Kurzmeldungen




Eine Wurzelmeditation

Mittwochs-Kolumne - Paul Oppenheim

Foto: Forest & Kim Starr / Wikipedia Commons

Frühling ist Pflanzzeit.

Bäume, Sträucher, Stauden werden sorgfältig eingepflanzt oder liebevoll umgetopft.  Achtung: nicht jeder Boden eignet sich für jede Pflanze. Viele Faktoren müssen berücksichtigt werden, aber vor allem muss man auf die Wurzeln achten. Sie sind es, die der Pflanze Nahrung und Wasser zuführen.

Beim Gärtnern lernen wir, wie sehr es auf die Wurzeln ankommt. Wurzeln müssen den Boden annehmen, sie müssen in die Tiefe und in die Breite gehen. Sie sind es, die der Pflanze Halt geben, damit sie nicht vom Wind weggetragen oder vom Sturm entwurzelt  wird.

Nicht anders geht es den Menschen. Nur sieht man ihre Wurzeln mit bloßen Augen nicht. Das Wurzelgeflecht setzt sich zusammen aus vielen kollektiven und persönlichen Erinnerungen, aus religiösen und kulturellen Empfindungen. Wurzeln, die sich nicht entfalten können, führen zu Verkümmerung, Krankheit und Tod. Das gilt für Mensch und Pflanze.

Eine Krankheit, die bei entwurzelten Menschen auftritt, wird als „Radikalisierung“ bezeichnet. Der Begriff kommt vom lateinischen Wort für Wurzel, nämlich Radix.

Geht man dem Wortsinn nach, dann hat Radikalisierung etwas mit der Suche nach den Wurzeln zu tun. Es ist ein Prozess oft irrationaler Wurzelsuche. Je mehr sich ein Mensch entwurzelt fühlt, desto verzweifelter wird er sich auf die Suche nach seinen echten oder vermeintlichen Wurzeln machen. Diese Sehnsucht kann unwahrscheinliche Kräfte entfalten, auch zerstörerische. Es ist ein Streben nach dem, was Halt gibt, nach kultureller Identität, nach geistiger Verwurzelung.

Damit sollen die Gewaltakte und der Terror, die sich mit dem Begriff Radikalisierung  verbinden, keineswegs verharmlost werden. Die übersteigerte und irregeleitete Sehnsucht nach Wurzeln kann perverse Züge annehmen, und doch ist das Phänomen relativ leicht zu erklären:

Die Primel wird nicht zur Orchidee, wenn ich sie in Orchideenerde setze. Wer in ein fremdes Land mit einer anderen Sprache und Kultur zuwandert, bringt seine Wurzeln mit und es ist ein schwerer Denkfehler, wenn man den Boden mit den Wurzeln verwechselt.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Migranten keine Mutanten sind. Ebenso wenig wie eine Pflanze mutiert, wenn man sie umtopft.

Auch in der zweiten und dritten Generation sollte man sich zu seinem „Migrationshintergrund“, zu seinen Wurzeln bekennen, und auch die Muttersprache pflegen, die nicht umsonst so heißt, und stolz sein auf die ererbte und überlieferte Kultur.

Genau so haben es deutsche Auswanderer getan, wenn sie sich in fremden Ländern niederließen. Es wurden Kirchen und Schulen gebaut, die bis heute davon zeugen, wie wichtig den deutschen Auswanderern ihre Sprache und ihre Religion war. In vielen europäischen Städten aber auch auf fernen Kontinenten versammeln sich noch regelmäßig die Auslandsgemeinden zu deutschsprachigen Gottesdiensten. An etwa 140 Orten weltweit werden Kinder nach deutschen Lehrplänen unterrichtet. In ihren Elternhäusern sprechen sie Deutsch, essen deutsches Brot, lutschen deutsche Gummibärchen, schauen –dank Satellitenfernsehen und Internet- das Sandmännchen und die Sendung mit der Maus. Und das ist gut so.

Paul Oppenheim, 8. April 2015

 

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