Masse war gestern

Die Nische ist trendy. Mittwochs-Kolumne von Barbara Schenck

"Masse war gestern. Die Gesellschaft von heute setzt sich aus kleineren und größeren Nischen zusammen. Wo früher galt „so zu sein, wie alle anderen“, dominiert heute das Bedürfnis gerade anders zu sein, als alle anderen", sagt das Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main, eine Einrichtung, die strategisches Wissen vermitteln will "für die Wirtschaft von morgen".

Allen, die bis hierhin gelesen haben, versichere ich besten Wissens und Gewissens: Sie gehören dazu! Du gehörst dazu! - Zu einer Nische, zum kleinen "Club" der reformiert-info-Fans. Wir sind nicht so wie die vielen anderen. Ein gutes Gefühl! Mir zumindest gefällt diese Wertschätzung der Nische.

Das Loblied auf die kleinen Minderheiten im Mainstream der Gesellschaft klingt gut auch im Blick auf sinkende Mitgliederzahlen der Kirchen. Mancherorts ist sie bereits da, die "Nischenexistenz" christler Gemeinden, für andere Gegenden wird sie vorhergesagt. Was sagen eigentlich Kirchenleute dazu? Können sie einstimmen in ein Loblied auf die Nische? Drei Theolog_innen, die sich nicht im Lamento über eine zunehmende Entchristlichung unserer Gesellschaft ergehen, seien an dieser Stelle zitiert: Christian Grethlein, Kathrin Oxen und Thomas Schlag.
Als Großorganisation sei die Kirche überfordert, meint der Münsteraner Theologieprofessor Christan Grethlein. Anstatt sich nach dem Muster von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden mit Filialen und einer Zentrale aufzubauen, empfiehlt er christlichen Gemeinden, mehr die familiär-nachbarschaftlichen Bezüge in den Blick zu nehmen.
Kathrin Oxen erzählt im Interview, sie habe als Pfarrerin im Osten Deutschlands "jegliche Angst vor Schrumpfungsprozessen verloren". Sie fände es nicht besonders schlimm, wenn sich die Kirche auch im Westen zu einer Minderheit entwickle: "Wenn man auf die ganze Geschichte schaut, wird einem klar: Es war eine Sondersituation, dass die Kirche in den letzten Jahrzehnten so reich und wichtig war."
Thomas Schlag, praktischer Theologe in Zürich, empfiehlt eine Schärfung des evangelischen Profils mit Blick auf das Kreuz in seiner "Irrationalität, Torheit und Schwachheit". Er ermuntert Gemeinden zu "profilierter Irritation" und "sperriger" Argumentation, auf dass nicht alles "konventionell, wohlgeordnet, einschätzbar" bliebe - "und damit am Ende nur noch langweilig". Damit widerspricht er einem Missionskonzept, das Massen erreichen will.
Die Botschaft zählt in all dem Zahlengewusel, den Vergleichen, Trends und Nischen: "Tod, wo ist dein Stachel?" Und überhaupt, ein Jesuswort klingt längst im Kopf der Bibelkundigen: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20).

Aber, aber da ist ja auch noch das Evangelium in Matthäus 28, der Auftrag des Auferstandenen: "Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern". Zu viel des Anspruchs? Für den Glauben mag der folgende Gedanke nicht relevant sein, aber vielleicht ist er ein nicht zu verachtendes Trösterchen* für schwache Menschlein: Die Prognose des Zukunftsinstituts sagt: "... was heute noch Nische ist, kann morgen schon den Mainstream revolutionieren."

 

*Michael Beintker, Professor am Seminar für reformierte Theologie in Münster, hebt in einem Vortrag über den Heidelberger Katechismus als Trostbuch des Glaubens ausdrücklich hervor, gegen "Momente temporärer Beglückung und Erfüllung" werde man die erste Frage des Heidelberger Katechismus nicht gleich in Stellung zu bringen haben. "Nicht jeder Trost muss umgehend seiner christologischen Justierung zugeführt werden oder gar von Jesus Christus her problematisiert werden. Freuen wir uns vielmehr, dass Gott dem irdischen Dasein soviel Segen schenkt – man lese dazu die Auslegung der Brotbitte des Unservaters in Frage 125 –, dass sich in ihm auch noch andere ernsthaft so zu nennende Trostgründe finden."

Quellen:
Meldung des Zukunftsinstituts auf: http://www.zukunftsinstitut.de/verlag/studien_detail.php?nr=116

Theologieprofessor Grethlein: Großorganisation Kirche nicht nah genug am Menschen, epd-Meldung Ende September 2013; URL: http://www.epd.de/landesdienst/landesdienst-west/schwerpunktartikel/theologieprofessor-grethlein-gro%C3%9Forganisation-kirc (abegrufen am 22. Oktober 2013).

Christian Grethlein, Pfarrberuf - ein theologischer Beruf, Vortrag beim Symposium zum Auftakt der Erarbeitung eines rheinischen Pfarrbildes am 29. Januar 2011 in Düsseldorf; URL: http://www.ekir.de/www/downloads/Grethlein_Pfarrberuf-ein_theologischer_Beruf.pdf (abgerufen am 22. Oktober 2013).

Interview mit Kathrin Oxen vom 2. September 2013 auf evangelich.de: http://aktuell.evangelisch.de/artikel/88028/kathrin-oxen-schrumpfen-der-vereinskirche-kein-verlust (abgerufen am 22. Oktober 2013).

Thomas Schlag, Dynamisch-gelassener Aufbruch. Profil und Offenheit dürfen in evangelischen Landeskirchen keine Gegensätze sein, in: zeitzeichen, 14. Jg., Oktober 2013, 27-29, Zitat S. 28.

 


Barbara Schenck, 23. Oktober 2013