V. Zur Freiheit befreit

Michael Weinrich, Wir sind aber Menschen

I. Das Unbekanntsein Gottes
II. Von Gott reden, heißt vom Menschen reden

III. Von der Anmaßlichkeit des Fragens
IV. Wirklichkeit als Beziehung
V. Zur Freiheit befreit
VI. Eine Zwischenbilanz
VII. Die unmögliche Möglichkeit
VIII. Die mögliche Unmöglichkeit

In der Neuzeit haben wir uns – mit oder ohne die philosophischen Diskurse um die Freiheit – daran gewöhnt, Freiheit als ein Können zu verstehen, eben das besondere Können, einen eigenen Anfang zu setzen, ohne dabei einer Fremdbestimmung zu unterliegen. An dieser Möglichkeit scheint der ganze Adel des Mensch zu hängen, so dass kein intellektueller Aufwand gescheut wird, um diese Freiheit in irgendeiner Weise aufweisen und sichern zu können, was offenkundig nicht ohne die Überwindung massiver Widerstände abgehen kann. Sie gilt als gesichert, wenn sich der Mensch in dieser Welt als ein gestaltendes Subjekt verstehen darf, dem die Kausalität der Realitätszusammenhänge einen aufzeigbaren Raum zu einer unabhängigen Gestaltung gelassen hat[1].

Immanuel Kant hat in seinen Freiheitsantinomien den Raum der Freiheit radikal eingeschränkt und darauf aufmerksam gemacht, wie eng und voraussetzungsvoll der Raum der Freiheit ist[2]. Dennoch erscheint der massiv limitierte Raum der Freiheit mit all den Bedingungen, die anerkannt werden müssen, um in ihn hineinzukommen, für die Sicherung der besonderen Herausgehobenheit des Menschen ausreichend zu sein. Bemerkenswert dabei ist, dass Kant die Subjektivität des Menschen nicht durch den Umgang mit Dingen, sondern im Horizont des zu reflektierenden zwischenmenschlichen Verhältnisses sichert. Freiheit ist bei Kant ganz und gar kein Freibrief. Sie ist im Gegenteil eine Verpflichtung, mit der sich der Mensch eher schwer tut[3]; sie erweist sich seinem Glücksverlangen gegenüber als überaus sperrig und einschränkend, so dass der einzige Reiz, der zunächst von ihr ausgeht, eben in der Demonstration des besonderen Adels des Menschen besteht, der allerdings kein Selbstzweck ist, sondern dem gedeihlichen Zusammenleben der Menschen dient. Kant unterlässt es schließlich nicht, auch das Glücksverlangen des Menschen in eine Beziehung zur Pflicht der Freiheit zu setzen, was ihm aber erst recht gelingt, wenn sich der Mensch zumindest einem postulierten Gott zuwenden kann, der dieses Glück für den Menschen über sein endliches Leben hinaus aufbewahrt. Um dem Menschen den Genuss dieses Glücks nicht zu verstellen, muß die reine praktische Vernunft zudem die Unsterblichkeit der Seele postulieren. Der Mensch kann die Pflicht der Freiheit nur übernehmen, wenn er sein Glücksverlangen hoffnungsvoll eben diesem postulierten Gott überlässt, weil die Freiheit ihm dieses Glück in seinem endlichen Leben nicht einzuspielen vermag.

Es ist deutlich, wie weit dieses kritisch den Bestimmtheiten unserer Welt abgerungene Verständnis von Freiheit von all den pathetischen Freiheitsparolen entfernt ist, wie sie gern von Politikern benutzt werden, besonders dann, wenn sie im Begriff sind, irgendwelchen Feinden der Freiheit mit Entschlossenheit entgegenzutreten. Dort gerät die Freiheit unversehens zu einem Freibrief der Macht, die – solange sie sich nur selbst ansieht – stets gefährdet und darum permanent zu Aktionen der Selbstfestigung veranlasst zu sein scheint. Der Selbstbezogenheit des Freiheitsverständnisses fehlt hier die für Kant konstitutive soziale Dimension, so dass allein die Verwirklichung des Glücksverlangens übrig bleibt, zu dessen Sicherung man sich aber lieber auf sich selbst verlässt als auf Gott, weil dieser dafür bekannt ist, immer erst auf unbestimmte Zeit hin zu vertrösten. Zu dieser ideologisch ins Spiel gebrachten Freiheit muss der Mensch nicht besonders motiviert oder gar ermutigt werden – sie wirkt allein durch das Pathos, mit dem sie reklamiert wird –, dennoch ist auch ihr Genuss stets getrübt, weil sie ständig ›verteidigt‹ werden muss. Ihr ziehen stets von außen her dunkle Wolken auf, so dass sie sich unablässig mit der Frage ihrer Stabilität und Sicherheit zu beschäftigen hat. Es kann der Eindruck entstehen, als bestehe die Freiheit geradezu in ihrer Sicherung, die eben vor allem eine Selbstsicherung ist. Insofern folgt sie ebenso wie bei Kant einem Imperativ, so andersartig er auch motiviert und dann umgesetzt werden mag.

Gemeinsam ist beiden Fassungen des Freiheitsverständnisses – wenn ich das politische Freiheitspathos einmal als ein Freiheitsverständnis ansehen darf –, dass sie an der Möglichkeit orientiert sind, die es dem Menschen oder auch einem Staat bzw. einer wie auch immer begründeten Interessengemeinschaft ermöglicht, von sich als einem eigenen ›Ich‹ zu sprechen. Dabei ist weniger das Individualitätsproblem im Blick, das die menschliche Sorge nährt, in seiner individuellen Besonderheit nicht genügend gewürdigt zu werden, als vielmehr die Frage nach seiner Wirkmächtigkeit. Die Orientierung am Subjekt ist eine Orientierung an der möglichst konkreten Nachweisbarkeit dieser Subjektivität in Aktionen. D.h. umgekehrt, dass es stets Aktionen sein müssen, durch die sich das hohe Gut der Freiheit und dann eben auch der Subjektivität des Menschen, seiner Menschlichkeit, aufzeigen und dann auch verwirklichen lassen.

Hier wird nun die entscheidende Differenz sichtbar. Nach biblischem Verständnis ist die Freiheit nicht allein im Subjekt und seiner Fähigkeit begründet, der Wirklichkeit gleichsam für sich etwas abringen zu können, sondern die Wirklichkeit selbst wird als ein Raum der Freiheit verstanden. Die Frage nach der Freiheit lenkt den (meist um sich selbst besorgten) Blick nicht zunächst auf die Nachweisbarkeit der Wirkmächtigkeit des Menschen, sondern auf die schier unermessliche Fülle der von der Wirklichkeit bereitgehaltenen Möglichkeiten der Entfaltung menschlichen Lebens. Die Freiheit muss hier nicht einer sie gefährdenden Wirklichkeit abgetrotzt werden, ihr Ereignis steht nicht in Konkurrenz mit den die Wirklichkeit bestimmenden Gesetzmäßigkeiten, so dass der Freiheit aus der Wirklichkeit stets eine Gefährdung erwächst. Es ist die Wirklichkeit selbst, die »zur Freiheit befreit« (Gal 5,1), und zwar nicht kraft irgendwelcher Bestimmungen, sondern kraft des in ihr wirkenden Geistes. Er ist als Gottes Geist darin der Geist des Lebens, dass er der Geist der Gemeinschaft, d.h. des zum Leben animierenden Beziehungsreichtums ist.

Wenn das jetzt so emphatisch gesagt wird, müssen die Überlegungen im Auge behalten werden, die wir oben um das Verständnis der Wirklichkeit angestellt haben, denn nicht jedes Verständnis gibt den Blick auf diesen Reichtum frei. Reden wir jedoch von der Wirklichkeit als Gottes Schöpfung, dann geht es um die Wirklichkeit, nach welcher der Mensch Ebenbild Gottes ist, geschaffen in dem benannten eigentümlichen Plural, der ihn davon befreit, für sich leben zu müssen. Vielmehr lebt der Mensch seinem Wesen nach sowohl mit Gott als auch mit seinen tatsächlich ›anderen‹ Mitmenschen in einer unendlich vielgestaltigen beziehungsreichen Gegenseitigkeit. Durch das Angesprochenwerden wird in ihm die Freiheit zum Antworten geweckt –, und zugleich hat er auch die Freiheit anzusprechen und auf Antwort zu hoffen. Die Freiheit liegt nicht in einem Wettstreit mit der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ist selbst ihrem Wesen nach Darstellung und Verwirklichung von Freiheit. Wo diese Freiheit nicht gesehen wird, wird auch die Wirklichkeit nicht recht gesehen.

Die biblische Vorsicht gegenüber der Orientierung am Ich bedeutet keine prinzipielle Abstinenz gegenüber der Subjektivität des Menschen, wohl aber eine fundamentale Kritik an dem als natürlich ausgegebenen Anschein ihrer prinzipiellen Selbstbezogenheit. Individualität und Subjektivität sind nicht von vornherein an Selbstverwirklichung und Konkurrenz gebunden. Das Ich und somit die menschliche Freiheit sind nicht darauf angewiesen, Nischen der Unbestimmtheit ausmachen und dann sichern zu müssen. Sie müssen nicht befürchten, im Horizont all der von den Wissenschaften ausgemachten Gesetzmäßigkeiten verloren zu gehen. Vielmehr kommen das Ich ebenso wie seine Freiheit gerade in ihrer Bestimmtheit zum Zuge, denn diese Bestimmtheit hat nichts mit Determination und Gesetzmäßigkeit zu tun, sondern sie weist zunächst nur darauf hin, dass der Mensch nicht dazu verdammt ist, sich in die Einsamkeit seiner Selbstabstraktion zu begeben, um von dort aus nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, sich selbst unter Beweis zu stellen. Seine Bestimmtheit besagt schlicht, dass jeder Mensch von Gott als ein freier gewollt wird; bevor er sich selbst in den Blick nimmt, ist er längst im Blick Gottes. In diesem Sinne lässt sich die paulinische Einsicht: »Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit« (2Kor 3,17) auf diese Fragestellung beziehen. Der Blick Gottes ist nicht die Observanz von ›Big Brother‹, die das Ich zu einem restlos auszuforschenden Gegenstand macht, so dass es unter den Druck gerät, sich selbst darstellen zu müssen, indem es nun seinerseits alles, was es ansieht, zu einem Gegenstand der Selbstdarstellung macht. Der Blick Gottes steht vielmehr für ein Gegenüber, das allein dadurch in Erscheinung tritt, dass es seine Bezogenheit signalisiert.

Es ist die Forderung der Unbestimmtheit, die für Kant die Luft um die Freiheit so ungeheuerlich dünn werden lässt, weil jede Bestimmung nur als Verunmöglichung der Freiheit wahrgenommen werden kann. Die Freiheit in biblischer Perspektive zehrt gerade aus der Bestimmtheit des Menschen, die seinem Blick etwas zu sehen gibt, um dessen willen es sich lohnt zu leben und die individuellen Möglichkeiten wahrzunehmen.

Die Sozialität wird hier nicht als ein Bewährungsraum der Freiheit angesehen, der immer auch ihre Infragestellung in sich birgt, sondern die Sozialität ist der spezifische Ermöglichungsgrund einer zu sich selbst findenden und dann auch tätig werdenden, d.h. interaktiv werdenden Freiheit. Sie ereignet sich in ihrer Wirklichkeitsgemäßheit, in ihrer Entsprechung zu den gegebenen Beziehungen, durch welche die Wirklichkeit ihrerseits erst zu Stande kommt. Das ist zunächst und grundlegend die dem Menschen stets vorgängige Beziehung zu Gott, der deshalb sein Schöpfer genannt wird, und es sind zugleich all die unendlich vielen Beziehungen zu den anderen Menschen, die alle als ebenfalls zu ihrem Schöpfer in Beziehung stehende Geschöpfe betrachtet werden. Freiheit ist hier kein an den Menschen gestellter Anspruch. Vielmehr ist sie Verwirklichung als Bestätigung und Bestätigung als Verwirklichung. In gewisser Weise kann sie auch als Erfüllung angesehen werden, denn sie gibt dem der Schöpfung des Menschen eingehauchten Lebensodem Gottes die gesuchte Resonanz.

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[1]    Die in diesem Horizont formulierte Feststellung der modernen Hirnforschung, dass aus naturwissenschaftlicher Sicht die Abläufe im menschlichen Gehirn, das sich nicht grundsätzlich von anderen Gehirnen unterscheidet, jede Vorstellung von Freiheit verbieten, wird als ein Angriff auf die Menschlichkeit des Menschen empfunden und irritiert zurückgewiesen.

[2]    Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. R. Schmidt (PhB 37a), Hamburg 1956 (Nachdruck 1971), B 472ff, B 480ff, B 560ff.

[3]    Die Freiheit ist notwendiges Implikat des moralischen Gesetzes: »die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit«. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. v. K. Vorländer (PhB 38), Hamburg 1967 (Nachdruck der 9. Aufl. von 1929), 4 (Anm.). Der Mensch wird durch das Sittengesetz zu dem Eingeständnis gebracht, »daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre.« Ebd., 35; zum Ganzen vgl. auch I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. v. K. Vorländer (PhB 41), Hamburg 1965 (Nachdruck der 3. Aufl.).


© Prof. Dr. Michael Weinrich
 

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