''Armut in Deutschland ist politisch gewollt''

Notat to go. Die Mittwochs-Kolumne. Von Barbara Schenck

Vor sieben Jahren war ich zum ersten Mal dabei als Helferin bei einem Frühstück für Bedürftige. Zurück an meinem Schreibtisch wird mir bewusst: Barbara, du hast bei einer "Suppenküche" mitgeholfen. Wie kann das sein? In unserem reichen Land? In einer schnuckelig gutbürgerlichen Kleinstadt wie Rinteln? Mittlerweile setzt der Gewöhnungseffekt ein: Das Frühstück für Bedürftige gehört zur reformierten Gemeinde wie die Rintelner Tafel samt Kleiderkammer zur Klosterstraße ein paar Meter weiter. Bereits vor zwanzig Jahren wurde in Berlin die erste Tafel, wie wir die Suppenküchen beschönigend nennen, gegründet.

"Armut in Deutschland ist politisch gewollt". Der Satz von Christoph Butterwegge lässt mich nicht los. Statt Reichtum von oben nach unten zu verteilen, geschehe das Gegenteil, etwa mit einer Erbschaftssteuerreform, die Reiche und Superreiche begünstige, so der Politikwissenschaftler. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber es gibt halt so Momente, da funktioniert die Verdrängung nicht. Jedes fünfte Kind unter 15 Jahren lebt in Deutschland auf oder unter dem Sozialhilfeniveau. Über eine Million Menschen muss trotz Arbeitseinkommen Hartz-IV-Gelder in Anspruch nehmen. Ein Skandal.
Mein Einkommen reicht, das Buch "Armut in einem reichen Land" zu kaufen. Ich lese und fühle mich ertappt. Ja, auch ich denke manchmal, die Armut in Deutschland ist doch gar nicht so schrecklich. Mitte der 90er Jahre habe ich in Rumänien eine ganz andere Armut erlebt - nun ja, eher gesehen als am eigenen Leib erfahren. Aber: Armut ist relativ, gemessen an dem Lebensstandard einer Gesellschaft: Zu der wirtschaftlichen "Unfähigkeit, ein Minimum an ärztlicher Betreuung, Ernährung, Schutz und Sicherheit aufrechtzuerhalten" (Gabriel Kolko) kommt das "Abhängigkeitsverhältnis bzw. ein persönliches Ohnmachtsgefühl" (Butterwegge nach Georg Simmel). Jugendliche können nicht mithalten beim Präsentieren der neuesten Sportschuhe. Das mag von außen harmlos klingen, ist es aber für die Ausgeschlossenen nicht. Mittlerweile kommt es allerdings auch gar nicht so selten vor, dass jemand im Pfarrhaus um Unterstützung bittet, weil das Geld Ende des Monats nicht mehr für die Zuzahlung für die ärztlich verordneten Medikamente ausreicht.
Bildung, das ist das, was arme Kinder und Jugendlich brauchen, um eine Chance zu haben, aus ihrer Misere herauszukommen, davon bin ich überzeugt. Dabei weiß ich doch selbst, wie schlecht es geht, sich mit knurrendem Magen zu konzentrieren, gar Neues zu lernen. Bildungsangebote allein sind kein Patentrezept gegen Armut: "Um seinen Bildungshunger stillen zu können, muss man satt sein und Geld für Nahrung haben", so Butterwegge.

Fortzufahren mit der sozialwissenschaftlichen Analyse und politischen Fragen, mit Vorschlägen zu Wegen aus der Armut wie einem gesetzlich geregelten Mindestlohn in angemessener Höhe, einer Kurskorrektur in der Steuerpolitik und einer solidarischen Bürgerversicherung, das wäre jetzt ein angemessenes Wort zur Sache. Doch es ist nicht mein Metier. Ich begnüge mich mit einem Literaturtipp (s.u.) und kehre zurück in die Theologie.
"Die Angst vor den Armen" titelte Manfred Josuttis einer seiner Predigten über "Offene Geheimnisse". Als Studentin in Göttingen hörte ich sie in den 90er Jahren: "Woher die Angst vor den Armen? Weil wir selber einmal im Dreck landen können? Das ist für die meisten hier nur mehr oder weniger wahrscheinlich. Man kann schon nachdenklich werden, wenn man unter den Pennern einen früheren Studenten entdeckt." Heute hat nicht nur die Angst vor der Armut, sondern diese selbst die gesellschaftliche Mitte erreicht, sagt die aktuelle Analyse des Politikwissenschaftlers.
"Die Gottlosen sprechen in ihrem Herzen: Es gibt keine Armen. es gibt keinen Gott. Es gibt kein Gericht ... aber wir leben so, als ob es die Armen nicht gäbe", beginnt Josuttis seine Predigt zu Matthäus 25,31-46, die Gerichtsrede mit dem Wort des Menschensohns Jesus Christus: "...Was ihr einem von diesen geringsten Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan...".

Sie haben bis hierher durchgehalten. Alle Ehre! Heute war mir nicht nach saloppem Kolumnen-Plauderton. Das Leben ist nicht nur Unterhaltung im Sinne von Talk.

Literatur

Butterwegge, Christoph, Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 3. aktualisierte Auflage Frankfurt am Main / New York 2012.
Josuttis, Manfred, Offene Geheimnisse. Predigten, Gütersloh 1999.

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Barbara Schenck, 26. Juni 2013