Wenn Worte das Bild verharmlosen

Notat to go. Von Barbara Schenck


Die „Junge Mutter mit Kind“ war das Glanzstück meiner Briefmarkensammlung. Goldumrahmt glänzt das Bild in einer Reihe von Marken mit Motiven alter Gemälde. Ein Brief von Verwandten aus der DDR brachte das Prachtstück einst ins Haus meiner Kindheit.

Beim Besuch in der Wartburg stand ich plötzlich vor dem Briefmarkenbild in Originalgröße. Ein Gemälde von Lukas Cranach d.Ä., ein „Markstein“ gar in dessen künstlerischer Entwicklung. Die Bildkomposition entspricht Mariendarstellungen mit dem Jesusknaben, aber die Frau ist eine Dame der Hofgesellschaft in reicher Tracht des 16. Jahrhunderts. Im Hintergrund prangt eine Burganlage.

Dem vorüberhuschenden Betrachter entgeht die Gewalt im Bild und die Mythologie im Hintergrund. Unter den Bäumen, im Schatten des Waldes versteckt, hockt ein ausgemergelter, gekrümmter Mann.

Was für eine Geschichte wird hier erzählt?
Eine mittelalterliche Legende zum Kirchenvater Chrysostomos, die sog. Buße des hl. Johannes Chrysostomos:

Eine Königstochter soll sich in die Höhle des Heiligen verirrt haben und daraufhin Mutter eines Kindes geworden sein.
Für dieses Vergehen, sollte Chrysostomos das schmähliche Gelübde erfüllen, unbekleidet und auf allen Vieren kriechend dem Ende seiner Tage zu harren.

 

Cranach war nicht der erste, der dies 1525 ins Bild setzte.
Bereits 1497 verfertigte Albrecht Dürer einen Kupferstich zur „Buße des Heiligen Chrysostomos“.
Wer das Bildmotiv kennt, denkt sich, was geschah. Wer erklärende Worte mag, findet auf der Internetseite „Wege zu Cranach“ eine Beschreibung zur Begegnung zwischen Königstochter und Kirchenvater: „…aus der womöglich unfreiwilligen Beziehung“ sei ein Kind hervorvorgegangen.

Manchmal sind es die Worte nach dem Bild, die das Dargestellte verharmlosen.

Im Cranach Digital Archive steht unter dem Ölgemälde ein zweiter Titel, der die Gewalt hinter der jugendlichen Anmut offen ausspricht:
„A Princess raped by St Chrysostomos“
– Eine Prinzessin, vergewaltigt vom Heiligen Chrysostomos. Ein Abgrund hinter dem Glanz.

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Bildnachweis:
Alle verwendeten Bilder sind gemeinfrei. Sie sind entnommen (von oben nach unten) von den Internetseiten:
http://www.lucascranach.org
http://www.museum-digital.de/
http://www.lucascranach.org
http://www.zeno.org

Barbara Schenck, 22. Oktober 2014