Kurzmeldungen




Die Sprache der Predigt in der globalisierten Welt

Zur Ortszeit predigen

Predigt als Fähre, die eins nicht darf: Am Ableger liegen bleiben. Sie muss ber-setzen. Foto: Freeimages.com

Von Paul Kluge, Pastor, z.Zt. in Leer

Zwei Anmerkungen vorab:

1. Nicht Englisch ist die Sprache der „globalisierten“ Welt, sondern schlechtes Englisch. Dem Humanismus der Renaissance hingegen galt Sprachgebrauch auf höchstem erreich-barem Niveau als grundlegendste und vornehmste Tätigkeit des Menschen. Zwischen der Qualität der sprachlichen Form und der Qualität des dadurch Mitgeteilten besteht ein not-wendiger Zusammenhang. Ein in schlechtem Stil geschriebener oder gesprochener Text ist auch inhaltlich nicht ernst zu nehmen, und sein Autor gilt den Renaissance-Humanisten als „Barbar.“

2. Von Herbst 2011 bis Frühjahr 2012 habe ich sechs Monate in Russland verbracht. Selbstverständlich konnte ich deutsche Fernsehsender empfangen und auch andere aus Europa und Asien. Um die „Tagesschau“ zu sehen, musste ich zu 22:00 Uhr OEZ den Fernseher einschalten. Um verstehbar zu predigen, musste ich meine Sätze anders als zu Hause formulieren. Daher überschreibe ich meine Gedanken mit Ortszeit.

Als Untertitel wähle ich ein unvollständiges, zudem in der Interpunktion verändertes Zitat aus Apg 2, 8: „Wie hören wir? Ein jeder in seiner Sprache!“

Erinnerungen als Hintergrund

Die Idee dazu kam mir während der Predigt eines Kollegen. Er wies darauf hin, dass nicht die Jünger in fremden Zungen redeten. Vielmehr hörten die Fremdsprachler in ihren Muttersprachen. Das aber ist nichts Ungewöhnliches; Begeisterung springt über. Doch nicht nur das: Hörerinnen und Hörer, auch Leserinnen und Leser verstehen jeden Text in ihrer Sprache. Dazu später mehr. 

Zum Thema „Die Sprache der Predigt in der globalisierten Welt“ kam mir als erstes eine Erinnerung aus den siebziger Jahren. Ich war damals Pastor in einem ostfriesischen Dorf. Dieses Dorf wurde zusammen mit 18 weiteren zu einer „Samtgemeinde“ zusammengefasst, die Dörfer verloren ihre Selbstverwaltung. Im gleichen Jahr fanden Kirchenratswahlen statt. Überraschend viele Dorfbewohner waren bereit zu kandidieren, und die Wahlbeteiligung übertraf das bis dahin Übliche um ein Mehrfaches. Meine Erklärung: Durch die Vernetzung der 19 einzelnen Dörfer zu einer Samtgemeinde hatte die kleine Einheit Dorf an Bedeutung gewonnen. Der Kirchenrat war nun das einzige für alle Einwohner zuständige Entscheidungsgremium.

Seitdem habe ich häufiger festgestellt: Je größer und damit ferner, abstrakter eine Einheit wird, um so mehr gewinnen vorhandene, überschaubare Untereinheiten für die Menschen an Gewicht. Sei es in der Europäischen Union, sei es rund um den Globus. Allerdings bilden sich auch neue Untereinheiten, die alte Grenzen übergreifen. Ost- West- und Nord-friesen z. B. arbeiten seit einigen Jahren auf wirtschaftlichem und auf kulturellem Gebiet eng zusammen; ehedemige Hansestädte haben sich kürzlich international zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit neu verbündet.

Eine zweite Erinnerung aus jener Zeit steigt auf: Gar nicht selten bemerkte ich damals, dass meine Predigtsprache kompliziert zu werden drohte. Dann habe ich, was ich sagen wollte, erst einmal in plattdeutscher Sprache formuliert. In der Landessprache also, die auch meine Muttersprache ist. Sprache ist laut gewordenes Denken, und dieses ist sozio-kulturell geprägt.

Schließlich gehört an diese Stelle eine Erinnerung an Calvins Kirchenmodell: Demnach ist jede Gemeinde in vollem Sinne Kirche, folglich die Gemeinschaft von Gemeinden eine Gemeinschaft von Kirchen. In dieser Gemeinschaft liegt das Einssein, nicht in einer alles übergreifenden Einheitskirche.

1. Das Evangelium überschreitet Grenzen von Raum und Zeit

Die Botschaft des Evangeliums richtet sich an „alle Völker“, und will dies „bis ans Ende der Zeit.“ So sagt es der Taufbefehl nach Mtth 28,20, so hat es zuvor schon Paulus praktiziert. Seit Paulus bemühen sich darum alle, die im Dienst des Evangeliums stehen oder unter-wegs sind. Anders gesagt: Das Evangelium vom Christus Jesus hat einen weltumspannenden, einen globalen Anspruch. Es hat von Anbeginn Grenzen ignoriert und überschritten: Soziale Grenzen, politische Grenzen, kulturelle Grenzen. Darin liegt eine Frieden stiftende Möglichkeit des Evangeliums. So entstand ein weltweites Netz christlicher Gemein-den, zunächst in orbi imperi iromani, heute rund um die Erde.

Dass das Evangelium Grenzen überschreitet, bedeutet nicht unbedingt, dass es sie auf-hebt. Geschichte und Tradition, kulturelle Entwicklung und Alltagsverhalten, klimatische Bedingungen und Mentalität prägen die in ihnen lebenden Menschen. Deshalb wollte schon Paulus „den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche“ sein (1 Kor 9, 20). Dies kann studieren, wer Übersetzungen der Bibel in verschiedene Sprachen vergleicht. Bibel-übersetzung bedeutet ja immer auch, die Bibel und ihre Bilder in andere Kulturen zu über-tragen, sie hinüber zu tragen.

Dies geschieht seit Paulus auch schriftlich. Die Botschaft vom Christus Jesus wurde und wird von Generation zu Generation weiter gegeben. Damit überspannt sie Vergangenheit und Gegenwart bis in die Zukunft. Eine zeitliche Begrenztheit des Evangeliums gibt es nicht, wohl aber zeitbedingte Begrenzungen seines Verständnisses. Dieses nämlich wird zeitgeschichtlich beeinflusst. Im Lebenslauf eines Menschen können biblische Texte an persönlicher Bedeutung gewinnen oder verlieren. Das gilt nicht anders für geschichtliche Epochen. Auch davon geben Bibelübersetzungen Kunde.

Die Autoren der biblischen Bücher gehen selbstverständlich von der soziokulturellen wie der klimatischen Umgebung aus, in der sie leben. Als - einige Zeit später - die Herrnhuter Brüder anfingen, die Inuit zu missionieren, stellten sie fest: Die gesamte in der Bibel vor-kommende Flora und Fauna etwa war diesen Menschen unbekannt. Es wurde also nötig, die Botschaft der Bibel und ihre Bilder zielgruppengerecht zu übersetzen. Dann erst war verständliches Predigen zu jener Zeit an jenem Ort möglich.

2. Das Evangelium zur Ortszeit zu verkündigen, erfordert etwas Mühe

Vor einigen Jahrzehnten hat eine EKD-Umfrage ergeben: Wichtiger als was ist vielen Gottesdienstbesuchern, dass gepredigt wird: Predigt als liturgisches Element. Eine Folge viel-leicht sich wiederholender Predigtaussagen. Eine Freundin fasste ihre Erfahrungen einmal so zusammen: „Das einzig Spannende an Predigten ist die Reihenfolge der immer gleichen Sätze.“ Und eine alte Diakonisse gestand mir, sie habe die meisten Predigten beim „Amen“ bereits vergessen. Solche Bekenntnisse können zu Bequemlichkeit anregen. Oder zu Anstrengung.

Die fängt mit genauem Lesen an. Dabei aber benutze ich eine Lesebrille, eine seelsorgerliche etwa, eine diakonische oder eine politische, eine konservative oder eine progressive oder sonst eine. Anders geht es nicht, doch jede Brille schränkt das Gesichtsfeld ein. Für welche Brille ich mich entscheide, hängt von Ort und Zeit der Predigt ab, von der aktuellen Situation meiner Zielgruppe – und ebenso von meiner eigenen Ortszeit.

Die Anstrengung der Vorbereitung beginnt mit dem Ausloten der grammatikalischen Möglichkeiten der Sätze. „Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind …“(MK 10, 15) – steht das „Kind“ im Nominativ oder im Akkusativ – und was bedeutet was?

Bei Benutzung einer Übersetzung geht die Anstrengung mit dem Überprüfen von Bedeutungswandeln zumindest wichtiger Begriffe weiter. „Trost“ zum Beispiel bedeutete zur Reformationszeit „Mut, Vertrauen, Zuversicht“ – was verbinden Menschen heute mit dem Begriff? Und welche Assoziationen weckt der Begriff in anderer Sprache? Ein kurzer Blick in die King-James-Bibel zeigt mehrere und unterschiedliche Begriffe, wo es bei Luther stets „Trost“ heißt (confidence, consolation, comfort).

Die Perikopenordnung der VELKD gilt nicht weltweit. Diese Perikopen sind oft sehr willkürlich aus dem Textzusammenhang genommen. Sonntagsproprium und kirchliche Tradition gelten offenbar mehr als der Text, wie die Autoren biblischer Bücher ihn geschrieben und also gewollt haben. Lk 13,31 kommt einfach nicht vor: „In derselben Stunde kamen einige Pharisäer und sagten zu ihm: Geh hinaus und zieh fort, denn Herodes will dich töten.“ Das passt nicht ins allgemeine Bild vom Pharisäer. Doch wie Kontext und Querverweise helfen, den Inhalt zu verstehen, helfen solche Stellen, verbreitete Vorstellungen zu korrigieren.

Schon stellt sich eine weitere Frage: Sind in unserer Kultur verbreitete Vorstellungen, beispielsweise von Pharisäern, anderen Orts vorauszusetzen?

Mir sind zwei Fragen oft Schlüssel zu einem biblischen Text: 1. Welche allgemein menschliche Erfahrung steht hinter dem Text? Und 2.: Wo und wie lebten die Menschen, für die dieser Text geschrieben wurde?

Die erste Frage ist die schwierigere. Denn deren Beantwortung erfordert einiges an Kenntnis alles dessen, was Menschen möglich ist. Sie erfordert individual- und sozialpsychologische Kenntnisse. Und sie erfordert, sich durch die Oberfläche biblischer Geschichten zu wühlen, um die darunter verborgenen Schätze zu entdecken.

Für eine Antwort auf die Frage nach menschlichen Erfahrungen in einem biblischen Text ist es nützlich sich zu vergegenwärtigen, was damals anders war als heute: Kultur und Technik, Wissen und Verstehen, Beruf und Alltag, Sitte und Brauch, Denken und Verstehen. Vieles hat sich geändert, seit die Bibel geschrieben wurde, und die Menschen haben viel dazugelernt.

Nicht geändert aber haben sich die Menschen: Geburt, Kindheit und Jugend, Liebe und Familie, Alter, Krankheit und Tod sind damals wie heute Lebensthemen. Auch das Zusammenleben in Gemeinschaften wie Familie, Sippe und Volk litt damals unter ähnlichen Schwierigkeiten wie heute: Von Neid und Habgier reicht die Palette bis zu Mord und Tot-schlag. Biblische Geschichten, die davon erzählen, zeigen immer Wege, mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden, solche Krisen zu überwinden. Sie verschweigen nicht die dafür nötigen Mühen und warnen vor Irrwegen. Der Glaube ist kein Zaubermittel und "Herr Jesus" keine Zauberformel, mit denen sich alles Dunkle aus dem Leben wischen und in Licht verwandeln ließe.

Meine zweite Frage lautet: Wo und wie lebten die Menschen damals. Das lässt sich in Büchern nachlesen, in Filmen ansehen oder - am besten - durch Reisen in biblische Länder erfahren. Als ich bei meinem ersten Griechenlandurlaub Flachdachhäuser mit Außentreppe zum Dach sah, verstand ich sehr viel mehr von der Heilung des Gelähmten. Als Kind und Schüler hatte ich bei dieser Geschichte stets das spitzgieblige Haus meiner Eltern im Kopf.

Die Autoren der biblischen Texte waren „Kinder ihrer Zeit“ und schrieben für ihre Zeitgenossen. Und als Kinder des Mittelmeerraums schrieben sie für ihre Ortsgenossen. Um ihre Bücher zu verstehen, ihnen gerecht zu werden und sie in meinen Ort, in meine Zeit hinübertragen zu können, brauche ich diese Informationen. Die Geschichten gewinnen da-durch an handfester Lebendigkeit. Zugleich verlieren sie damit einiges vom geheimnisvollen Zauber der Unverständlichkeit.

3. Die Predigt des Evangeliums wird individuell gehört und verstanden

Habe ich diese Mühen der Vorbereitung hinter mich gebracht, kann ich die Predigt formulieren. Dabei bediene ich mich journalistischer Regeln: Hauptsatz – Nebensatz – Punkt. Und nicht mehr als zwölf bis vierzehn Wörter für Haupt- und Nebensatz zusammen. Denn meine Predigt soll nicht nur gehört, sie soll auch verstanden werden. Dafür ist mir ein geflügeltes Wort aus dem PR-Bereich wichtig: „Das Heu soll der Kuh schmecken, nicht dem Bauern.“ Allerdings: Kühe sind wählerisch.

Nach Friedemann Schulz von Thun enthält jeder Satz vier Aussagen: Eine sachliche In-formation, eine Selbstoffenbarung des Autors, eine Aussage über seine Beziehung zum Gegenüber und einen Appell. Dies bedeutet: Der Hörer, die Hörerin entscheidet ständig, durch welches „Hörrohr“ er oder sie hören will. Das gilt erst recht beim Lesen für die jeweilige „Lesebrille.“

Denn das geschriebene Wort ist noch vieldeutiger als das gesprochene. Bei der Rede kann ich z. B. durch Betonung noch ein wenig steuern. Meine Schreibe ist dem Leser, der Leserin ausgeliefert. Er oder sie betont und deutet damit den Satz nach seinem oder ihrem Verstehen-Wollen.

Assoziationen aus Alltagskultur und eigener Biographie, die ein Text weckt, beeinflussen Verstehen und Deuten. Auch das schwankende Maß an Aufmerksamkeit spielt eine beachtliche Rolle. Was eine Predigt bei Hörenden oder Lesenden auslöst und bewirkt, steht nicht in der Macht der Predigenden. Hörende und Lesende entscheiden selber, was sie verstehen und wie sie es deuten. Predigtnachgespräche geben davon Zeugnis.

Diese Entscheidungen allerdings sind selten bewusst gesteuert. Sie fallen in nicht bewussten Bereichen, wenn Gehörtes oder Gelesenes sich mit erinnerten Empfindungen verbindet.

Fürs Predigen heißt das: Eine Predigt wird von ihren Hörerinnen und Hörern, Leserinnen und Lesern sehr unterschiedlich verstanden und gedeutet. Darin liegt eine Gefahr, aber erst recht eine Chance: Damit kann eine Predigt auf vielfältige Art und Weise in Alltags-verhalten umgesetzt werden.

4. Predigt übersetzt die Botschaft des Evangeliums in die Ortszeit der Zielgruppe

Um das „Schma Jischrael“ zu übersetzen, lässt Lukas (Lk 10, 25ff) Jesus vom Barmherzigen Samariter erzählen. Er erzählt die Geschichte, fügt keine Erklärung an. Der Hörer, wir erfahren es, versteht die Geschichte auch ohne Erklärung. Es ist eine Geschichte, die ein Schriftgelehrter ebenso versteht wie ein ungebildeter Fischer. Hier wird Theologie, wird Dogmatik in mögliches Alltagsverhalten übersetzt.

Das habe ich mir abgeguckt und formuliere meine Predigten häufig in Form von Geschichten. Dabei verzichte ich auf Erklärungen. Eine Geschichte, die erklärt werden muss, ist keine gute Geschichte. Denn was ich nicht einfach ausdrücken kann, habe ich noch nicht ganz verstanden. Das Deuten solcher Geschichten erspare ich mir. Die Hörenden oder Lesenden stellen ohnehin ihre je eigene Beziehung zum Geschehen her.

Das wird mit einer Predigt dann gelingen, wenn Gehörtes oder Gelesenes sich mit erinnerten Empfindungen verknüpft. Dies geschieht leichter, wenn vor dem „inneren Auge“ der Hörenden oder Lesenden eigene Bilder aufsteigen. Dadurch wird die Predigt anschaulich (und nicht durch das Vorzeigen eines Gegenstandes). Dann kann und wird eine Predigt im Glauben stärken und des Heils vergewissern; dann kann und wird sie zur Umkehr rufen.

Predigt verstehe ich als Fähre, mit der ich von einem Ufer zu einem anderen über-setze. Als Prediger, als Fährmann also bin ich dafür verantwortlich, dass die Fähre über setzt. Eine Fähre kann mal vom Kurs abkommen, den Anleger verpassen, gar den Hafen, sie kann auch havarieren. Solches kann und darf und wird vorkommen. Nur eines darf eine Fähre nicht: Am Ableger liegen bleiben. Sie muss über-setzen.

Der alte Ruf „Fährmann, hol über“ böte ein anderes Thema: Sermon on demand.

Die Sprache der Predigt in einer globalisierten Welt ist Ansprache in die Ortszeit. In der Ortszeit bringt die Predigt Probleme der globalisierten Welt zur Sprache und beleuchtet sie mit dem Licht des Evangeliums.

Literatur:
Die Bibel in der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1964
EKD, Fremde Heimat Kirche, Gütersloh 1992
King-James-Bibel, USA 1961
Kluge, Friedrich, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Auflage, Berlin 1989
Schulz von Thun, Friedemann, Miteinander reden, Hamburg 2003

 


Paul Kluge, Dezember 2014
 

Nach oben   -   E-Mail  -   Impressum   -   Datenschutz