60 Jahre Loccumer Vertrag

19. März 1955 - 19. März 2015


Kloster Loccum in Niedersachsen; CC BY-SA 3.0

Der Loccumer Vertrag zwischen den evangelischen Kirchen und dem Land Niedersachsen wurde am 19. März 1955, im Kloster Loccum unterzeichnet.

Der Loccumer Vertrag regelt die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Land Niedersachsen und fünf evangelischen Landeskirchen, der Evangelisch-lutherischen Kirche in Braunschweig, der Evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers, der Evangelisch-lutherischen Kirche in Oldenburg, der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe und der Evangelisch-reformierten Kirche.
In dem ersten Staatskirchenvertrag nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichten sich das Land und die Kirchen zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche. Der Loccumer Vertrag wurde zum Mustervertrag für alle weiteren Staatskirchenverträge in Deutschland. 

Vom Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen

Der Loccumer Vertrag wurde beschlossen „in Übereinstimmung über den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen und ihre Eigenständigkeit“. Den „Öffentlichkeitsanspruch“ der Kirchen, einen in der evangelisch-reformierten Tradition entwickelten Begriff, hatte der Jurist und reformierte Theologe Ministerialrat Kurt Müller in die Diskussion um den Wortlaut der Präambel eingeführt.[1] 

Er hatte ihn offenbar von seinem Wuppertaler Lehrer Alfred de Quervain übernommen. Der hatte 1939 den „Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums“ stark gemacht gegenüber der nicht absoluten Öffentlichkeit des Staates.[2] Dem gegenüber weist de Quervain hin auf den Öffentlichkeitscharakter der Verkündigung des Evangeliums und den des christlichen Wandels. Öffentlichkeitscharakter habe eine Verkündigung, die das „Licht des Evangeliums“ nicht abblendet „aus Furcht davor, Ärgernis zu erregen“. Jedoch ist damit nicht ein kirchlicher Versuch gemeint, der die Kraft des Evangeliums mit eigenen Mitteln vermehren und die frohe Botschaft in ein zugkräftiges Programm verwandeln will. Der Wandel des Christen unter dieser Verkündigung sei allerdings kein privates, sektiererisches für sich Dahinleben. Sondern im eigentlichen Sinn sei er ein öffentliche Handeln, das auf das Handeln Gottes antworten  und es zugleich verantwortliche unter den Menschen plausibel bezeugt[3].

In die staatskirchenrechtliche Diskussion übernahm Rudolf Smend 1951 den Begriff, um die Konsequenzen zu beschreiben, die die Kirche aus den Erfahrungen mit dem NS-Staat für ihr öffentliches Handeln ziehen musste. Gegenüber „dem Staat“, der im Dritten Reich versagt hatte, pochte „die Kirche“ auf die Anerkennung ihres Anspruchs, sich in voller innerer Unabhängigkeit der Welt zuzuwenden mit Hilfe, Mahnung und auch Intervention, wie es Smend formulierte[4]. Im Loccumer Vertrag wurde die Formulierung „Anspruch“ sachgemäßer durch das Wort „Auftrag“ ersetzt. Als erster Staatskirchenvertrag nahm der niedersächsische immerhin dann die Rede vom Öffentlichkeitsauftrag der Kirche in seine Präambel auf. Ihre Bedeutung reichte über das Land Niedersachsen hinaus; sie interpretiert nämlich, so Smend, die Grundentscheidung des Grundgesetzes über das Verhältnis von Kirche und Staat „authentisch“.[5]

Der Abschnitt zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen ist in Abänderung wiedergegeben nach:
Eberhard Busch, Kurt Müller - Anwalt der Verfolgten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2014


[1] Hans Otte, die Entstehung des Loccumer Vertrags, 34f. 45, in: In Freiheit verbunden. 50 Jahre Loccumer Vertrag, hg. von der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, Hannover 2005, 23-55. Vgl. auch: Jörg Ohlemacher, Der Loccumer Vertrag, 245–275, hier: 263.

[2] Vgl. Götz Klostermann, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen - Rechtsgrundlagen im kirchlichen und staatlichen Recht. Eine Untersuchung zum öffentlichen Wirken der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, Jus Ecclesiasticum 64, Tübingen 2000, 148f.

[3] Vgl. Alfred de Quervain, Der Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums, Theologische Studien 4, Zollikon 1939, 5f.

[4] Nach Konrad Müller, Der Loccumer evangelische Kirchenvertrag, 422.

[5] Vgl. Wolfgang Conrad, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 52, Göttingen 1964, 128.