Gesinnung und Verantwortung

Einspruch! - Mittwochs-Kolumne von Georg Rieger


Foto: G. Rieger

Unterscheidungen können hilfreich sein. Sie können aber auch missbraucht werden. So geschehen in Ulrich Körtners Beitrag in den zeitzeichen vom Februar.

Unter dem Titel „Mehr Verantwortung, weniger Gesinnung“ wirft der Wiener Theologieprofessor den deutschen Kirchen vor, sie würden in der Flüchtlingsfrage einseitig gesinnungsethisch und bisweilen auch mit dem Gestus der moralischen Überlegenheit argumentieren.

Aber er nimmt auch noch weitere Unterscheidungen vor: Das Gebot der Nächstenliebe bewege sich auf der individualethischen Ebene. Eine unbegrenzte Einwanderung könne es somit nicht begründen helfen. Die Zwei-Reiche-Lehre Luthers wiederum weise dem Staat die Aufgabe zu, für Recht und Frieden zu sorgen. Wer das Gemeinwohl im Blick habe, müsse aber auch Grenzen schließen können und Menschen abweisen, um den Frieden zu bewahren. Und schließlich sei das universale Recht auf Asyl zu unterscheiden von der Umsetzbarkeit auf der einzelstaatlichen Ebene.

Körtner mag damit Recht haben, dass kirchliche Stellungnahmen und Stimmen aus den Gemeinden bisweilen argumentativ dünn sind. Die biblischen Flüchtlingsgeschichten und das Beispiel des barmherzigen Samariters reichen nicht als Handlungsanweisung aus. Doch ist die Politik der Kanzlerin und die Unterstützung durch kirchliche Sprecher wirklich naiv und verantwortungslos wie Körtner es in seinem Beitrag fortwährend suggeriert?

Die formalen Unterscheidungen vorausgeschickt werden sie mit Inhalten gefüllt. Das scheint einleuchtend, ist aber beliebig. Die Schlagworte, die Körtner auf der Verantwortungsseite einsetzt, werden Horst Seehofer gut gefallen: Sicherung des Grenzgebietes, Einhaltung des Schengen-Abkommens und Dublin III, Grenze des Leistbaren, geregelte Zuwanderung (also Obergrenze). Die Kirchen sollen sich zu diesen Aufgaben des Staates zwar äußern, aber bitte verantwortungsethisch! Als könne die Grenzöffnung und die Aufnahme von Flüchtlingen gar nicht aus einem hohen Verantwortungsbewusstsein entschieden worden sein.

Max Weber und Martin Luther müssen also mal wieder dafür herhalten, eine Recht- und Ordnungspolitik zu rechtfertigen und die aus dem Glauben begründete Mitmenschlichkeit als Sozialromantik zu diffamieren. Für einen Sozialethiker finde ich das eine erstaunliche theologische Simplifizierung der Angelegenheit. Und es bestärkt mich in dem reformierten Verständnis, jeder Unterscheidung zu widersprechen, die auf eine Abtrennung von Lebens- und Handlungsbereichen von der Barmherzigkeit Gottes abzielt.

Der Artikel von Ulrich Körtner in den zeitzeichen

Georg Rieger

 

Mitteilungen

23. März
von Gudrun Kuhn

Wie war ich entsetzt und empört über den Artikel von Körtner, den ich als Theologen bislang so sehr geschätzt hatte. Da breitet sich in Österreich eine ganz gefähhrliche "Gesinnung" aus. Simplifizierung ist genau die richtige Kennzeichnung.
Vielen Dank für die notwendigen kritischen Worte.

26. März 2016: Vielen Dank für den Kommentar von Bernd Kehren

Ganz ehrlich: Noch nie habe ich die Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik als ehrlich wahrgenommen. Immer wird dem Gesinnungsethiker unterstellt, nicht richtig nachgedacht zu haben. Und immer versucht der Verantwortungsethiker, sich von seinen ethischen Prinzipien geschickt zu verabschieden. Allgemeine Menschenrechte? Nie wieder Faschismus, nie wieder Auschwitz, nie wieder ... Aber wenn es uns zu viel wird, dann muss man halt damit leben, dass die Zustände in einem Flüchtlingslager unterträglich sind.
Wir können doch nichts dafür, dass die Griechen das wieder mal nicht hinbekommen.
Wir können doch nichts dafür, dass nun seit einiger Zeit so viele Menschen im Mittelmeer absaufen, als Europa verantwortungsethisch beschloss, die Mittel für Seerettung im Mittelmeer drastisch zu kürzen.
Wir können doch nichts dafür, dass die Flüchtlinge sich auf den Weg machen, wenn die Weltgemeinschaft das Flüchtlingshilfswerk nicht mit den Geldbeträgen ausstattet, die nötig sind, um ein erträgliches Leben in den Flüchtlingslagern sicher zu stellen.

Es wird der Zeitpunkt kommen, dass jemand eine Anzeige einreichen wird, wegen mutwilliger unterlassener Hilfeleistung, mit tausendfacher Todesfolge. Im Mittelmeer. in Grenzlagern.
Die Politiker werden alt sein. Vielleicht so alt wie frühere Beamte in Auschwitz. Aber sie werden verurteilt werden. Und dann werden sie sagen: Wir waren doch Verantwortungsethiker. Wir konnten nicht anders.
Und der Richter wird ihnen sagen, dass sie sehr wohl anders konnten. Wie wollten nur nicht. Sie haben auch die Folgen ihres Handelns ausgeblendet ...
Sie dachten, sie wären verantwortungsethisch. Und der Richer wird sagen: Sie waren verantwortungslos.