Kurzmeldungen




Vergangenheit erinnern – Zukunft anders gestalten

Ein Wort zur Orientierung zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs

Berlin - Karlshorst; Foto: Rev. Adel David, April 2015 / GEKE

vom Präsidium der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE)

I.
Vor siebzig Jahren, am 8. Mai 1945, trat die militärische Kapitulation Deutschlands in Kraft und beendete den 2. Weltkrieg in Europa. In diesem Krieg starben nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 55 bis 62 Millionen Menschen - Zivilisten und Soldaten. Allein in der damaligen Sowjetunion wurden 27 Millionen Tote beklagt, in Polen bis zu 6 Millionen Tote. Weltweit befanden sich geschätzt 20 Millionen Menschen auf der Flucht, wurden vertrieben, deportiert oder zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Zerstörungen und Verwüstungen in vielen Städten Europas wie auf dem Land waren verheerend. Tiefschmerzende Verluste und unsägliches Leid haben viele Menschen weltweit erlitten.

II.
Im Schatten des Krieges wurde das Menschheitsverbrechen der Shoa an den Juden in Europa begangen: 6 Millionen Juden wurden systematisch in Ghettos und Konzentrationslager deportiert, zu Zwangsarbeiten eingesetzt, getötet, vergast, verbrannt. Dieses Verbrechen umfaßte auch geschätzte 220.000 bis 500.000 Sinti und Roma, wie auch Menschen mit einer Behinderung, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, die ebenso verfolgt und getötet wurden.
Wir erinnern an die biblische Klage: „Ich habe mir fast die Augen ausgeweint, mein Leib tut mir weh, mein Herz ist auf die Erde ausgeschüttet über dem Jammer“ (Klagelieder Jeremias 2,11).
Es war dies der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner1), der dem „zivilisatorischen Grundvertrauen, das die Menschen bis dicht an die Gegenwart getragen hat, auf lange Zeit den Boden“ entzogen hat (Joachim Fest2).
Insbesondere im Blick auf die Shoa an den Juden musste ein erheblicher Teil der evangelischen Kirchen erkennen, dass „sie in dieser Situation versagt haben...aus Gleichgültigkeit und Furcht, Hochmut und Schwäche; sie versagten auch und vor allem aufgrund von falschen Auslegungen biblischer Texte und daraus resultierendem schrecklichen theologischen Irrtum“.3  Erst im Zuge der Erfahrung dieses Abgrunds kam es zu einem grundlegenden Umdenken in den evangelischen Kirchen Europas  und ihrer Theologie in der Einsicht, „dass in der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung, vom Anfang bis zum Ende der Zeiten, das Volk Israel seinen bleibenden Ort (als von Gott erwähltes Volk) behält“.4 
Dazu gehörte genauso die Erkenntnis der Bedeutung der Rechte und des Schutzes von Minderheiten.

III.
Der 8. Mai 1945 bedeutete das Ende des Krieges in Europa, für viele Menschen wie Staaten war dieses Ende Befreiung; aber nicht nur das, es schuf zugleich eine grundlegend neue politische Machtkonstellation in Europa. Der Kontinent wurde geteilt, ein „Eiserner Vorhang“ errichtet. Zwischen West- und Ostblock entwickelte sich der Kalte Krieg. Die USA und die UDSSR wurden zu den beiden bestimmenden Weltmächten, auch für Europa.
Insofern erinnern wir uns heute an den 8. Mai 1945 aus der Perspektive der Ereignisse nach 1989, die die politische Nachkriegsspaltung in Europa überwanden. Als Christen glauben wir, dass Gott Neuanfänge schafft und schenkt. Mit dem europäischen Einigungsprozess in Gestalt des Europarates und der Europäischen Union, ebenso wie mit der beharrlichen politischen Verhandlungsarbeit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (der heutigen OSZE) wurde ein fundamentaler Wechsel in Europa eingeleitet und geschaffen, der alte Gräben und Feindschaften zu überwinden vermochte – zwischen den Staaten, Völkern, Nationen und Gesellschaften. Auch die Zusammenarbeit im Rahmen der Vereinten Nationen, mit deren Betonung des Völkerrechts und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte haben dies gefördert. Wir betrachten diese Entwicklung als Geschenk an Europa und seine Menschen. Wir nehmen allerdings auch wahr, dass der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in Europa bislang nicht erreicht ist.

IV.
Siebzig Jahre nach Kriegsende durchlebt Europa - seine Staaten und Gesellschaften - eine Zeit neuer Konflikte und Verwerfungen.
Mit dem Konflikt in der Ost-Ukraine und der Besetzung der Krim ist Krieg und bewaffnete Auseinandersetzung – nach dem Krieg und den kriegerischen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts – wieder nach Europa zurückgekehrt. Das Präsidium der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa ist dankbar für das Mandat der OSZE, den mit dem Minsker Abkommen erreichten Waffenstillstand vor Ort zu überprüfen, ist sich aber auch der Brüchigkeit der derzeitigen Situation bewusst. Aus den Kontakten zu evangelischen Gemeinden in der Ukraine wissen wir um die tiefe Not der Menschen und ihre Befürchtungen vor weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Seligpreisung Jesu derer, die Frieden stiften, als Kinder Gottes, gilt ganz aktuell (Matthäus 5,9), und hat einen hohen Stellenwert in allen christlichen Konfessionen. Gerade die Menschen in Russland wie in der Ukraine haben im 2. Weltkrieg namenloses Leid und Elend erlebt. Alle Kräfte sollten unterstützt werden, die ein gedeihliches Nebeneinander, ja einen verlässlichen Frieden fördern.
Zugleich ist die Europäische Union nach wie vor mit einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise konfrontiert, die nicht nur schwerwiegende soziale Konsequenzen in vielen Mitgliedsländern und Gesellschaften mit sich gebracht hat, sondern mittlerweile auch das verständnisvolle Zusammenleben in der Union unterminiert. Einen Rückzug auf das eigene Nationale nehmen wir in Staaten und Gesellschaften in Europa wahr, der einer Einheit in versöhnter Vielfalt, wie es der Leitgedanke der GEKE ist, entgegenläuft.
Es ist durchaus möglich, dass die Langzeitfolgen dieser Krise ebenso wie die politischen Maßnahmen zu ihrer Überwindung sich noch gravierend und belastend auf das Binnenverhältnis der Staaten und Gesellschaften der EU auswirken. „Das zusammenwachsende Europa bringt Menschen und Staaten, Nationen und Völker nahe, manchmal näher, als ihnen lieb ist“ 5, wurde in der GEKE 2001 formuliert, um auch die anstrengende Seite des europäischen Zusammenlebens zu beschreiben.
Umso wichtiger ist es, am 8. Mai 2015 zu unterstreichen, dass der europäische Einigungsprozess keinesfalls allein auf Wirtschaftsdaten begründet werden darf, sondern ein Prozess der Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens in Europa ist, das auf der Wahrung der Menschenwürde und Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit beruht und auf wirtschaftliche Wohlfahrt und soziale Sicherheit für alle zielt – und dies gerade, weil Europa die ganz andere bittere Nachtseite eines totalen Krieges und der Vernichtung des Menschlichen durchlitten hat. So wird aus dem Erinnern der Vergangenheit eine andere Zukunft heute gestaltet.
Erinnernd setzen wir hinzu: Die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, die nur 5 Jahre nach Kriegsende den Zusammenschluss zur Gemeinschaft von Kohle und Stahl anstieß, rief zu einer „Solidarität der Tat“ auf, die in der heutigen Krise erneut in europäischer Perspektive zu tun ist.

V.
Wir erleben eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Die Welt und ihre machtpolitischen Konstellationen verschieben sich grundlegend. Wir hören von zerfallenden Staaten, von neuen, religiös begründeten Terrorregimen. So viele Menschen wie zur Zeit des 2. Weltkriegs sind weltweit auf der Flucht und suchen Schutz und Hilfe.
Die gewachsene, sicherlich nicht vollendete und derzeit auch gefährdete Einheit Europas ist siebzig Jahre nach Kriegsende Geschenk und Gabe, enthält aber auch die Aufgabe inmitten der komplexen Veränderungsprozesse weltweit, sich gemeinsam europäisch für eine friedliche und gerechte politische Gestaltung der Welt einzusetzen. „Lass vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach“ ist ein Aufruf aus der hebräischen Bibel, dem Psalm 34,15, und bleibt im Erinnern des Endes des 2. Weltkriegs eine aktuelle Aufforderung, Mahnung und Verheißung.

Das Präsidium der GEKE zum 8. Mai 2015

www.leuenberg.eu


1 Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie ehemaliger Leiter des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur und Professor am Historischen Seminar der Universität Leipzig
2 Joachim Fest, Bürgerlichkeit als Lebensform, Späte Essays, Hanburg 2007, 75.
3 Kirche und Israel, Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden, Leuenberger Texte 6, Frankfurt a.M., 3. Aufl. 2004, 1.1, 15.
4 A.a.O., 3.1, 71.
5 Kirche-Volk-Staat-Nation, Ein Beitrag zu einem schwierigen Verhältnis, Leuenberger Texte 7, Frankfurt a.M. 2002, 6.3.3, 71.

 

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