Christlicher Fundamentalismus: Die Flucht nach vorn VI

6. Das nicht-fundamentalistische ›Fundament‹ des Glaubens

Von Michael Weinrich

1 Der Fundamentalismus ist eine reale Gefahr
2 Ein unklarer Begriff
3 Der christliche Fundamentalismus aus der neuen Welt
4 Fundamentalistische Tendenzen in der evangelikalen Bewegung
4.1 Das Bekenntnis der Wahrheit
4.2 Entlasteter Glaube
5 Fundamentalismus ist Klerikalismus von unten
6 Das nicht-fundamentalistische ›Fundament‹ des Glaubens

6 Das nicht-fundamentalistische ›Fundament‹ des Glaubens

Bedeutet Absage an den Fundamentalismus die Leugnung jeglicher Fundamente? Was aber ist zu sagen, wenn es um die ›Fundamente‹ des Glaubens geht? Er kann doch nicht einfach eine Angelegenheit unseres Meinens und Beliebens sein. Es muß sich doch sagen lassen, was ihn begründet und wo er sich stärken und vergewissern kann. Nichts ist doch unbefriedigender als die demutsgebärdige und zugleich doch narzißtische Attitüde, daß wir alle immer nur Fragende seien. Die Fraglichkeit avanciert schließlich zu einem Bestimmungsmoment des Glaubens. Der Trost der Unsicherheit beginnt allzu leicht vom ohnmächtigen Gott zu schwärmen, als sei damit irgend etwas gewonnen, daß auch Gott nun noch ohnmächtig ist. So wie der fundamentalistische Gott im Grunde einer von uns ist – nur eben noch ein bißchen stärker und mächtiger, so ist auch der ohnmächtige Gott einer von uns – nur eben noch ein bißchen schwächer und ohnmächtiger, als es allzumeist die sind, die so von ihm reden. Gibt es denn jenseits von dem unbescheidenen Zuviel auf der einen Seite und dem unbescheiden bescheidenen Zuwenig auf der anderen Seite eine Verständigungsbasis, die sich als ›Fundament‹ des Glaubens namhaft machen läßt?

Der Grund des Glaubens läßt sich tatsächlich namhaft machen, denn er hat einen Namen: Jesus Christus. Doch dieser Grund ist besonderer Art. Die Besonderheit besteht darin, daß er sich nicht von außen begründen läßt, daß er seine Bedeutung nicht durch den Vergleich mit unseren Eigenschaften und Bestimmungen bekommt, sondern daß er allein in sich selbst begründet ist und so auch allein durch sich selbst zu unserem Grund zu werden vermag. Wenn Johannes Calvin immer wieder betont hat, daß Gott allein durch Gott erkannt wird, dann stand ihm dieser Name vor Augen als der Name dieses jüdischen Menschen aus Nazareth, der als solcher der wahre Gott war, an den wir uns stets zu erinnern haben. Auch dachte Calvin nicht nur an den wiederkommenden Gott, der sein Reich zu bringen versprochen hat und den wir erwarten. Vielmehr dachte Calvin vor allem an den Namen des gegenwärtig lebendigen Gottes, der nicht zwischenzeitlich entschwunden ist, so als sei unsere Zwischenzeit gleichsam eine gottlose Zeit, in der wir aus Erinnerung und Erwartung zu leben hätten, sondern der gegenwärtig lebt in eben der Zuwendung, in der er sich seinem Volk Israel in Ägypten und am Sinai zugewandt hat und dann auch diesem oder jenem Heiden dort in Palästina stellvertretend für all die Völker, die dann zu Mit-Erben des Bundes und seiner Verheißung geworden sind. Der Grund, der gelegt ist, ist der Grund des lebendigen Gottes, den er selber gelegt hat und legen wird, den er aber eben auch heute selber legt.

Wenn das richtig ist, dann hat das weitreichende Konsequenzen für unser Reden von den ›Fundamenten‹ – wobei ich frei gestehen möchte, daß ich den Begriff des ›Fundaments‹ nicht sehr glücklich finde, läßt er doch die Auslegungsweise zu, als ginge es schließlich doch um eine Art ermäßigten Fundamentalismus. Es geht aber nicht um einen ermäßigten Fundamentalismus, sondern es geht um einen energischen und entschiedenen Einspruch gegen den Fundamentalismus in all seinen Spielarten, denn er ist im Grunde nichts weiter als eine pfäffische Beschwörung unserer alten Welt mit ihrer ganzen Verrechnungslogik, ihrer lähmenden Gefangenschaft in die stets nur endlichen Begründungen und ihren phantastisch illusionären bodennahen Sprüngen in ein mit den Farben des Diesseits gemaltes Jenseits. Betrachtet man die Argumente, mit denen etwa die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu zu begründen versucht wird, so kann nur die erschreckende Phantasielosigkeit der dort aufgewandten Phantasien bestürzen. Ohne große Hemmungen wird die theologische Phantasielosigkeit der historischen Kritik übernommen, allerdings mit genau der entgegengesetzten – aber dadurch noch keineswegs qualifizierteren – Intention, nämlich um nun sagen zu können, daß es sich bei der Auferstehung um eine historische Tatsache handele. Mit allen Mitteln wird die Botschaft verhindert, daß in der Auferstehung das Reich Gottes in unsere alte Welt hineinragt, denn man umzingelt sie bis zur Bewegungslosigkeit mit all unseren gewohnten Vorstellungen aus unserer Todeswelt, damit schließlich auch das ewige Leben nichts anderes ist als die Fortsetzung unseres bisherigen Lebens. Es ist schlicht unglaublich – im mehrfachen Sinn des Wortes –, wie da das Wort Gottes, das er uns vor Augen stellt, wieder zu unserem Wort gemacht wird, das wir so einfach sprechen können, so wie wir in unserer alten Welt auch sonst zu sprechen gewohnt sind. Der Auferstandene kann seinem Wesen nach gerade nicht auf dem endlichen Acker der Historie gesucht werden. Der Versuch, die Historizität der Auferstehung nachweisen zu wollen und den Auferstandenen mit unserer von dieser Endlichkeit gezeichneten Sprache erfassen zu wollen, entspricht dem Versuch, nachweisen zu wollen, daß Wasser viereckig ist[1]. Es läßt sich nur in Bildern, in Gleichnissen von der Wirklichkeit der Auferstehung reden, die sich alle von ihr selbst unterscheiden, so wie wir eben auch vom Reiche Gottes nur in Gleichnissen sprechen können. Das macht uns bereits das Neue Testament vor, indem es in sehr unterschiedlicher Weise vom Auferstandenen und seinen Erscheinungen spricht. Mit der Auferstehung zeigt sich das ›Jenseits‹ im ›Diesseits‹, aber wir Diesseitigen können eben nur mit den Mitteln vom Diesseits darüber sprechen. Das ist die Verlegenheit, in der wir auch nicht teilweise aus dem Glauben entlassen werden. Niemand von uns, die wir alle diesseits der Todesgrenze existieren – auf dem Boden, auf dem wir alle unserem eigenen Grab entgegensehen – kann von sich aus über diese Grenze unserer Welt hinwegsehen, wenn uns nicht von jenseits dieser Grenze aus die Augen geöffnet werden. Gott wird nur durch Gott erkannt – Auferstehung wird allein durch den Auferstandenen erkannt. Er allein kann den Grund legen – alle anderen Gründe sind entweder Unverstand oder Betrug.

Nun könnte es so erscheinen, als tappten wir schließlich doch im Dunkeln, als hielte sich Gott unnahbar verborgen, und uns bliebe nichts anderes übrig als abzuwarten, bis uns die rechte Erkenntnis einmal überwältigt. So verhält es sich aber keineswegs. Vielmehr haben wir das biblische Zeugnis, das uns die Geschichte Gottes mit den Menschen von ihren ersten Anfängen bis zu ihrem glücklichen Ende erzählt. Wohlgemerkt ist die Bibel nicht das ruhig ausharrende Fundament, auf dem nun alles griffbereit daliegt, so als garantiere der Glaube an die gelesenen Buchstaben bereits den rechten Glauben[2]. Das wäre wiederum eine andere Art, den Glauben mit Wissen bestreiten zu wollen, wie es etwa durch die merkwürdige Lehre von der Verbalinspiration geschieht, die im Fundamentalismus häufig vorausgesetzt wird. Die Lehre von der Verbalinspiration, nach der jedes Wort in der Bibel von Gott gleichsam diktiert worden ist, entspringt auch dem Rationalismus unserer alten Welt, der Gott in seine Verfügung zu bekommen versucht[3]. Die Bibel ist nicht ein solches Fundament, mit dem wir beliebig unsere religiösen Spekulationen nähren könnten.

Aber sie ist das menschliche Zeugnis vom Handeln Gottes in dieser Welt, vom Unglauben des Menschen und den unermüdlichen Versuchen Gottes, diesem gottlosen Menschen nachzugehen und ihm den Blick für die Wirklichkeit zu öffnen, die nicht vom Tod und seinen dienstbaren Geistern beherrscht wird, sondern in der immer wieder neu das Wort von der Versöhnung aufgerichtet wurde, wird und werden wird. Es geht darum, den Menschen den Blick für die Wirklichkeit zu öffnen, in der die Hoffnung das Leben trägt, daß nicht wir in all unseren Zweifeln und Verzagtheiten, die uns immer wieder befallen, in unseren unbeholfenen Glaubensversuchen und oft auch kleinkrämerischen Lebensentwürfen die letzte Instanz sind. Die Bibel verweist beharrlich auf Gott und sein Eintreten für Israel und für uns an der Seite Israels, und sie steht dabei unter der Verheißung, daß Gott selbst diesen Hinweisen immer wieder neu ihre Überzeugungskraft geben wird. Luther war ebenso wie Calvin fest davon überzeugt, daß die Bibel den Grund des Glaubens nicht verborgen hält, sondern daß sie uns gewiß dahin führt, wo er gelegt ist: im Namen Gottes. Wenn wir dort hineingehen, wo der Stein vom Grab gewälzt ist, wird uns nichts »an Erhabenem in der Schrift verborgen bleiben« – so sagt es Luther, und Calvin stimmt mit ein, daß Gott »zu allen Zeiten seinem Wort eine unzweifelhafte Glaubwürdigkeit verliehen« hat – wohlgemerkt er und nicht unsere Lehre und unsere Dogmatik und unsere Richtigkeiten, die wir den anderen entgegenhalten. Wir tappen nicht im Dunkeln, sondern können versuchen, uns mit dem Licht der Bibel umzusehen in ihr selbst und in unserer Welt und darum bitten, daß uns ein Licht aufgehe, das Licht des Lebens, das Licht von einer neuen Welt inmitten unserer alten Welt.


[1]       Vgl. H.-G. Geyer, Die Gegenwart Christi: Die Auferstehung, in: Deutscher Evangelischer Kirchentag Hannover 1967. Dokumente, Stuttgart 1967, 468.

[2]       Vgl. dazu auch A. Haarbeck, Die Kraft des Geistes. Warum Christen keine Fundamentalisten sein können, EK 26 (1993), 647-650.

[3]       Vgl. K. Barth, KD IV/1, 407.