Theologie zwischen Gesellschaft und Kirche

Lucius Kratzert untersucht die schweizerische und deutsche Theologie zwischen Nationalismus und Sozialismus, Faschismus und Demokratie

Wie Barth sich selbst und die Kirche politisiert, Gogarten nach Autoritäten sucht und Werner aus der Geschichte Lehren zieht – eine Untersuchung zur nationalen Prägung von Gesellschaftslehren deutscher und schweizerischer Theologen im 20. Jh. Eine Rezension von Georg Rieger.

Dass sich Theologen verschieden entwickeln, ist nicht nur deren unterschiedlichen Gehirnwindungen und dem Heiligen Geist zu verdanken, sondern auch äußeren Einflüssen. Das hat Lucius Kratzert (33) in einer Dissertation nachgewiesen, die er an der Theologischen Fakultät in Basel bei Professor Georg Pfleiderer eingereicht hat. Die drei posthumen Probanden Karl Barth, Friedrich Gogarten und Martin Werner boten sich an, weil sie zwar aus zwei verschiedenen Ländern stammten aber etwa zur gleichen Zeit geboren wurden. Auch was ihre Herkunft aus dem großstädtischen Bildungsbürgertum und die pfarramtlichen Erfahrungen vor der akademischen Laufbahn angeht, finden sich Gemeinsamkeiten. Später entwickelten sie sich dann allerdings in ziemlich unterschiedliche theologische und politische Richtungen auseinander.

Karl Barth (*1886 in Basel) begründete mit Friedrich Gogarten (*1887 in Dortmund) die Dialektische Theologie bevor sich ihre Wege trennten. Martin Werner (*1887 in Bern) galt als der Schüler Albert Schweitzers und als führender Kopf der schweizerischen liberalen Theologie und stand zeitlebens in Konkurrenz zu Barth.

In drei Etappen beschreibt Kratzert, der inzwischen als Pfarrer in Karlsruhe arbeitet,  jeweils parallel den Werdegang der drei Theologen und vor allem die Entfaltung ihrer Theologie vor dem jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Hintergrund. Die drei Zeitabschnitte, in die die Untersuchung aufgeteilt ist, sind die Krise nach dem ersten Weltkrieg,  die Zeit des Totalitarismus und das Aufleben der pluralen Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg.

Obwohl Kratzert „die Entwicklung theologischer Lehrbildungen zwischen biografischer Prägung und systematischer Denkfigur zu beschreiben und beide Pole miteinander zu vermitteln“ sich vornimmt, sind die Lebensdaten erstaunlicherweise in wenigen Seiten zusammengefasst und werden auch in den einzelnen Zeitabschnitten in nur wenigen Einzelheiten ans Tageslicht befördert.

Umso ausführlicher beschreibt der Autor den jeweiligen theologischen Entwicklungsstand der drei Theologen. Wenn man mit der etwas komplexen Ausdrucksweise klar kommt, dann liegt darin der Gewinn für den Leser und die Leserin. Zwar werden dann am Ende jedes Kapitels auch die Auswirkungen der systematischen Denkfiguren auf die Gesellschaftslehre beschrieben und die drei Protagonisten miteinander verglichen. Doch leider wird nicht noch einmal thematisiert, was sich jetzt eigentlich wie gegenseitig beeinflusst hat. Der Einfluss von „mentalen Dispositionen“ auf die theologische Lehrbildung wird zwar untersucht, doch – um nicht in das Fahrwasser einer kontextuellen Hermeneutik zu geraten – so halbherzig, dass es nicht zu wirklich interessanten Erkentnissen kommt.

Lucius Kratzert grenzt sich gleich am Anfang von den „rein kirchenhistorischen oder ideengeschichtlichen Ansätzen“ ab. Aber ist es möglich, die oben genannten „Pole“ zu vermitteln, ohne die Lebensgeschichten genauer unter die Lupe zu nehmen? Es bleibt so leider unklar, an welchen Stellen welche Ereignisse und Beziehungen die „systematischen Denkfiguren“ beeinflusst haben.

Statt dessen wird zum Beispiel der Vorwurf gegen Barth wieder aufgewärmt, seine Theologie sei strukturanalog zur faschistischen Ideologie. Auch wenn sich Kratzert dieser Meinung nicht anschließt, bleibt die Argumentation seltsam losgelöst von biografischen Anhaltspunkten, die solchen konstruierten Anwürfen eindeutig widersprechen.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Autor selbst bezüglich der Ergebnisse enttäuscht ist. Denn er besingt im abschließenden Ausblick auf „die mentale Prägung theologischer Arbeit“ lediglich in geradezu wagnerianischer Manier den Rhein als das verbindende geografische Element der schweizerischen und deutschen Theologen. Kein Wort darüber, was aus der mühsamen Arbeit für Schlüsse gezogen werden können, ob und wie die Methode weiter entwickelt und auf andere Felder angewandt werden könnte.

So ist das Buch mit dem verheißungsvollen Titel über die „Theologie zwischen Gesellschaft und Kirche“ vor allem ein dogmatisches Lehrbuch mit einigen biografischen und historischen Bezügen. Auch wenn es methodisch keine wirklich neuen Wege beschreitet, leistet es für die Rezeption der Theologie von 1920 bis etwa 1960 einen wichtigen Beitrag.

Lucius Kratzert, Theologie zwischen Gesellschaft und Kirche. Zur nationalen Prägung von Gesellschaftslehren deutscher und schweizerischer Theologen im 20. Jh. (TVZ, in der Reihe: Christentum und Kultur, Band 14, Zürich 2013, 372 Seiten; ISBN 978-3-290-17715-7; EUR 40,00 (D) - EUR 41,20 (A) - CHF 52,00)


Georg Rieger, Oktober 2013