CH: ''Reformiert sein ist anstrengend ...''

Reformierte Kirche in der Schweiz: ''Es gibt kein Unternehmen mit einer vergleichbaren Erfolgsgeschichte''

ref.ch. Philippe Welti ist PR-Berater und überzeugter, wenn auch etwas unzufriedener Reformierter. Er kritisierte die Nicht-Erkennbarkeit der reformierten Kirchen auch schon öffentlich. Im Interview mit ref.ch erklärt er, was die reformierten Kirchen besser machen könnten.

Herr Welti, woran leiden Sie als Reformierter?
Philippe Welti: Reformiertsein ist anstrengend. Ob etwas richtig oder falsch ist, müssen wir selbst mit unserem Gewissen, das wir an der Bibel messen, vereinbaren. Dabei lässt uns Reformierte die Kirche allein mit Gott und unserem Gewissen, wir sind quasi Do-it-yourself-Gläubige. Als Reformierter mag ich zwar meine Freiheit, erhoffe mir aber in Auseinandersetzung mit der Bibel von der Kirche auch Orientierung. Manchmal beneide ich dabei die Katholiken. Sie haben den Papst. Er sagt seinen Gläubigen, was Sache ist in Glaubensfragen. Wir Reformierte stehen oft etwas verloren in Kirchen, die den Charme von Zivilschutzanlagen versprühen. Ja, viele von uns wissen nicht einmal, wofür die reformierte Kirche steht. Kaum ein Reformierter weiss heute noch, woran er eigentlich glaubt und wofür die Kirche steht. Was ist das Gemeinsame? Ein reformiertes Bekenntnis wird es nun wohl auch nicht geben. Das ist schade. Verlieren wir die «Freiheit eines Christenmenschen», wenn wir uns einem Bekenntnis «unterwerfen»? Ein Bekenntnis würde den Zusammenhalt der Gläubigen und der Kirche stärken. Der reformierte Föderalismus behindert zudem die Wahrnehmung der Reformierten. Ich bin überzeugt, dass 99 Prozent der Reformierten im Kanton Zürich nicht wissen, wer der Kirchenratspräsident ist.

Kirchenbundspräsident Gottfried Locher hat vor einiger Zeit vorgeschlagen, evangelische Bischöfe einzuführen. Was halten Sie davon?
Ich fände das eine gute Sache. Die Pfarrer kommen doch heute neben ihren unzähligen administrativen Aufgaben kaum noch dazu, sich zu aktuellen Themen aus reformierter Sicht zu äussern. Das könnte ein reformierter Bischof als geistliche Instanz und Sprachrohr tun. Die Lutheraner und viele andere protestantische Kirchen kennen auch Bischöfe. Es ist ein Amt, das also nicht katholisch «besetzt» ist. Offenbar findet die Bischofsidee in den Pfarrhäusern und bei den Kirchenpflegen wenig Begeisterung. Tatsache ist, dass es an einem Mister Reformiert, einer populären und charismatischen Identifikationsfigur für die Gläubigen, fehlt. Die Kirche müsste meiner Meinung nach auch viel mehr Stellung nehmen zu aktuellen Themen.

Das ist aber umstritten. Herr Mörgeli von der SVP will das nicht. 
Aber die Kirche hat sich immer für die Schwachen eingesetzt, eine revolutionäre Religion, sie muss Stellung beziehen. Jesus war ein sozialer Revolutionär, der Wein trank, richtig zornig werden konnte. Die Kirche hat uns allen etwas zu sagen. Sie muss es nur richtig kommunizieren. Dann findet sie auch wieder Gehör. Das Problem ist doch: Der gesellschaftliche und geistliche Einfluss der Kirche schwindet – und dies in  Zeiten von Boni-Exzessen. Es ist Zeit, dass sich die Kirche neu positioniert.

Wie stellen Sie sich das vor?
Eigentlich müssten die reformierten Kirchen zu einem grossen, nationalen Konzil aufrufen, um es katholisch auszudrücken. Dort müsste man diskutieren, wie die Kirche der Zukunft auszusehen hat. Heute gibt es 24 reformierte Kantonalkirchen mit 24 verschiedenen Kirchenverfassungen. Nehmen wir die Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren: In Appenzell ist dies nicht möglich, in Zürich und Bern schon. Weshalb diese Unterschiede? Sind wir nicht alle Reformierte? Eine gewisse verbindliche Vereinheitlichung würde der Kirche guttun. Der Pfarrer hätte sich dann an gewisse Dinge zu halten. Wer heute einen Gottesdienst aufsucht, weiss nicht, ob ihn eine Schamanin oder ein Prediger des Wortes erwartet. Bei den Katholiken weiss ich weltweit, was mich im Gottesdienst erwartet. Warum tragen viele reformierte Pfarrer keinen Talar? Schämen sie sich? Ist es Bequemlichkeit? Man erkennt den Pfarrer oft gar nicht.

Das interessiert gerade reformierte Theologen vielleicht weniger. Das ist ja rein äusserlich.
Äusserlichkeiten sind nicht Nebensächlichkeiten. Form und Funktion gehören zusammen. Ein Minimum an Erkennbarkeit in der Kirche sollte da sein. Vielleicht ist der Leidensdruck noch nicht gross genug. Noch ist ja jeder Dritte im Land reformiert. Aber die Reformierten verlieren an Einfluss. Nimmt man das einfach in Kauf? Die Kirche tut viel Gutes – nur redet sie nicht so darüber, dass es bei den Menschen auch ankommt. Man ist viel zu bescheiden. Die Reformierten haben unser Land geprägt – unsere Rechtsprechung, unseren Sozialstaat, unser Zusammenleben. Die Kirche glaubt, sie könne so weitermachen wie bisher. Heute gibt es 100 Religionen und Philosophien neben dem christlichen Glauben. Die Kirche betreibt viel, aber wenig wirksame Öffentlichkeitsarbeit. Offenbar scheut man den Wettbewerb. Ist Wettbewerb unchristlich? Überhaupt nicht. Zwingli und Calvin wollten, dass die Leute arbeiten. Sie waren wirtschaftsfreundlich, aber mit der Mahnung, das Geld sinnvoll einzusetzen.

Reformierte Kantonalkirchen haben verschiedene Imagekampagnen gemacht…
Ja, 2005 waren die Plakate «Ist Fussball alles, woran Sie glauben?» im Aargau zu sehen. Das war eine gute Aktion. Eher unglücklich fand ich die Glückslos-Aktion letztes Jahr, bei der man rubbeln musste. Ich verstehe zwar die Überlegungen dahinter, aber das Ganze wurde so auch ins Lächerliche gezogen.

Die Reformierten Medien machten vor zehn Jahren eine Kampagne «Selber denken – die Reformierten». Diese Kampagne war auch sehr umstritten…
Ja, aber der Claim «Selber denken» hat sich gehalten, das war eine gute Sache. Das kann sich lohnen, und man kann es nie allen recht machen. Vielleicht ist das auch eine Krankheit der Kirche: Es allen recht machen zu wollen. So man wird die Botschaft unkenntlich. Wenn man jede Randgruppe inkludieren will, wird man schwer lesbar. Dahinter steckt auch mangelndes Selbstbewusstsein.

Wie würde man lesbarer?
Mit einer einheitlichen Liturgie zum Beispiel. Manchmal träume ich von einer Kirche, die sich auf die Bühne erhebt, die ihr zusteht. Sie ist mutig, selbstbewusst und eckt an. Sie muss nicht alles ändern. Hätte sie in den letzten 500 Jahren jeder Modeströmung nachgegeben, gäbe es die Reformierten in der heutigen Form nicht mehr. Es gibt kein Unternehmen mit einer vergleichbaren Erfolgsgeschichte in der Welt. Den Reformierten fehlt ein klares Profil, um sich auf dem Markt der Religionen zu behaupten. Dieses könnte lauten: Die Kirche ist ein Ort der Auseinandersetzung mit sich selbst und mit Gott – nicht mehr und nicht weniger. Dabei steht sie, wie Jesus, auf der Seite der Schwachen. Würde sie sich auf ihre Kernkompetenz besinnen, die Vermittlung des Glaubens und die Verkündigung des Evangeliums, könnte sie wieder wahrgenommen werden als das, was sie wirklich ist: Die Türe in eine andere Welt.

Was bedeutet für Sie Reformiertsein?
Reformiertsein heisst Glaube und Selbstbestimmung. Die Kirche hat eigentlich etwas, das sonst niemand hat in unserer Event-Kultur: Geheimnis zu Gott, Vermittlung des Glaubens – das ist ihre Kernkompetenz. Sie sollte nicht konkurrieren mit anderen Veranstaltern. Der Pfarrer ist dabei der erste Botschafter des Glaubens in seiner Kirchgemeinde. Um wieder an Bedeutung zu gewinnen, bräuchte die Kirche bloss Pfarrer, die menschlich und rhetorisch auf der Höhe ihrer Aufgabe stehen. Viele Pfarrer sind aber am falschen Ort. Ein Pfarrhaus und ein guter Lohn reichen nicht als Motivation. Ein Pfarrer muss eine innere Überzeugung haben und so reden können, dass mans versteht. (ref.ch News/Matthias Böhni)

Philippe Welti ist PR-Berater bei der Stöhlker AG in Zollikon ZH. Er studierte Geographie, Tourismus und Medienwissenschaften an der Uni Bern, war später unter anderem Umweltplaner, Hotelmanager, Werbetexter und Journalist. www.welti.ch

Quelle: ref.ch, 6. Juli 2012