Beschneidung: Ein Urteil als schlechtes Signal

''Wenn man nicht in einen religiösen Fundamentalismus abgleiten will, dann muss klar sein, dass das Wohl des Kindes ein höheres Gut ist, als es die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern sein können''. Aber: Die ''Beschneidung nicht dem Wohl des Kindes''.

Gewaltige Enttäuschung und Verunsicherung löst das Kölner Beschneidungsurteil aus. Ein Doppelinterview auf ekir.de mit den Beauftragten der Evangelischen Kirche im Rheinland für Islam, Rafael Nikodemus, und für das Judentum, Dr. Volker Haarmann.

Was glauben Sie, Herr Nikodemus: Wird das Kölner Landgerichtsurteil zum Thema Beschneidung dazu führen, dass künftig muslimische Jungen in Hinterzimmern und medizinisch und hygienisch riskant beschnitten zu werden?

NIKODEMUS Ja, davon ist sicher auszugehen. Dieses Urteil schafft eine große Rechtsunsicherheit. Der Präsident der Bundesärztekammer zum Beispiel hat das Urteil zwar kritisiert, aber die Ärzte gewarnt, die Praxis der Beschneidung in dieser Situation der Rechtsunsicherheit weiterzuführen. Das aber bedeutet: Das, was bisher in Deutschland professionell von Ärzten gemacht wurde, wird anders organisiert werden. Denn die religiöse Tradition, muslimische Jungen zu beschneiden, bleibt ja bestehen. Eine Möglichkeit ist das Ausweichen zu Beschneidern, die im rechtsfreien Raum in den Hinterzimmern mehr oder weniger unprofessionell die Beschneidung vollziehen.

Rechtsunsicherheit muss geklärt werden: Rafael Nikodemus Rechtsunsicherheit muss geklärt werden: Rafael Nikodemus

Oder ist ein Ausweichen in andere Länder wahrscheinlicher?

NIKODEMUS Schon jetzt ist absehbar, dass beides eintreten wird. Das Abdrängen in die medizinischen Hinterhöfe genauso wie ein zunehmender Beschneidungstourismus in unsere Nachbarländer und in die jeweiligen Heimatländer, die eine solche Diskussion und Rechtslage ja gar nicht kennen. Schon bisher ist es so, dass viele muslimische Familien, insbesondere aus der Türkei, die Beschneidung eines Sohnes mit dem Heimaturlaub in der Türkei verbinden. Das wird sich verstärken, ebenso das Ausweichen in unsere Nachbarländer.

Es ist also absolut dringlich, dass die Rechtslage in Deutschland jetzt umfassend geklärt wird. Der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland hat bereits angekündigt, mit einem Präzedenzfall bis vor das Bundesverfassungsgericht zu gehen. Aber das kann dauern.

Verzerrtes Bild: Volker Haarmann Verzerrtes Bild: Volker Haarmann

Herr Haarmann, ohne zu viel zu spekulieren, fürchten Sie im Blick auf jüdische Gemeinden ein Abdrängen ins Ausland oder zu Kurpfuschern?

HAARMANN Natürlich teile ich dieselben Befürchtungen, die Rafael Nikodemus mit Blick auf die muslimischen Gemeinden geäußert hat. Und offenbar gibt es auch schon viele Eltern, die für die Beschneidung ihres Sohnes jetzt beispielsweise nach Österreich fahren. Das ist aber natürlich eine völlig inakzeptable Situation, in die wir damit hier in Deutschland geraten sind. Der Gesetzgeber ist jetzt gefordert, um die Rechtssicherheit für jüdische und muslimische Beschneidungspraxis wiederherzustellen. Herr Graumann, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat eine solche Klärung auch angemahnt, und in der Tat gibt es dazu gar keine Alternative.

Wir als rheinische Kirche haben von der Gefahr der Kriminalisierung muslimischen und jüdischen Lebens gesprochen – welche (sonstigen) konkreten Folgen und Gefahren aus dem Urteil fürchten Sie?

HAARMANN Das Urteil begründet ja nun keine neue Rechtslage in unserem Land. Es ist zunächst einmal nur ein Urteil in einem konkreten Fall. Es wird aber, wie die Juristen sagen, sicherlich eine starke Signalwirkung haben. Und diese Signale sind in der Tat verheerend für jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland. Denn in seiner Konsequenz würde das Urteil jüdisches und muslimisches Leben in unserem Land an einem zentralen Punkt verunmöglichen. Eine unmögliche Vorstellung!

Beschneidung, wie sie in jüdischer und muslimischer Tradition bei Jungen durchgeführt wird, muss meines Erachtens klar von „Körperverletzung“ unterschieden werden, die eine „unangemessene und üble Behandlung“ strafrechtlich ahndet. Es ist dabei verheerend, wenn in der Diskussion oft in einem Atemzug von menschenverachtenden Praktiken wie Genitalverstümmelung und von jüdischer und muslimischer Zirkumzision, wie die Beschneidung von Jungen medizinisch heißt, die Rede ist. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wer solche grundlegenden Unterschiede in der Diskussion nicht deutlich macht, verzerrt das Bild von Judentum und Islam, das viele Menschen jetzt bekommen.

Wie dramatisch ist das Urteil, das zwar rechtskräftig, aber nicht für andere Gerichte bindend ist, für die Moschee- und Kultusgemeinden?

NIKODEMUS Das Urteil für sich genommen ist das eine, das andere ist die enorme Wirkung, die es auf die vielen Muslima und Muslime, Jüdinnen und Juden in unserem Land hat, die sich wieder einmal an den Pranger gestellt sehen. Die Enttäuschung darüber, dass man mit der eigenen religiösen Tradition hier nicht willkommen ist – und so wird es von den Menschen empfunden - die ist gewaltig. Es ist ein Schlag ins Gesicht aller Integrationsbemühungen, weil es als fundamentale Ausgrenzung empfunden wird. Das Signal heißt doch: „Es ist schön, dass Ihr hier seid, aber zur Ausübung Eurer Religion fahrt Ihr besser in die Türkei.“

Herr Haarmann, wo ist die Beschneidung jüdischer Jungen begründet?

HAARMANN Die Beschneidung jüdischer Jungen ist Umsetzung eines Gebots aus der Tora, aus den fünf Büchern Mose. In Genesis 17 spricht Gott zu seinem Volk: "Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden..." Die Brit Mila, wie das auf Hebräisch heißt, soll am achten Lebenstag stattfinden. Selbst wenn der achte Tag ein Shabbat ist, an dem keine Arbeit getan werden darf, soll die Beschneidung den Vorrang haben. Nur wenn es dem Kind nicht gut geht, soll man den Zeitpunkt verschieben. Der Schutz des Lebens und damit das Wohl des Kindes stehen hier wie bei allen Geboten im Judentum an oberster Stelle.

Gefeiert wird das Ganze oft mit einem Fest mit Familie und Freunden. In Israel habe ich mal ein solches Fest miterleben dürfen. Es ist eine fröhliche und freudige Feier. Gott besiegelt seinen Bund mit seinem Volk Israel durch dieses Zeichen. Die älteste jüdische Tradition ist das sichtbare Zeichen dafür.

Herr Nikodemus, gleiche Frage an Sie: Ist die Beschneidung im Koran verankert?

NIKODEMUS Nein, im Koran ist die Beschneidung interessanterweise nicht als religiöse Pflicht erwähnt. Neben dem Koran gibt es allerdings die sogenannten Hadithe, das sind verbindliche Prophetenüberlieferungen, und die schildern die Beschneidung von Jungen als übliche Praxis der frühen islamischen Gemeinden. So sind die großen Gestalten der islamischen Heilsgeschichte beschnitten, Abraham etwa wurde nach dieser muslimischen Tradition im hohen Alter von 80 Jahren beschnitten.

Es gibt allerdings in der islamischen Tradition kein bestimmtes Alter für die Beschneidung. Es variiert regional vom siebten Tag nach der Geburt bis zum 14. Lebensjahr. Deshalb wird die Beschneidung sehr unterschiedlich gefeiert, fast immer ist es aber ein großes Familienfest, durch die der muslimische Junge sichtbar in die Umma, die muslimische Gemeinschaft aufgenommen wird.

Auch Sie haben ein solches Fest schon miterleben dürfen.

NIKODEMUS Ich kenne Beschneidungsfeste aus dem türkisch geprägten Kontext. Das war wie auf einer Hochzeit, ein aufwändiges Fest, auch sehr teuer. Der zu beschneidende Junge war festlich gekleidet - wie ein Prinz - und bekam viele Geschenke. Und er war mächtig stolz.

Ist das Thema Beschneidung vergleichbar mit der christlichen Taufe?

HAARMANN Ja und Nein. Natürlich ist vieles vergleichbar. Aber es geht bei der Beschneidung nicht wie bei der Taufe um die Aufnahme in eine Bekenntnisgemeinde. Es geht vielmehr um die Erfüllung eines ersten grundlegenden Gebots und um das sichtbare Zeichen der Zugehörigkeit zum Volk Israel. Man wird als Jude geboren, wenn man eine jüdische Mutter hat. Die Beschneidung besiegelt diese Zugehörigkeit. Noch deutlicher als bei unserer Taufe geht es bei diesem Zeichen um Identität und Geschichte. Die Taufe ist der Akt der Aufnahme in die Gemeinde, mit der man überhaupt erst zur Christin oder zum Christen wird. Wie beim Judentum besiegelt bei uns aber natürlich die Taufe auch zugleich die Liebe Gottes, die schon vor dieser Entscheidung gilt und auf die wir antworten.

NIKODEMUS Auch beim Islam gilt: ja und nein. Die Beschneidung ist mit der Taufe vergleichbar und auch nicht. Im Islam gibt es keinen der Taufe vergleichbaren Aufnahmeritus in die muslimische Gemeinde. Jeder von muslimischen Eltern geborene Säugling wächst als Muslim auf, deshalb hauchen fromme Muslime dem Säugling als erstes nach der Geburt das muslimische Glaubensbekenntnis ins Ohr. Als Erwachsener wird man Muslim durch das Bekennen des muslimischen Glaubensbekenntnisses unter Zeugen. Und doch wird mit der Beschneidung diese Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft sichtbar und konkret. Je nach Alter ist es auch ein Übergangsritus vom Kind- zum Erwachsensein.

Wie stehen theologisch körperliche Unversehrtheit, Erziehungsrecht der Eltern, Religionsfreiheit von Eltern und Kinder zueinander?

HAARMANN Wenn man nicht in einen religiösen Fundamentalismus abgleiten will, dann muss klar sein, dass das Wohl des Kindes ein höheres Gut ist, als es die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht der Eltern sein können. Meines Erachtens widerspricht, wie gesagt, die Beschneidung aber nicht dem Wohl des Kindes. Im Gegenteil. Die Weitergabe der religiösen Sozialisation der Eltern an ihre Kinder dient ganz ausdrücklich dem Wohl des Kindes. Wie bei vielen anderen Entscheidungen müssen die Eltern hier zunächst stellvertretend für ihre Kinder entscheiden. Das ist wie beim Erlernen einer Sprache. Das Kind wählt ja auch seine Muttersprache nicht selbst, sondern wächst mit der Sprache der Eltern auf und lernt diese. Das entmündigt unsere Kinder nicht, sondern macht sie im Gegenteil überhaupt erst fähig, einen eigenen Standpunkt finden und begründen zu können.

NIKODEMUS Das sehe ich auch so. Wir erleben immer wieder, dass Grundrechte miteinander in Spannung liegen können. Und da haben der Schutz der Würde des einzelnen Menschen und das Wohl des Kindes absoluten Vorrang. Nur, und da hat Herr Haarmann vollkommen recht, die Beschneidung widerspricht dem Kindeswohl nicht.

Kirchenrat Pfarrer Rafael Nikodemus ist zuständig für den christlich-muslimischen Dialog, Landespfarrer Dr. Volker Haarmann für den christlich-jüdischen Dialog.