Zwischen den Fronten zerrieben

Besuch bei êzidischen Flüchtlingen aus Şengal


Der reformierte Pfarrer aus Celle, Andreas Flick, besuchte die besondere religiöse Gruppe der Jesiden (so die verbreitete Schreibweise), die im Irak, Nordsyrien und der Türkei leben und kurdisch sprechen. Hier sein Bericht:

MIDYAT/CELLE. Eigentlich sollte es ein ganz normaler dreiwöchiger Urlaub zusammen mit êzidischen Freunden in der einst mehrheitlich von Christen bewohnten Stadt Midyat unweit der syrischen Grenze werden, sofern man überhaupt eine Reise nach Kurdistan als normalen Urlaub bezeichnen kann. Denn Touristen findet man dort so häufig wie eine Stecknadel im Heuhaufen.

Doch dann trat kurz vor der Abreise die radikalislamische Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) auf den Plan, die in Windeseile große Gebiete im benachbarten Syrien und im Irak eroberte. Mitte Juli nahmen die fanatischen Kämpfer die Millionenstadt Mosul ein. Die IS verlangte von den rund 5000 dort verbliebenen Christen entweder unter Zurücklassung von Hab und Gut die Stadt umgehend zu verlassen oder zum Islam zu konvertieren. Wer dieser Aufforderung nicht nachkäme sollte mit dem Tod bestraft werden.

Gespräch mit Mitgliedern der Syrisch-Orthodoxen Gemeinde in Midyat.

Im Auftrag meiner Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Celle leitete ich vor Ort Geldspenden an die Flüchtlingshilfe der syrisch-orthodoxen Kirche weiter. Der Erzbischof dieser Kirche im Tur Abdin, Timotheos Samuel Aktaş, hatte nach den schrecklichen Ereignissen in Şengal meine êzidischen Freude und mich zu einer Audienz  empfangen. Er war über das Verhalten der westlichen Welt verbittert. Am meisten ging er jedoch mit den westlichen Kirchen ins Gericht, da diese die Christen im Orient schon lange im Stich gelassen hätten und die weitgehend nur schweigen. Ich musste ihm leider Recht geben. Zahlreiche unserer christlichen Gesprächspartner vor Ort hielten zudem unseren toleranten Umgang mit dem Islam in Deutschland für ausgesprochen naiv.

Inzwischen hatten sich die Ereignisse in dem benachbarten Irak überschlagen. Denn kurz nach unserem Eintreffen in Midyat fand der Überfall der IS auf die Êziden in  Şengal statt, bei dem hunderte von Menschen grausam niedergemetzelt oder entführt wurden. Die kurdischen Peschmergars hatten die Êziden kampflos ihrem grausamen Schicksal überlassen. Hätten die Êziden Waffen zur Selbstverteidigung gehabt, so wäre es nicht so schlimm gekommen. Weit über 200.000 Tausend Menschen waren auf der Flucht. Rund fünftausend von ihnen hatten sich auf die türkische Seite der Grenze retten können. Manche flohen auch in die Midyat benachbarten Êzidendörfer Bagine und Godjan. Dort traf ich auch auf traumatisierte Menschen, die Tragödien hinter sich hatten. Eine Frau hatte auf der Flucht aus dem Irak fünf ihrer Kinder begraben müssen - sie waren verdurstet. Schreckliche Fotos und Filme von zerhackten Menschen, von ermordeten Babys, geköpften Kindern, Männern und Frauen wurden mir von êzidischen Flüchtlingen gezeigt. Etliche Gesprächspartner betonten ausdrücklich, dass sie ein Exil in Deutschland einer Rückkehr nach Şengal vorziehen würden. Einen Verbleib in der Türkei, wo kaum mehr Êziden leben, war für sie keine Option.

Treffen von Êziden aus Deutschland und Şengal mit Politikern der BDP in Bagine.

Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Êziden aus Deutschland besuchte ich ein Flüchtlingslager mit über 700 Insassen in Silopi unmittelbar an der Grenze zum Irak. Die Menschen leben dort in Zeiten bei einer Außentemperatur von deutlich über 40 Grad. Immerhin haben sie Wasser und Nahrung. Auch wurden gerade Impfungen vorgenommen.

Weder die UNICEF noch irgendeine andere Hilfsorganisation hatte sich bislang in diesem sowie den benachbarten Lagern blicken lassen. Auch gab es vom türkischen Staat, der bekanntlich radikalislamische Kämpfer unterstützt, keinerlei Hilfe. Wer ohne Papiere aus dem Irak geflohen war, kam in Militärgewahrsam. Die Hilfe wurde im besonderen Maße von der kurdischen Partei BDP und den von ihr regierten Kommunen organisiert.

Andreas Flick

Wikipedia-Artikel über das Jesidentum

Homepage der Ezidischen Akademie in Deutschland