Soziale Marktwirtschaft hat eine andere Bedeutung erhalten

Interview mit Wolfgang Wagenfeld, Leer


Wolfgang Wagenfeld bei der Eröffnung der Woche der Diakonie 2012. Foto: ErK

Wolfgang Wagenfeld geht nach 23 Jahren als Geschäftsführer des Diakonischen Werkes der Evangelisch-reformierten Kirche in den Ruhestand. In einem Interview mit Ulf Preuß blickt er zurück auf seinen Dienst am Nächsten.

Wolfgang Wagenfeld, Geschäftsführer des Diakonischen Werkes der Evangelisch-reformierten Kirche, geht am 31. März in den Ruhestand. Der gebürtige Nordhorner leitete 23 Jahre die Geschicke der Geschäftsstelle in Leer, beriet zahllose Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen, nahm an mehr als 100 Sitzungen des Diakonieausschusses teil, schrieb hunderte Protokolle, organisierte 23 Diakonische Konferenzen, erlebte die Gründung eines Diakonischen Werkes der evangelischen Kirchen in Niedersachsen und war Mitglied der niedersächsischen Härtefallkommission für Flüchtlinge.

Herr Wagenfeld, was hat sich in den 23 Jahren Ihrer Tätigkeit für das Diakonische Werk geändert?

Deutlich verändert haben sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die soziale und damit die diakonische Arbeit. Viele Bereiche der sozialen Arbeit  sind zwischenzeitlich Marktgesetzen unterworfen. Angebot und Nachfrage regeln Preis und damit Qualität. Der Begriff soziale Marktwirtschaft hat eine andere Bedeutung erhalten.
Dies wird verstärkt dadurch, dass Europa  zunehmend die Ausschreibung sozialer Dienstleistungen fordert. Das Subsidiaritätsprinzip, nach dem sich bei sozialen Dienstleistungen auch das vielfältige Wertesystem in Deutschland wiederfinden soll, wird zunehmend aufgeweicht.
Die gute Qualität der diakonischen Angebote hoch zu halten, fällt angesichts der Tatsache, dass zunehmend der billigste Anbieter sowohl von Kunden wie auch von Kostenträgern den Zuschlag erhält, schwer.

Als Sie 1993 hier in Leer anfingen, was war zu diesem Zeitpunkt die zentrale Herausforderung für die diakonische Arbeit der Kirchen?

Der Beginn meiner Arbeit im Diakonischen Werk der Evangelisch-reformierten Kirche liegt in der Zeit, als die Pflegeversicherung in Deutschland eingeführt wurde. Ich war damals gleich gefordert, mich sowohl in die politische Diskussion einzubringen als auch mit unseren Pflegeinrichtungen die notwendigen Schritte zu bedenken. Die geliebten Schwestern- und Sozialstationsstrukturen mussten zugunsten klarerer Organisationsformen wie Vereinen oder Kapitalgesellschaften aufgegeben werden.

Und heute ist es die Flüchtlingsfrage?

Ja, derzeit steht die Flüchtlingsthematik sehr im Mittelpunkt gerade auch des gemeindediakonischen Engagements. Das ist auch richtig. Sich der Menschen anzunehmen, die oft alles verloren haben und mit schweren traumatischen Erlebnissen bei uns Schutz und Neuanfang suchen, muss eine kirchliche und diakonische Aufgabe sein.
Ich sage aber auch ganz klar, dass wir darüber hinaus die vielen anderen Menschen mit ihren Nöten nicht vergessen dürfen.

Hat es in den vielen Jahren ein biblisches Wort oder ein biblisches Motiv gegeben, das Sie geleitet hat?

Mein ganzes Leben hat ein Paulus-Wort aus dem Galater-Brief geprägt: „Einer trage des anderen Last, so  werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Ich habe mir schon zu meiner CVJM-Zeit immer vorgestellt: Wenn das gelänge, dann bräuchte niemand unter seiner Last  - wie auch immer sie aussieht – zusammenbrechen. Aber wir Menschen müssen wohl noch einiges lernen.
In der Diakonie waren natürlich für mich immer beispielhaft die Geschichte vom Barmherzigen Samariter aus dem Lukas-Evangelium sowie die Aufzählung der Werke der Barmherzigkeit durch Jesus im Matthäus-Evangelium.

In unserer Gesellschaft wird oft der Trend zur Individualisierung oder zur Vereinzelung festgestellt oder auch beklagt. Sehen Sie den auch – und welche Konsequenzen hat das für die diakonische Arbeit der Kirche?

Eine sehr komplexe Frage! Ich verweise hier gerne auf das soeben erwähnte Paulus-Wort von der gemeinsamen Lastentragung. Es ist schon erstaunlich, wie viele Menschen sich ihrer Pflicht zur Lastenteilung entziehen – etwa bei ihrer Steuerpflicht. Aber auch, wie selbstverständlich diese Menschen dann vom Staat Solidarleistungen erwartet, sei es im Straßenbau oder beim Kindergeld.

Es gibt aber auch nach wie vor erstaunlich viele Menschen, die sich über ihre Pflicht hinaus einbringen, etwa durch Spenden oder - manchmal noch wichtiger –  durch Zeit. Gerade die aktuelle Flüchtlingssituation in Deutschland hat ungeheuer viel ehrenamtliches Engagement hervorgerufen. Dafür müssen wir sehr dankbar sein. Gesamtgesellschaft, aber auch Kirche und Diakonie sind gefordert, dieses Engagement aktiv zu unterstützen etwa durch Beratung und Fortbildung.

Die Diakonie ist bundesweit einer der größten Wohlfahrtsverbände – also eine sozialpolitische Organisation. Was sehen Sie in den nächsten Jahren auf die Diakonie als sozialpolitische Organisation zukommen?

Die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände sind meines Erachtens ein wichtiges Korrektiv zur Wahrung des „Sozialen“ in der Sozialen Marktwirtschaft. Dieses bewährte Gesellschaftssystem droht durch die Überbewertung der Marktgrundsätze in Europa zu kippen. Wenn aber Gewinnmaximierung und billigster Anbieter den Markt allein bestimmen, bleibt die soziale Verantwortung auf der Strecke. Armut verfestigt sich weiter, Altenpflege wird reduziert auf reine Versorgung, psychisch Kranke werden allein gelassen.
Kirche und Diakonie werden sich deshalb einsetzen müssen für ein Beibehalten der Grundzüge des deutschen Wohlfahrtssystems und gleichzeitig die Herausforderungen der Zukunft annehmen: die Folgen des demographischen Wandels, Armutsbekämpfung, insbesondere auch wieder von Altersarmut, die Gestaltung von Sozialräumen einschließlich des sozialen Wohnungsbaus.

Und was macht Wolfgang Wagenfeld ab dem 1. April 2016?

Ich werde noch ein Weilchen an diesen Herausforderungen ehrenamtlich mitarbeiten: als Mitglied des Kirchenrates in Veenhusen, als Vorstandsmitglied des Diakonischen Werkes in Ostfriesland und als Aufsichtsratsmitglied im Diakonischen Werk in Niedersachsen.
Aber ich beabsichtige auch, die neu gewonnene freie Zeit zu nutzen für Dinge, die mir Spaß machen und die in den Berufsjahren ein wenig zu kurz gekommen sind: mehr Rad fahren und wandern und dabei meine ornithologischen Kenntnisse auffrischen, wieder mal malen (Aquarelle für den Hausgebrauch) und sicher auch ein wenig reisen.
Und das alles am liebsten mit meiner Frau, die im August ebenfalls in den Ruhestand gehen wird.

Interview: Ulf Preuß

Wolfgang Wagenfeld wird am 7. April offiziell im Landeskirchenamt in Leer verabschiedet.

Quelle: reformiert.de