Weder Penis noch Klitoris

Von kleinen Unterschieden. Mittwochs-Kolumne von Barbara Schenck

X-Chromosom plus y-Chromosom gleich männlich, x plus x weiblich. Das hab' ich in der Schule gelernt. Das ist so einfach wie falsch.

Die Gene auf dem y-Chromosom entscheiden nicht selbstherrlich, welche Geschlechtsorgane sich entwickeln. Dazu sind auch andere Gene nötig und Hormone, die je nach Umweltfaktoren wie Ernährung, Bewegung und Erziehung unterschiedlich wirken. Aus biologischer Sicht gibt es unzählige Geschlechter, nicht nur zwei. Wie wir ein Geschlecht erkennen, liegt auch an unseren Vorstellungen von Mann und Frau und an unseren Sehgewohnheiten. Klitoris und Penis gehen aus einer gemeinsamen Anlage hervor. Direkt nach der Geburt unterscheiden sie sich nur anhand der Länge. "Eine vergrößerte Klitoris kann als Penis gelesen werden, ein kleiner Penis als Klitoris", sagt der Biologe Heinz-Jürgen Voß.
Ein Kind wird geboren, der "Hügel" zwischen den Beinen als Schamlippe erkannt, aber Eierstöcke sind nicht im Leib. Männlich oder weiblich oder zwittrig oder intersex oder ... einfach Mensch? In Deutschland werden jährlich rund 200 Kinder geboren, die bei der Geburt nicht einem der beiden Geschlechter zuzuordnen sind. Eine "geschlechtangleichende" Operation ist erlaubt. Kleine Hoden in der Bauchhöhle werden entfernt und eine Vagina angelegt. Das Kind bekommt Hormone und die Eltern werden geschult die Vagina zu weiten, via Finger oder Vaginoplastik. Brutal. Kosmetische Genitaloperationen an Minderjährigen sind nach wie vor nicht verboten - trotz Rüge von Seiten der UNO -, entsprechende Anträge vom 27. Juni dieses Jahres lehnte der Bundestag ab. Eine Änderung im Personenstandsgesetz wurde beschlossen. Eltern müssen im Geburtsregister ab dem 1. November nicht mehr "männlich" oder "weiblich" ankreuzen. Allerdings wird als weitere Möglichkeit nicht "anderes" angeboten, wie der Deutsche Ethikrat 2012 empfahl.

Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern in unserer Gesellschaft sind nicht zu übersehen und es macht keinen Sinn, sie zu leugnen, aber ärgerlich ist diese zweigeschlechtliche Einteilung auch für Menschen, die nicht Intersexe sind. Zwei Beispiele: 1) Als Teeny träumte ich davon, ein Junge zu sein. Dann, so war ich überzeugt, hätte ich besser kämpfen können, um mein Baumhaus zu verteidigen. Statt zu träumen hätte ich besser trainieren sollen. Aber damals wusste ich noch nicht, dass die derzeit zu messenden Unterschiede in sportlichen Leistungen zwischen Männern und Frauen nicht "natürlich" sind, sondern gesellschaftlich bedingt, wie etwa Vergleiche der Laufbestzeiten beim Marathon zeigen. Seitdem Frauen erstmals 1964 zu offiziellen Wettkämpfen zugelassen wurden, verringerte sich die Differenz zu den "männlichen" Bestzeiten von einer Stunde auf rund zehn Minuten.
2) Der japanische Künstler Mao Sugiyama ließ sich Hoden und Penis entfernen und beauftragte einen Chefkoch, daraus eine Mahlzeit für geladene Gäste zuzubereiten. "Für diesen Künstler war der eigene Phallus ein Hemmnis für das freie Spiel der Identität. Er wollte frei sein von jeder biologischen und geschlechtlichen Beschränkung", erzählt der Philosoph Byung-Chul Han.

"Weder Mann noch Frau", das gilt vor Gott. Weder Penis noch Klitoris, weder Hoden noch Gebärmutter sind natürlich-eindeutige Zeichen für eins der beiden Geschlechter, sagt die Medizin. Wer bist du? "Ich bin Piffpaffpoffi!", antwortete ich als Kind. War dieses P-Geschöpf nun männlich oder weiblich? Heute ist mein Vorbild eine andere Antwort: "Ich werde sein, wer ich sein werde." Und wenn wir wollen, ist auch das nicht nur ein Traum: Eine Gesellschaft ohne Zweiteilung der Geschlechter. Dazu sagt Heinz-Jürgen Voß im chrismon-Interview: "Das Geschlecht hätte einen Stellenwert wie heute das Sternzeichen oder ob ich Tiere mag. Man kann danach fragen, aber es ist nicht wirklich von Bedeutung." 

Quellen

Voß, Heinz-Jürgen, Geschlecht. Wider die Natürlichkeit, Reihe theorie.org, Stuttgart 2011.

Interview mit Heinz-Jürgen Voß in chrismon 09.2013, Seite 7, online auf chrismon.de.

Das Zitat von Byung-Chul Han stammt aus seinem Gespräch mit Thea Dorn, geführt von Wolfram Eilenberger unter dem Titel "Freiheit, die wir meinen", in: Philosophie Magazin Oktober/November, Nr. 6 / 2013, 58-63, hier 61.

Mehr zum Thema online im Soziologiemagazins zum Thema “Sex, Gender, Diversity und Reifikation: (Wozu) brauchen wir (ein) Geschlecht?”

und auf http://maedchenmannschaft.net/weiblich-maennlich-luecke-das-neue-gesetz-schadet-vor-allem-intersexen/

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Barbara Schenck, 18. September 2013