Schwarze Ecken und leere Flächen

Mittwochs-Kolumne. Von Barbara Schenck

Die rechte obere Ecke ist schwarz, darunter weiße Leere mit einem Satz, getippt im unregelmäßigen Anschlag einer Schreibmaschinenschrift: "Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!".

Das Motiv stammt von Sigmar Polke aus dem Jahr 1969. Als Postkarte liegt es auf meinem Nachttisch. Im Original ist es Lack auf Leinwand, 149 x 124 cm groß.

Das gefällt mir, dieses Selbstbewusstsein des Künstlers Sigmar Polke (1941-2010). Eine schwarze Ecke zu malen ist der Befehl eines höheren Wesens. Die dunkle Dreieck ist nicht Resultat künstlerischer Inspiration, sondern ein Befehl Gottes. So einfach ist das. Ich will auch Künstlerin sein! Was plage ich mich damit, Worte der Schrift auszulegen oder mit einem Bekenntnis zu ringen, anstatt einfach zu sagen, was Sache ist und dann als Signatur darunter zu setzen: ein Befehl Gottes. Höhere Steuern für Reiche - das befiehlt Gott. Punkt. So iss es. Höre ich ein Reden dieser Art aus dem Mund einer Pfarrerin oder eines Theologen, denke ich: "Wie fundamentalistisch. Du machst es dir zu einfach!" Im Werk eines bildenden Künstlers erheitert mich der Satz vom Befehl eines höheren Wesens. Soll Polke so reden, als Theologin kann ich mir nicht vorstellen, dass Gott sich um jeden Pinselstrich kümmert. Aber etwa um jedes Haar auf meinem Haupt? Oh, oh, diese Denkfallen.

Wie kann's jetzt weitergehen? Ich greife noch einmal zur Karte, lese etwas gründlicher und entdecke den Plural der "höheren Wesen". Das kann meinen einen und einzigen Gott ja gar nicht beschreiben. Auf der Rückseite finde ich eine weitere Information: Das Bild stammt aus der Serie "Die drei Lügen der Malerei". Sollte das Werk etwa ironisch gemeint sein? Zumindest der Wikipedia-Artikel zu Polke ist auch dieser Meinung.
Langsam dämmert es mir: Die Konzentration auf die schwarze Ecke war ein Ausweichmanöver. Die Leere darunter, das weiße Blatt will etwas von mir. Es ist, als ob es spräche: Wag' den Schritt ins Leere, bekenne, "was ein Herz berührt"*. 

 

*In Anlehnung an ein Zitat aus der Predigt von Christoph Sigrist zum Bilderverbot: "Der leere Kirchraum gleicht einem weißen Blatt, das darauf wartet, dass jemand darauf schreibt und zeichnet, dass unsichtbare Gedanken lesbar werden." - Sowie: "Wer bekennt, was ein Herz berührt, wagte Schritte ins Offene und Leere beim Arbeiten und beim Beten."

Mein Bekenntnis heute: ein Dank an Andreas Mertin und Christoph Sigrist. Ohne ihre Worte zum "White Cube" und zum "Bilderverbot" - anhand des Kirchenfensters zum Menschensohn von Sigmar Polke im Zürcher Großmünster -, hätte ich "meinen Polke" nicht noch einmal mit aufmerksameren Augen betrachtet.

Anzusehen:
"Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!"; Abbildung auf: www.artmagazine.cc/media.html?mediaId=34930&contentId=37263

Das Kirchenfenster "Menschensohn" zeigt ein Video bei 4:49: http://vimeo.com/38156544

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Barbara Schenck, 5. Juni 2013