Kurzmeldungen




Ohne Kirchenbindung verkümmert Glaube an Gott

Religionssoziologe Detlef Pollack zur Lage der evangelischen Kirche in Deutschland – Experten werten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung Anfang April in Münster aus.

Münster, 26. März 2014 (exc). Mit dem Rückgang der Kirchenbindung sinkt auch der Gottesglaube.

Auch wenn die meisten Deutschen in repräsentativen Umfragen immer wieder angeben, sie könnten auch ohne Kirche an Gott glauben, tun dies nach religionssoziologischen Analysen nur wenige.

„Von den Mitgliedern der evangelischen Kirche, die nie einen Gottesdienst besuchen, glaubt weniger als die Hälfte an Gott. Von denen, die mindestens einmal im Monat zur Kirche gehen und sich auch in der Gemeinde engagieren, bekennen sich hingegen so gut wie alle zum Glauben an Gott“, erläutert Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster unter Bezug auf die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), an der er wissenschaftlich beteiligt war. Der Forscher kündigte eine Tagung des Exzellenzclusters und des Centrums für Religion und Moderne (CRM) am 1. und 2. April in Münster an, auf der Wissenschaftler die fünfte KMU detailliert auswerten werden.

„Der Glaube verkümmert, wenn der Austausch mit dem Pfarrer und anderen Gleichgesinnten sowie gemeinsame Riten im Gottesdienst fehlen. Die Kirche fungiert für jene Protestanten, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, als Stütze des Glaubens“, so Prof. Pollack. „Heute wird zwar häufig von einem Trend zur frei flottierenden Religiosität oder zu einer Religiosität ohne Kirche gesprochen, unter dem Stichwort ‚believing without belonging‘ (Glaube ohne Mitgliedschaft)“, erläutert Prof. Pollack. „Doch christliche Religiosität ist nach wie vor selten ein rein individueller Akt.“ Vielmehr bedürfe sie der kirchlich-institutionellen Unterstützung, wie die Umfrage der EKD am Beispiel des Protestantismus zeige.

„Zwar glauben von denen, die nie den Gottesdienst besuchen, etwa ein Viertel an Gott oder ein Höheres Wesen, ganz gleich ob es sich dabei um Kirchenmitglieder oder Konfessionslose handelt“, so der Soziologe. „Doch die Bekundung eines Gottesglaubens ist weitaus wahrscheinlicher, wenn die Menschen wenigstens manchmal in die Kirche gehen, und sie ist für diejenigen, die eine intensive Mitgliedschaftspraxis aufweisen, nahezu selbstverständlich.“ Zugleich lasse sich eine wachsende Gleichgültigkeit vieler Protestanten gegenüber ihrer Kirche feststellen: Laut KMU fühlen sich 32 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder mit ihrer Kirche kaum bis gar nicht verbunden. Vor 20 Jahren waren es 27 Prozent.

Dass die Kirche kontinuierlich Mitglieder verliert, ist Prof. Pollack zufolge unter anderem einer wachsenden religiösen Individualisierung zuzuschreiben. „Persönliche Glaubensüberzeugungen werden immer öfter individuell aus Versatzstücken verschiedener religiöser Traditionen oder religiöser Neuschöpfungen zusammengesetzt.“ Die Kirchen treffe das besonders, da individuelle Selbstbestimmung häufig mit Skepsis gegenüber institutionellen Vorgaben einhergehe. So ging die Zahl der Protestanten von 2007 bis 2012 von 24,8 Millionen auf 23,4 Millionen Menschen zurück. Die Zahl der Katholiken sank im selben Zeitraum von 25,5 Millionen auf 24,3 Millionen.

Workshop zur Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD in Münster

Die Evangelische Kirche in Deutschland lässt seit 1972 alle zehn Jahre ihre Institution im Rahmen großer repräsentativer Studien durch Sozialwissenschaftler und Theologen untersuchen. Für die jüngste Erhebung befragte das Institut TNS Emnid Ende 2012 insgesamt 2.016 Protestanten und 1.011 Konfessionslose in Deutschland. Die fünfte KMU fragte besonders nach religiösen und kirchlichen Praktiken, Einstellungen zur Kirche, religiöser Sozialisation und Tendenzen der Mitgliederentwicklung.

Auf der interdisziplinären Tagung, die am 1. April in Münster stattfindet, werden Prof. Pollack und weitere Wissenschaftler wie der Religionssoziologe Prof. Dr. Heiner Meulemann aus Düsseldorf die Ergebnisse detailliert auswerten. Es schließt sich am 2. April ein Workshop zum Thema „Von der Kirchensoziologie zur Christentumsforschung?“ an. Er widmet sich Fragen der zunehmenden Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung der religiösen Landschaft Europas seit den 1960er Jahren. „Im Mittelpunkt steht die im Jahr 1967 von Soziologe Thomas Luckmann gestellte Diagnose, die Religion sei in Europa ‚unsichtbar‘ geworden“, erläutert Religionswissenschaftlerin PD Dr. Astrid Reuter vom CRM. Sie organisiert den Workshop gemeinsam mit dem Historiker Prof. Dr. Thomas Großbölting und der katholischen Theologin Prof. Dr. Judith Könemann vom CRM und Exzellenzcluster. Die Tagung findet in Kooperation mit dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover statt.

Die Wissenschaftler wollen in Münster fächerübergreifend der Frage nachgehen, inwieweit es angesichts der Veränderungen der religiösen Landschaft angebracht ist, das Christentum auf konfessionelle Bindungen und religiöse Institutionen bezogen zu erforschen. Erörtert werden soll, mit welchen Methoden die christliche Religion in der heutigen Zeit angemessen wissenschaftlich untersucht und beschrieben werden kann. Zu den Teilnehmern zählen der katholische Theologe Prof. Dr. Karl Gabriel vom Exzellenzcluster und der evangelische Theologe Prof. Dr. Martin Laube aus Göttingen. Den Abschluss bildet ein „Runder Tisch“ über neue Forschungsperspektiven, an dem neben Prof. Pollack der Soziologe Prof. Dr. Volkhard Krech aus Bochum, Historiker Prof. Dr. Olaf Blaschke von der Uni Münster sowie die beiden evangelischen Theologen Prof. Dr. Thomas Schlag aus Zürich und Prof. Dr. Isolde Karle aus Bochum teilnehmen. (han/vvm)

Programm

Dienstag, 1. April

Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD. Ergebnisse - Einordnung - Kommentare

16.00 Begrüßung

16.05-16.20  Prof. Dr. Gerhard Wegner, Hannover
Ende des liberalen Paradigmas? Die fünfte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) im Spiegel der älteren Untersuchungen

16.20-17.30  Anja Schädel, Hannover
EKD-Erhebungen zur Kirchenmitgliedschaft 1972-2012. Zeitreihen und Momentaufnahmen

Tabea Spieß, Hannover
Kirche und Zivilgesellschaft
           
Anne Elise Liskowsky, Hannover
Empirische Messung von Religiosität: Möglichkeiten und Grenzen der KMU

18.00-18.30 Prof. Dr. Heiner Meulemann, Köln; Prof. Dr. Detlef Pollack, Münster
Kommentare

18.30-19.30 Diskussion

Mittwoch, 2. April

Von der Kirchensoziologie zur Christentumsforschung? Vergewisserungen und Perspektiven nach Luckmann

09.00 Begrüßung

09.15-12.45 Prof. Dr. Karl Gabriel, Münster; Prof. Dr. Martin Laube, Göttingen
Zwei Perspektiven auf das Thema

14.15-15.00 Anna Meuth, Münster
From Faith to Fame? Positionen christlicher Akteure in der Öffentlichkeit

15.00-15.45 Adrián Tovar Simoncic, Bielefeld
Das religiöse Feld in Lateinamerika: Struktur und Wandel der religiösen Nachfrage

16.15-17.00 Dennis Kuhl, Münster
Mitgliederbindung in Minderheitskirchen. Zur Mesosoziologie der Freikirchen, Gemeindebünde und Sondergemeinschaften           

17.00-17.45  Benedikt Brunner, Münster
Zwischen Reform und Beharrung – die Debatten über die „Volkskirche“ im westdeutschen Protestantismus 1960-1980         

18.15-19.30 Prof. Dr. Olaf Blaschke, Münster; Prof. Dr. Isolde Karle, Bochum; Prof. Dr. Volkhard Krech, Bochum; Prof. Dr. Detlef Pollack, Münster; Prof. Dr. Thomas Schlag, Zürich
Runder Tisch

Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster

Im Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) forschen rund 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehr als 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern und 14 Nationen. Sie untersuchen das komplexe Verhältnis von Religion und Politik quer durch die Epochen und Kulturen: von der antiken Götterwelt über Judentum, Christentum und Islam in Mittelalter und früher Neuzeit bis hin zur heutigen Situation in Europa, Amerika, Asien und Afrika. Es ist der bundesweit größte Forschungsverbund dieser Art und von den 43 Exzellenzclustern in Deutschland der einzige zum Thema Religion. Bund und Länder fördern das Vorhaben in der zweiten Förderphase der Exzellenzinitiative von 2012 bis 2017 mit 33,7 Millionen Euro.

www.religion-und-politik.de

Foto klein: Prof. Dr. Detlef Pollack (Foto: Exzellenzcluster „Religion und Politik“/Brigitte Heeke)


Pressemeldung des Exellenzclusters, 26. März 2014
 

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