Jetzt ist die Zeit

Gedanken zum 9. November

von Prof. Dr. Klaus Müller, Beauftragter für das christlich-jüdische Gespräch der Evangelischen Kirche in Baden

Der 9. November ist ein Tag, an dem die Fäden der Vergangenheit sortiert und mit dem drängenden „Hier und Jetzt“ verknüpft werden wollen: Der vor uns liegenden Sonntag markiert den Beginn der Friedensdekade: Krieg soll um Gottes willen nicht mehr sein; tags darauf der 9. November mit dem Gedenken an die Pogromnacht in Deutschland 1938; dann der 10.11. und der Geburtstag Martin Luthers mit seiner 1. These, dem Ruf nach immerwährender Umkehr; schließlich der 11.11. und St. Martin – das alles will sortiert und auf ein weiterführendes „Heute“ bezogen werden.

Für den christlichen Glauben „ordnet“ sich alles vom Sonntag her, von der Botschaft des Lebens und der Menschenfreundlichkeit Gottes. „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“ (2.Kor 6,2) – die Sentenz über dem kommenden Sonntag bringt „das“ große Korrektiv des Gottestages in die Irrsal und Wirrsal unserer Tage. Das Jetzt der Gnade entlarvt den Tag der Übergriffe und Zugriffe der Nazi-Schergen auf jüdisches Gut und Leben vor 77 Jahren als Ausbund der Menschenverachtung und Gotteslästerung. Ich kann in diesen Tagen der Gedankenverbindung einfach nicht ausweichen, dass sich die in Flammen stehenden Synagogen von damals widerspiegeln in den brennenden Flüchtlingsunterkünften von heute. Bei allem, was heute anders ist als damals: Selten habe ich mich dessen, was möglich ist in unserem Land, so sehr geschämt wie in diesen Tagen. „Jetzt ist die Zeit“, sagt der wegweisende Sonntag zum Montag - Zeit für Heilvolles, Förderliches, Gnaden und Hilfreiches.

Und Martin Luther? Dass man den 10ten November für den 9ten instrumentalisiert hat, davor wäre vielleicht auch er erschrocken. Ich weiß es nicht. Der damalige lutherische Landesbischof Thüringens Martin Sasse konnte 1938 jedenfalls geradezu euphorisch ausrufen: „An Luthers Geburtstag brennen die Synagogen in Deutschland.“ Im Nürnberger Prozess wollte Julius Streicher an seiner Stelle gar den Reformator selbst auf der Anklagebank sehen. Eine der Unheilsspuren in unserer Geschichte, die Jüdinnen und Juden unter uns eine sinnvolle Beteiligung am Reformationsgedenken so schwer macht und für die Evangelische Kirche nichts anderes als den Weg der Buße und Neuorientierung offen lässt.

Der 11.11. ist dem anderen Martin gewidmet, dem sozusagen für alle Kirchen „Heiligen“ schlechthin. St. Martin weist nicht auf eine Idylle im Schnee, sondern den Weg zum Leben und Überleben. Er lebt das „Jetzt ist die Zeit“. Heute ist der Tag der Entscheidung - das geht nicht einfach so von selber, das will entschieden sein - heute.

Der erste Satz, den Jesus öffentlich sagt, lautet nach Markus 1,15: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße, kehrt um – richtet euer Leben neu aus – und glaubt an diese Botschaft.“ Im Heute leben. Nichts ist wertvoller als der heutige Tag, weiß auch der alte Goethe. Christus hat dieses Heute geadelt durch seine Botschaft vom Heute.

Es gibt das Heute meiner Verantwortung: Von Martin Niemöller, zuerst U-Boot-Kommandant im 1. Weltkrieg, dann Widerstandskämpfer gegen Hitler und dann Kirchenvorsteher in Hessen kennen wir die Worte:

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Der 9. November 2015 ist für mich heute der Ruf: „Komm heraus aus deiner Teilnahmslosigkeit!“ Denn, mit den Worten eines jüdischen Weisen gesprochen: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass; das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit; das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung – das Gegenteil ist jedes Mal die Gleichgültigkeit.“

„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“ – noch eine kleine Korrektur um ein Missverständnis zu vermeiden: Das „carpe diem“ – „Pflücke den Tag!“ - ist doch nicht ganz identisch mit der Bibel. Die Sprache der Bibel – das Hebräische - hat kein Präsens. Es hat Vergangenheit und Zukunft. Das Jetzt ist dem menschlichen Zugriff letztlich entzogen, unverfügbar, nicht-machbar.

Mit dieser Perspektive geht die Kirche in die letzten Tage des Kirchenjahres. Es ist etwas jenseits der Reiche dieser Welt – es ist eine Gottesherrschaft im Kommen begriffen, ja schon da und dort antreffbar, auffindbar, spürbar – aber nie machbar. Gott sei Dank! Dem Kommenden ist jetzt schon zu entsprechen mit den großen Drei: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

Übrigens: Wenn am 11.11. 11 Uhr 11 eine „neue Zeit“ verkündet wird, dann wissen wir: Es ist der Anfang der 40tägigen Zeit der Vorbereitung auf die Geburt Christi, wenn es dann heißen wird: „Als die Zeit erfüllt war im Heute, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und der Tora Israels unterstellt“ (Gal 4,4). So lange beten wir weiter „dein Reich komme!“ bis es einmal auf einem höheren Level wahr sein wird und für alle offensichtlich: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils.“

Zum 9. November 2015

 

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