Flucht ist kein Verbrechen – Flucht ist ein Menschenrecht

Pilgerreise 2014


Johannes de Kleine berichtet von einer Pilgerreise nach Berlin, mit der eine Gruppe von 30 Christinnen und Christen aus dem Kirchenkreis Jülich auf die Situation der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen aufmerksam gemacht hat.

„Sei ein Fremdling in diesem Land, und ich will mit Dir sein und dich segnen; ich will den Eid bestätigen, den ich deinem Vater Abraham geschworen habe.“ 1.Mose 26,3

Station 1: European Security Fencing – Hersteller des Grenzzaunes

Aufbruch gegen 4.00 Uhr morgens in Jülich, Ankunft gegen 12.00 Uhr in Berlin - und sogleich ging es zur ersten Station unseres Pilgerweges: das Gebäude, in dem die Firma European Security Fencing residiert.

Vor dem Banner mit dem Text:
„Hier in Berlin befindet sich die Niederlassung der Firma, die den messerscharfen Draht für die EU-Außengrenze zu Marokko herstellt, durch den Afrikaner verbluten und zu Tode kommen oder sich schwer verletzen.
Den Fremdling sollst Du nicht bedrängen noch bedrücken; denn ihr seid auch Flüchtlinge in Ägyptenland gewesen!“ (2.Mose 22,21)
begannen wir unsere Andacht mit dem Lied aus Taizé: „Bleibet hier und wachet mit mir! Wachet und betet!“

Nach einem Psalmgebet erfolgte dann die Anklage: „Menschen, die unter politischer, rassistischer und religiöser Verfolgung leiden, die vor der vom Westen verursachten Klimakatastrophe fliehen oder unter den Folgen der ungerechten Ausbeutung der Rohstoffe Afrikas, die unter Hunger und unvorstellbaren Entbehrungen leiden, sollen mit allen Mitteln gehindert werden, nach Europa zu gelangen“. Die Kilometer langen doppelten Zaunanlagen – sieben Meter hoch- mit den enorm scharfen Klingen reichen aus, um Nerven, Bänder, Sehnen und Blutbahnen zu durchtrennen. Jedes Jahr fordert diese Grenze mehr Todesopfer als die ehemals deutsch-deutsche Grenze, ganz zu schweigen von den Tausenden, die sich massiv verletzen. Diese werden teilweise schwer verletzt in der Wüste oder in Rabat bzw. Casablanca ohne Hilfe ausgesetzt. Über das Meer schwimmende Flüchtlinge werden mit Hartgummigeschossen beschossen, was oft zum Tode führt. Gar nicht selten werden von den Rettungsbooten Flüchtlinge unter Wasser gedrückt.

Europa wäscht sich die Hände in Unschuld und zwingt Marokko diese menschenverachtende Arbeit zu tun, die mit der Zahlung von Hunderten von Millionen EURO versüßt wird. Wir tragen eine Mitverantwortung, denn das, was dort passiert, geschieht im Namen Europas und Deutschlands und somit in unserem Namen, wobei unser Land eines der Scharfmacher in der Flüchtlingspolitik ist.

Die Anklage wurde abgeschlossen mit dem gesungenen Kyrieeleison, den gemeinsam gesprochenen Versen aus Jesaja 58,7-12 sowie dem Lied „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen…“.

Gebet:
„Gott, wir sind zornig, wenn wir sehen, was Menschen voneinander trennt. Wir sind zornig über die unmenschliche Grenze in Marokko, die Afrika und Europa trennt. Wir sind entsetzt über jeden Menschen, der an dieser Grenze ums Leben kommt. Wir bringen vor Dich das Weinen und Klagen der Menschen, deren Spur sich im Meer, in der Wüste, in der Ungewissheit verliert. Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder, geflohen mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, die alle Hoffnung auf Leben verlieren im Stacheldraht, der unüberwindbar ist. Wir gestehen Gott: Es sind unsere Grenzen zwischen den Menschen Europas und Afrikas, an denen sie stranden. Es ist der Egoismus der nördlichen Halbkugel, der tötet. Wir sind satt in Europa – und sehen nicht, dass wir die Ursache für den Hunger liefern. Wir sind unersättlich – und sehen nicht, dass das die Ursache vieler Kriege ist. Gott, da sind Trauer und Wut, wenn wir uns einlassen auf die Wirklichkeit deiner Welt: Menschen werden in ihrer Würde verletzt, Menschen wird vorenthalten, was sie zum Leben brauchen, Menschen fliehen aus Verzweiflung aus ihrem Land, Menschen sterben in der Wüste, ertrinken im Mittelmeer, verlieren alle Hoffnung auf Leben in unserer Unmenschlichkeit. Gott schenke den politisch Verantwortlichen die Einsicht, dass sie nicht nur über bloße Zahlen, sondern über viele einzelne Menschenschicksale entscheiden. Lass uns nicht weiter Millionen für die geheime Grenztruppe FRONTEX bezahlen, sondern besser für Projekte der Menschlichkeit, der Bildung und Ausbildung. Gott des Himmels und der Erde, himmlisch schon sind wir – aber noch irdisch. Gebunden bleiben wir an die Bedingungen einer Erde, die mit deiner neuen Erde noch nicht viele Ähnlichkeiten hat: Wir haben die Bilder von Flüchtlingen in Marokko vor Augen, wir hören die entsetzlichen Erzählungen der Davongekommenen. Wir sehen die Tränen in ihren Augen, lesen von ihren Lippen ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung. Gott irdisch noch, lässt du uns schon deinen Himmel sehen. Vor uns ausgebreitet im Leben Jesu Christi liegt dein himmlisches Reich. Ab und zu sehen wir es schon: Wenn sich Christen in Rabat oder Casablanca den Flüchtlingen zuwenden. Wenn sie ihnen Kleidung geben und Medikamente, Würde und Menschlichkeit, Liebe und Hoffnung. Hilf uns hier, dass wir alle Wut zusammennehmen und gemeinsam gegen das Unrecht an unseren Außengrenzen protestieren. Gib uns Ideen und Phantasie, Entschlossenheit und Ausdauer beim Kampf für Gerechtigkeit. Lass uns gelingen, was wir uns vorgenommen haben. Lass deine Gedanken unsere Gedanken, dein Wort unser Wort, deine Tat unsere Tat werden. Amen!

Mit dem Segen und dem Lied: „In dir ist Freude in allem Leide…. fand die Andacht an der ersten Station ihren Abschluss. An die Passanten verteilten wir Postkarten, die für unsere Bundeskanzlerin und den EU- Kommissionspräsidenten bestimmt waren, in denen sie aufgefordert werden ein Europa der Hilfsbereitschaft und der Mitmenschlichkeit zu schaffen. Wir erklärten uns bereit, sie in dieser Hinsicht mit Gebet und unserem Engagement zu stärken.

Weitere Banner machten unsere Intention sichtbar wie z.B.: „Wer einmal mit eigenen Augen in die Gesichter traumatisierter Flüchtlinge geschaut hat und von ihrer Sehnsucht nach Frieden gehört hat, der weiß, wie wichtig der Widerstand gegen die Abschottungspolitik Europas ist. Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden“. (Matthäus 5,6) oder

„Wir wollen nicht, dass unser Wohlstand mit dem Leid Afrikas erkauft wird. Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Land, dann sollt ihr ihn nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst!“ (3. Mose 19,34).

Interessant waren die Reaktionen der Nachbarn und der anderen Mieter in diesem Haus. Eine Verkäuferin pflichtete uns deutlich bei. Sie habe nicht gewusst, dass es hier eine solche Firma gäbe. Selbst Mitarbeiter der Firma kamen auf die Straße, nahmen unsere Postkarten mit, folgten aber der Einladung, sich unsere Anklage anzuhören, nicht.

Station 2: Vertretung der Europäischen Kommission

Danach gingen wir in einem Demonstrationszug zur Vertretung der Europäischen Kommission am Brandenburger Tor. Dankenswerter Weise regelte ein uns begleitender Polizeiwagen den Verkehr.

Neben den oben bereits erwähnten Bannern führten wir zwei weitere Banner mit uns. „Die Menschenrechte gelten für alle Menschen – Die Würde des Menschen ist unteilbar: Einerlei Gesetz soll dem Einheimischen und dem Fremdling gelten, der unter euch wohnt!“ (2. Mose 12,49)

„Wehret den Anfängen, die unmenschliche Gewalt und die brutale Ermordung Schutz suchender Menschen muss sofort ein Ende haben“:
„So spricht der Herr: Schaffet Recht und Gerechtigkeit; errettet den Beraubten aus der Hand des Unterdrückers; den Fremdling, die Waise und die Witwe bedrückt und vergewaltigt nicht, vergießet kein unschuldigen Blut an diesem Ort“ (Jeremia 22,3)

Vor der Vertretung der europäischen Kommission entfalteten wir die beiden folgenden Banner:

„Die Europäische Kommission und die Mitgliedsländer der EU sind verantwortlich für die gnadenlose Abschottung Europas und damit für den Tod von Zehntausenden von Flüchtlingen:“
„Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist; ich bin durstig gewesen und ihr habt mich getränkt; ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt mich beherbergt!“ (Matthäus 25,35)

„Europa hat wegen der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik an den EU-Außengrenzen den Friedensnobelpreis nicht verdient“:
„Birg die Versprengten, den Flüchtling verrate nicht!“ (Jesaja 16,3)

Die Andacht war im Wesentlichen textgleich mit der Andacht an der ersten Station unseres Pilgerweges. Die Anklage bezog sich hier jedoch auf die EU-Kommission.

„Wir stehen hier vor der Vertretung der Europäischen Kommission. Europa hat eine Festung aufgebaut, die mit allen Mitteln verteidigt wird, um unseren Wohlstand zu Lasten der Afrikaner zu sichern. Jedes Jahr sterben Hunderte Menschen vor den Toren Europas, die vor Folter, Krieg, politischer Verfolgung, Klimakatastrophen, Hunger und wirtschaftlicher Not nach Europa fliehen. Europa finanziert außer den Todeszäunen vor Melilla und Ceuta auch den Bau einer weiteren Grenzanlage nahe der marokkanischen Stadt Oujda an der Grenze zu Algerien. Europa und ihre Mitgliedsstaaten führen einen gnadenlosen Krieg gegen Flüchtlinge aus Afrika. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Europa 2012 den Friedensnobelpreis erhielt, obwohl es ohne Achtung der universalen Menschenrechte fortlaufend Afrikaner foltern, misshandeln, verletzen und töten lässt. So unterstützt Europa z.B. Marokko jedes Jahr mit hunderten Millionen EURO, damit man uns mit allen Mitteln die Flüchtlinge vom Hals hält, ohne dass Europa sich dabei sichtbar die Hände schmutzig macht. Marokko und andere Staaten werden darüber hinaus mit Visafreiheit für ihre Bewohner geködert, ein Abkommen mit Europa zu unterzeichnen, wonach alle Afrikaner, die keine Aufenthaltserlaubnis für Europa besitzen und über die Staaten Nordafrikas eingereist sind, insbesondere nach Marokko wieder abgeschoben werden können. Das wird das Elend der Flüchtlinge in Marokko extrem vergrößern, und Marokko wird zu einem Pulverfass. Europa aber wäscht seine Hände in Unschuld. Die europäische Abschottungspolitik fordert enorme finanzielle Mittel. Neben den Direktzahlungen an die Mittelmeerländer wird der Etat der Grenzschutzsicherungsbehörde FRONTEX Jahr für Jahr deutlich erhöht. Auch mehr als 100 Bundespolizisten aus Deutschland sind jedes Jahr für FRONTEX im Einsatz. Eine parlamentarische Überwachung erfolgt nicht, und es sind viele Menschenrechtsverletzungen von FRONTEX dokumentiert. Mit der beabsichtigten Drohnenüberwachung im Rahmen des Überwachungssystems „Eurosur“ bewegen wir uns auf eine neue Eskalation zu. Solange Europa Krieg gegen Flüchtlinge führt, hat es die moralische Kompetenz verloren, in anderen Ländern dieser Erde die Einhaltung von Menschenrechten einzufordern. Auch Flüchtlinge haben ein Recht auf Teilhabe, auch wenn das von uns wirtschaftliche Opfer fordert. Wir brauchen dringend in Europa und insbesondere in Deutschland eine völlig andere Ausländerpolitik. Menschenrechtsverletzungen sind, auch wenn es andere Staaten stellvertretend im europäischen Namen tun, durch nichts zu rechtfertigen. Schon einmal in der jüngsten Geschichte Europas haben Christen weggeschaut, mitgemacht und das Unrecht geleugnet. Wir als Christinnen und Christen können und wollen zu diesen menschenverachtenden Gräueltaten nicht weiter schweigen. Wir rufen Politik und Gesellschaft auf, sich unserem Kampf für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung auch gegenüber unseren afrikanischen Schwestern und Brüdern anzuschließen“.

Mitarbeiter der Vertretung der Europäischen Kommission beobachteten uns vom Fenster aus und konnten aufgrund unserer Banner auch erkennen, worum es uns ging. Je eine Postkarte gaben wir nicht nur den Passanten, sondern auch in das Büro der Vertretung.

Erschöpft, aber auch zufrieden über unsere Aktion begaben wir uns dann in unser Hostel.

Station 3: Die spanische Botschaft

Am nächsten Morgen fuhren wir zur spanischen Botschaft. Polizeibeamte erwarteten uns bereits. Auch hier wie an den anderen Pilgerstationen hielten wir in Gebet, Gesang und Andacht inne. Auch wenn sich hinter den Fenstern der Botschaft für uns sichtbar nichts rührte, muss man uns gesehen bzw. gehört haben, denn es erschien offensichtlich auf Grund eines Anrufes aus der Botschaft ein weiterer Polizeiwagen.

Hier trugen wir zwei Banner mit uns, die sich auf Spanien bezogen:
„Spanien anerkennt in Ceuta und Melilla kein Asylrecht und ist verantwortlich für gravierende Menschenrechtsverletzungen an seinen EU- Außengrenzen: Du sollst einem Fremden, der vor seinem Herrn bei dir Schutz sucht, seinem Herrn nicht ausliefern!“ (5. Mose 23,16).

„An der Grenze zu Europa werden Flüchtlinge durch Ertränken und durch Gummigeschosse ermordet, und sie werden widerrechtlich nach Marokko deportiert:
Ihr Bewohner, sucht die Flüchtlinge auf, gebt ihnen zu essen!“ (Jesaja 21,14).

Auch hier gab es wie an den anderen Pilgerstationen eine Anklage: „Wir stehen hier vor der spanischen Botschaft. Spanien hat mit den Enklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika eine Grenze zu Marokko. An dieser Grenze und im angrenzenden Mittelmeer sterben pro Jahr Tausende Flüchtlinge aus Afrika. Sie finden den Tod in den tödlichen Grenzzaunanlagen, die Europa im Interesse Spaniens errichtet hat, und ertrinken im Mittelmeer, teilweise werden sie auch ertränkt. Tausende werden jedes Jahr schwer verletzt. Der messerscharfe, tödliche Verletzungen in Kauf nehmende Grenzzaun war bereits einmal auf politischen Druck der spanischen Gesellschaft entfernt und durch einen gewöhnlichen Stacheldraht ersetzt worden. Da aber immer mehr Flüchtlinge den Zaun überwinden konnten und in die Enklaven kamen, hat die spanische Regierung den Stacheldraht wieder durch den besonders tödlichen Draht ersetzen lassen. Die spanische Polizei hat bereits erklärt, dass es ihr nicht zuzumuten sei, die blutenden Körper von Afrikanern von den Drähten zu befreien. Sie fühlt sich überfordert und hat Hilfe durch FRONTEX und die Mitgliedsländer der EU angefordert. Belegt ist, dass die Polizisten in der Vergangenheit gezielt auf die Köpfe im Meer schwimmender Flüchtlinge mit Hartgummikugeln geschossen haben. Wenn ein Flüchtling am Kopf getroffen wird, führt das oft zur Bewusstlosigkeit, was meist zum Tod durch Ertrinken führt. Es heißt sogar, dass in Einzelfällen auch scharfe Munition gebraucht wurde. Der Einsatz von Gummikugeln wurde zwar zwischenzeitlich vom spanischen Parlament verboten. Weiterhin aber missachten spanische Sicherheitskräfte die Genfer Flüchtlingskonvention, die Spanien ratifiziert hat, wenn sie mit Gewalt Flüchtlinge, die es auf spanisches Territorium geschafft haben, nach Marokko zurückschieben, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, auf europäischen Boden einen Asylantrag zu stellen. Die spanische Polizei muss diese menschenverachtende Arbeit verrichten, um die Festung Europa zu sichern und die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Unser Wohlstand, den wir zu sichern versuchen, lebt von der unverantwortlichen Ausbeutung Afrikas. Not und Elend treibt immer mehr Menschen zur Flucht. Ein Teufelskreis. Gerade Spanien müsste Europa davon überzeugen, dass die bisherige Europäische Flüchtlingspolitik gescheitert ist und den Menschenrechten widerspricht. Europa mag die Zäune noch so hoch ziehen und noch so grausam gegen die Flüchtlinge vorgehen- sie werden dennoch weiter nach Europa drängen, wenn ihnen in ihren Heimatländer jede Chance genommen wird, menschenwürdig zu überleben, sie keine Hoffnung auf Zukunft für sich und ihre Kinder haben.“

Johannes de Kleine, Fotos © Regina Hark, 25. September 2014