Der gekreuzigte Jesus, ein Sühnopfer?

Predigt von Dr. Christian Staffa, Berlin zu HK 12 im Rahmen einer Predigtreihe zum Heidelberger Katechismus in der Französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main


Agnus Dei von Francisco de Zurbaran (1640) © Wikicommons

"So verstehe ich dann, dass es am Ende und am Anfang auch dem Heidelberger Katechismus darum geht, die Handlungsfähigkeit im Angesicht von Verfehlung und immer wieder eintretender Ferne zu Gott zu ermutigen und zu orientieren nicht am EGO sondern an Gottes Geboten, an Seiner Gerechtigkeit."

Der Friede unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Wenn wir also nach dem gerechten Urteil Gottes schon jetzt und ewig Strafe verdient haben, wie können wir dieser Strafe entgehen und wieder Gottes Gnade erlangen?

Gott will zu seinem Recht kommen,
darum müssen wir für unsere Schuld
entweder selbst
(2. Mose 20, 5; Ich gehe der Schuld der Vorfahren an ihren Kindern und noch anderen Kindern und Enkelkindern nach. 23, 7 Ich jedenfalls spreche Schuldige nicht frei)
oder durch einen anderen
vollkommen bezahlen.
(Röm 8, 3.4 Jesus der durch sein Eintreten in die Welt Sünde mittrug und so der Sündenmacht brach.)

So lauten zwölfte  Frage und Antwort des Heidelberger Katechismus von 1563. Sie und mindestens die folgenden 7 Fragen zielen darauf, uns Christenmenschen zu lehren, dass Jesu grausamer Tod am Kreuz eine heilsame Wirkung für die Welt hatte. Heilsam, weil dieser Tod nicht das letzte Wort hatte, sondern in der Auferweckung Jesu sich zeigte, dass der Gott Israels Jesus Christus als seinen Sohn zur Vergebung unserer Schuld hingegeben hat.

Im Talmud gibt es einen kleinen Text, den ich, auch wenn er nicht mir und dem Heidelberger Katechismus gilt, gerne für den heutigen Sonntag trotzdem gültig erklären möchte: Es meine niemand, die Texte verstanden zu haben, der nicht über sie gestolpert sei. (bGit43a)

So lade ich Sie und euch denn auf einen Stolperpfad ein, dessen Ende wir noch nicht kennen auch wenn wir natürlich wissen, dass die Predigt in groben 20 Minuten endet. Das Ende des Stolperns aber ist nicht in Sicht.

Denn wir sind hier an einem sehr umstrittenen und doch zentralen Punkt christlicher Theologie, dem Zusammenhang von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Gnade und Recht und eben an dem großen wundersamen Rätsel der stellvertretenden Schuldübernahme durch den Mord an Jesus Christus und dessen Auferweckung durch den Gott Abrahams Sarahs, Isaak und Rebeccas, Jakobs Leas und Rahels.

Schuld und Schulden

Also zunächst wieder Heidelberg: Gott will zu seinem Recht kommen, darum müssen wir die Schuld vollkommen bezahlen. In Dtn 15 steht etwas gänzlich anderes:

Alle sieben Jahre sollt ihr einen Schuldenerlass durchführen. Es gibt Schulden, die nicht bezahlt werden müssen, die nicht beglichen werden. Wenn du, Israel, dieses Gebot deines Gottes befolgst, wird er dich reich segnen. (Dtn 15,4)

Also jetzt: Gott will zu seinem Recht kommen, also wird Schuld nicht bezahlt, sondern erlassen!!!
Denn es soll keine Armen geben sondern Gerechtigkeit blühen im Lande Israels.

Sicher sind weder Frage noch Antwort im Heidelberger Katechismus ausschließlich oder hauptsächlich ökonomisch gemeint, aber das soll uns nicht hindern hier, wie im Vater unser diese Dimension zu hören. Verweist sie uns doch auch auf die materielle Seite von Gottes Gerechtigkeit und einer Wirklichkeit, in der der Geist von Gottes Geboten sich handfest materialisiert in einer Sphäre, wo wir ihn längst weg gedacht haben. 

Was könnte denn hier im Ökonomischen in unserer globalisierten Wirtschaft ein Sühnopfer sein?; ein Opfer also, das für unsere Taten und unsern Wohlstand einsteht, das wir bringen dürften, um zu sühnen, also zu Gott, zur Orientierung an seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit umzukehren. Ein wirtschaftliches Tun, das sich der Leidenden, der eigenen Taten – wie Sklaverei und Kolonialismus) unserer (europäischen) Gesellschaften tätig umkehrend erinnert. Es kann einem schwindelig werden bei diesem Gedanken. Ein Stolperstein für das unbekümmerte Lesen von Schuld und Schulden in unseren Schriften und Gebeten.

Die folgenden beiden Fragen im Heidelberger Katechismus vom Dogmatiker Ursinus haben wieder einen fast ökonomistischen Klang, „Können wir selbst für unsere Sünden bezahlen oder kann jemand anders für unsere Sünden bezahlen“.

Die Antwort ist NEIN! Was aber ist denn die Schuld, was die Verfehlung, für die zu bezahlen wäre? Das steht ganz zu Anfang in den Fragen und Antworten 4 und 5 in knapper aber geradezu brutaler offenherziger Beschreibung: Uns ist gesagt, dass wir Gott und den Nächsten lieben sollen, aber wir neigen von Natur aus dazu Gott und unsern Nächsten zu hassen. Wir sind von der Sünde Adams so gezeichnet, dass wir ihr zunächst unentrinnbar verfallen sind.

Gewalt als Teil christlicher Sprache

Wer hier nicht stolpert … Schon die massive schonungslose Beschreibung des Zornes Gottes, der unvermeidlichen Strafe, des Bezahlens hat einen Kloß in meinen Hals gebracht, aber nun : von Natur aus hassen wir Gott und die Nächsten … Diese nicht seltene Rede des Heidelberger Katechismus in diesen Abschnitten vom grundlegend sündhaften Dasein ruft in mir alle die Bilder hervor, die wir in dem unglaublichen Film „Das weisse Band“ sehen konnten. Er handelt von einer völlig zerstörten und zerstörerischen, weil sehr frommen Pfarrersfamilie. Schläge gegen Zartheit, festgebundene Hände im Bett zur Verhinderung von körperlichen Selbsterkundungen.

Ein weißes Band als selten vergebenes Signum der Unschuld der Kinder des brutal moralinen Pastors. Körperlichkeit ist ja eine von den angeblich bedrohlichen Sünden die in der Geschichte unserer Kirche so verheerende Alltagsgewalt hervorgebracht hat. Christliche Moral als Gewalt gerade mit dem Argument, dass der Mensch eben von Natur aus schlecht sei und deshalb die harte Zuchtrute braucht, um auf tugendhafte Pfade umzukehren. Wir wissen alle um viele weitere und schlimmere Erscheinungsformen des christlich moralinen Zwangssystems, dass aus der eignen Überhebung und dem vermeintlichen Besitz der Wahrheit an anderen das eigene Böse exekutierte. Zwar wurde dabei nicht selten der Körper zerstört, aber immerhin die Seele von der Sünde befreit, so sagten sie und meinten es vielleicht wirklich.

Damit sollte nun heutzutage doch wirklich Schluss sein und so auch mit dieser Lehre, die dann in der Antwort auf Frage 20 auch noch behauptet, dass eben nur Menschen, die den Glauben an Jesus Christus als wahren Gott und wahren Menschen geschenkt bekommen haben, gerettet werden. Das hat in der Kirchengeschichte auch leider der der Reformation die wahren und die eingebildeten Gegner oft genug zum Abschuss freigegeben, nicht zuletzt die Juden.

Heidelberg als Enttarnung des Eigenen

Aber könnte nicht vielleicht genau das letztgesagte dann doch heißen, dass wir diese deutliche Sprache brauchen? Nicht zur Beschreibung der anderen sondern von uns selbst!? Dürfen wir das heute für uns sehr schmerzhaft so verstehen, dass diese Sätze eben ein Gericht sind über unsere christlich-kirchlichen Vorväter und -mütter. Also doch nicht Schluss damit sondern stolpernd, ja schmerzverstärkend eine schonungslose Sicht auf Menschen nicht unter Bedingungen des Unglaubens, sondern eben unter denen des geschenkten Glaubens: Selbst oder gerade als solche haben sie den Nächsten gehasst und damit auch Gott. Und diese Gefahr ist ja nicht gebannt.

Auschwitz als Gericht

Hier werden unsere Sätze flatternd, weil wir das Menetekel schon sehen: Auschwitz. Insofern ist Auschwitz eine Keule, die uns in gewisser Weise noch hoffentlich trifft, entsetzt, weil wir uns als Kirche an diesem als grundsätzlich Verfehlende erkennen. Alle Vollmundigkeit weicht dort von uns. Die Gewissheitssätze werden schal und der Satz, der Rettung verspricht, kann nur noch als verzagter Hoffnungssatz gesprochen werden. Denn wir wissen um die mörderische Perversion der steilen selbstgewissen Glaubenssätze nicht erst seit Auschwitz, aber ganz bestimmt und bis in die Grundfesten unseres Glaubens hinein ganz bestimmt seit Auschwitz.

Mehr als Stolpern, das ist schon ein Straucheln.

Die Rede von Gott wird uns schwer und nur noch als Stammeln möglich, weil unsere eigenen Geschwister im Herrn in der Geschichte unsere Kirche und unser Land, unsere Eltern und Großeltern viele begeistert, manche mitlaufend dabei waren leider die wenigsten widerständig.

Wie kann ich denn im Angesicht aller Zeugen gegen uns aus dieser Zeit des Nationalsozialismus, angesichts des Mordes an dem Volk Gottes von einem Sühnopfer Christi sprechen? Wie könnte ich sagen, dass Jesus für mich gestorben ist zur Vergebung dieser Sünden? Mir zum ewigen Leben und zur Gerechtigkeit, wie es in der Antwort 37 heißt?

Es verschlägt mir die Sprache und doch muss ich reden. Und Reden ist biblisch nie einfaches sprechen oder im schlimmsten Falle labern, sondern immer Tatwort. Ein Wort hat Folgen im Tun, das Tun schon mit gesetzt im Wort. Also wäre Stummheit auch Stillstand im Tun. Aber wie kann diese TunRede, wie kann ein angemessenes Sprechhandeln sich anfühlen, sich zeigen.

Vom Heidelberger Katechismus lernen wir wohl, dass an einer klaren Sprachpraxis über uns und unsere Verfehlungen uns liegen muss. Er ermutigt uns, diese Sprache zu wagen, weil wir immerhin hoffen dürfen, dass in Tod und Auferweckung wirklich etwas für uns passiert ist, das uns annimmt in aller Scham und Schuld.

JA, das dürfen wir hoffen und das ist angesichts der kirchlichen Gewaltgeschichte doch fast unglaublich viel. Groß ist aber die Gefahr, dass wir das Stolpern über das Versagen unserer Kirche, unserer Vorfahren, der Gemeinschaft aus den Lebenden und den Toten und die Verunsicherung nicht ernst nehmen und beides auf dem Götzenaltar des Wohlgefühls, der Heimeligkeit des Minderheitengefühls oder dem Altar der Selbstgefälligkeit des großen Beitrags des Christentums zur abendländischen Geschichte und damit einem modernen Klerikalismus (Wir sind wieder wer) zu opfern. Das wäre das Gegenteil des Tuns, des Wortes, zu dem wir ermutigt sein sollten.

Ernst dürfen wir in dieser Umkehrbewegung die Öffnung der Bürgerschaft Gottes für uns nehmen, die Folgen hat und haben wird „Christus als Erstling der Entschlafenen beendet alle Herrschaft, alle Gewalt alle Obrigkeit“! Die Auferweckung ist die Fanfare für eine Erneuerung des Lebens. Der Erstling der Entschlafenen, der auferweckte Jesus Christus ist nicht nur Ausweis unserer vormaligen und bleibenden Sündhaftigkeit unserer immer wieder konkret werdenden Schuld, sondern eben auch der Zuspruch, dass der Gott Israels bei uns ist oder sein will, wenn wir es uns schenken lassen und nicht gewaltsam abweisen. Dieses Geschenk können wir mehr in den Geschichten der Heiligen Schriften als in dogmatischen Sätzen wahrnehmen und weiter zu erzählen versuchen.

Geschichten erzählen.

Denn die Bibel ist ja nicht ein Buch voller dogmatischer Lehrsätze, sondern nicht umsonst ein Buch mit Erzählungen von Erfahrungen. Das sind Erfahrungen von Israel mit Gott, von jener Zuwendung zu den Völkern zu uns durch Jesus Christus.

Auch Paulus Ausgangspunkt ist die Erfahrung der Begegnung mit dem auferweckten Jesus, die ihm jene Fanfare laut werden lässt. Jetzt ist die Zeit des Anbrechens des Reiches Gottes, bald beugen sich die Knie der Völker am Zion, die Heiden kommen zu dem Gott Israels, es wird eine Gemeinschaft aus den Völkern und Israel geben. Tod wo ist dein Stachel, wo ist dein Sieg?, die Gewalten und Obrigkeit werden fallen. Es hat begonnen so sagt er und steht so vieler geschichtlicher und gegenwärtiger Erfahrung entgegen! Aber es ist eine Erfahrung!

All dessen eingedenk wird dann das Sühnopfer Jesus Christus, das Lamm Gottes ein Zeichen und eine von Gott eingeräumte unbegreifliche Möglichkeit zur Befreiung, zur Umkehr auch in und nach so grundlegend verfehlter Geschichte. Wir hoffen darauf, dass wir diese Möglichkeit nicht verspielt haben. Diese Hoffnung gibt uns die Kraft von Befreiung zu sprechen, Befreiung aus dem Gefängnis der Schuld, die uns ermöglicht, sie frei anzusprechen, das Entsetzen, den Schmerz nicht von uns zu weisen und jenen Weg der zarten Versuche neuen Tuns zu gehen und eben vielleicht zu stolpern.

So verstehe ich dann, dass es am Ende und am Anfang auch dem Heidelberger Katechismus darum geht, die Handlungsfähigkeit im Angesicht von Verfehlung und immer wieder eintretender Ferne zu Gott zu ermutigen und zu orientieren nicht am EGO sondern an Gottes Geboten, an Seiner Gerechtigkeit.

So könnte dann in aller nur hoffenden Demut das wahr werden, was der Heidelberger Katechismus eben auch und deutlich sagt: Handeln im Glauben  ist möglich und nötig, als Versuch, im Tun den Glauben zaghaft und doch entschieden, kritisch und selbstkritisch zu bewähren. In der Hoffnung, dass wir und unser zaghaft stolperndes Tun gnädig angenommen sind.

Vielleicht scheint dann auf, was der Heidelberger Katechismus in Antwort 55 sagt, dass die Glaubenden "willig und bereit" sind in "Lust und Liebe" - nach Gottes Weisung zu leben.  Und jede und jeder seine Gaben willig und mit Freuden zum Wohl und Heil der anderen"
gebraucht (HK 55)“. Befreit zu einem gerechteren Tun und Sprechen aus Hoffnung und auf Hoffnung hin.

Amen


Dr. Christian Staffa, Berlin, März 2013