Viele sagen, dass das Kraft gibt für den Alltag in der Gemeinde. Der ist ja längst nicht so bunt und abwechslungsreich und vielfältig und modern, sondern oft schwerfällig und langweilig und verstaubt und hinter der Zeit geblieben.
Davon einmal weg. Nach Herzenslust Kopf sein, die Dinge in der Tiefe durchdringen, reflektieren, diskutieren. Oder sehen, wie man es anpacken könnte, wo es hingehen sollte. Und dann mit Schwung loslegen. Ohne die Gremien, die Kirchenräte, die Synoden und die ganze schwerfällige Körperschaft öffentlichen Rechts. Ohne den Kirchenkörper, der ein bisschen aus der Form geraten ist in den guten, fetten Jahren. Immer geht ihm alles zu schnell und selten geht ihm etwas zu langsam. Manchmal muss man sich fremdschämen für ihn. Er ist so unansehnlich.

Das Auge sagt zur Hand: Ich brauche dich nicht. Ich sehe doch. Ich erkenne.
Ich weiß.
Und der Kopf sagt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Ich bin doch oben. Ich erkenne. Ich weiß.
Und die Hand sagt zum Auge: Ich brauche dich nicht. Ich fass die Sachen einfach an.
Und die Füße sagen zum Kopf: Wir brauchen dich nicht. Wir gehen einfach los.

Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht,
auch nicht der Kopf zu den Füssen: Ich brauche euch nicht.
Vielmehr sind eben jene Glieder des Leibes,
die als besonders schwach gelten, umso wichtiger,
und eben jenen, die wir für weniger ehrenwert halten,
erweisen wir besondere Ehrerbietung;
so genießt das Unansehnliche an uns großes Ansehen,
das Ansehnliche an uns aber hat das nicht nötig.
Gott jedoch hat unseren Leib so zusammengefügt,
dass er dem, was benachteiligt ist, besondere Ehre zukommen ließ,
damit es im Leib nicht zu einem Zwiespalt komme,
sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander besorgt seien.
Leidet nun ein Glied, so leiden alle Glieder mit,
und wird ein Glied gewürdigt, so freuen sich alle Glieder mit.
Ihr seid der Leib des Christus, als einzelne aber Glieder.

(1.Kor 12,21-27, Zürcher Bibel)

Ich dreh' den Kopf und seh' mich um. Dieser Einspruch kommt aus einer anderen Zeit. Bei Paulus in Korinth gibt es Köpfe und Augen und Hände und Füße in der Gemeinde. Die haben es schwer miteinander. Die Gemeinde gibt es noch gar nicht lange. Der Kirchenkörper ist erst ganz neu erschaffen und doch innerlich schon ganz zerrissen. Das war lange vor den großen Spaltungen, die wir immer beklagen.
Unterschiedlich begabte Leute kommen zusammen. Was den einen wichtig ist, interessiert die anderen nicht. Einige sind auf einer ganz anderen Ebene der Diskussion und die anderen kommen da nicht ganz mit.
Die einen sagen zu den anderen. Wir erkennen. Wir wissen. Und bleiben lieber stehen. Die einen sagen zu den andern: Wir brauchen euch nicht. Wir fassen die Sachen einfach an. Und wir gehen jetzt los.
So hochmütig die einen, so träge die anderen. Kopf-und-Augen-Partei gegen Hand-und-Fuß-Initiative. Für eine Gemeinde bedeutet das Wachkoma, wenn sich in ihr nur noch Kopf und Augen bewegen. Oder es wird nur noch gemacht und getan, ohne Konzept, ohne Überblick.
Wenn ich den Kopf drehe und mich umsehe, sieht der Kirchenkörper in Korinth unseren Kirchenkörpern ziemlich ähnlich. So wie ganz oft ist nicht das Schöne zu sehen, sondern das Unansehnliche und mühsam Verborgene an ihm. Die zwei Kilo zu viel im unbarmherzigen Licht einer engen Umkleidekabine.

Aber das Auge kann nicht zur Hand sagen, ich brauche dich nicht,
auch nicht der Kopf zu den Füssen: ich brauche euch nicht.
Das Schwache ist wichtig.
Das Unansehnliche genießt großes Ansehen.
Dem Benachteiligten kommt besondere Ehre zu.
 

Ich dreh' den Kopf und seh' mich um. Da kommen die beiden mir entgegen. Die alte Frau und die junge, Naomi und Ruth. Die beiden verbindet nichts mehr, sie sind leiblich nicht verwandt, formal könnte ihre Beziehung zu Ende sein. Die junge Frau hätte umkehren können an der Grenze. Es wäre bei einigem Nachdenken sicher viel klüger gewesen.
Warum hängst du dich mit deinem ganzen Leben und mit all deinen Möglichkeiten bloß an diese alte, verbrauchte und unansehnliche Frau? Du musst ja jetzt schon langsam gehen, damit sie überhaupt mitkommen kann. Und so wird es weitergehen. Wenn du mit ihr gehst, wirst du Ausländerin und gehörst ewig zu den Benachteiligten. Was hast du davon?
Ruth hat nur eine Antwort auf all diese berechtigten Fragen: Dein Gott ist mein Gott. Dass wir beide an ihn glauben, das verbindet uns. Und dieser Gott sagt:

Das Schwache ist wichtig.
Das Unansehnliche genießt großes Ansehen.
Dem Benachteiligten kommt besondere Ehre zu.

Ich kann nicht sagen: Ich brauche dich nicht. 

Ich dreh' den Kopf und seh' mich um.
Konfimädchen in ganz engen Jeans und schlaksige Jungs mit ein bisschen Bartwuchs, die sich abends auf dem Schoß sitzen im Gute-Nacht-Cafe und Händchen halten und küssen und knutschen. Das ist mein Leib.
Anzugmänner und Kostümdamen unterwegs zur nächsten Diskussionsrunde mit Prominenten, durchdrungen von der Wichtigkeit der evangelischen Kirche in der Gesellschaft. Das ist mein Leib.
Mütter mit Babys im Tuch, im Wagen und an der Brust. Papas mit ihren Kindern auf der Schulter. Das ist mein Leib.
Beneidenswert rüstige Rentnerehepaare, schon grau geworden im Kampf für eine bessere Welt, für Frieden und Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Sie kennen das Wort Rückenschmerzen nicht und verbringen klaglos drei Stunden auf einem Papphocker bei der Hauptpodienreihe. Das ist mein Leib.
Spastisch gelähmte Menschen in Rollstühlen und freundlich staunende erwachsene Behinderte mit ihren Betreuern. Das ist mein Leib.
Studienräte in praktischen Outdoorsandalen und Jack-Wolfskin-Jacke mit Brustbeutel für die Dauerkarte und durchgearbeiteten Programmheften mit etwa einhundert neongelben Klebezettelchen. Das ist mein Leib.
Jugendgruppen, die weder Gitarre spielen noch singen können, aber beides mit Inbrunst tun. Das ist mein Leib.

Ich dreh' den Kopf und seh mich um:

Gott hat uns zusammengefügt.
Wir sind der Leib des Christus.

Amen

Anmerkung: Rut 1,6-8.16-17 war Lesung im Gottesdienst.


Kathrin Oxen, Leiterin des Zentrums für evangelische Predigtkultur, Wittenberg, 3. Mai 2013

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